Alzheimer Sonate

Die Standuhr schlägt sieben: Er zuckt: Früher stand sie im Wintergarten, neben dem Flügel. Er hebt sich hoch, legt den Kopf auf die weinrote Nackenrolle, eine der wenigen Sachen aus der Wohnung, die ihm freiwillig folgten, und starrt sie und die zwei Bilder an der Südwand an. Dalis Uhren. Geschrumpft. Entseelt. Aufgehängt. Und Van Goghs blauer Stuhl, bevor er sich das Ohr abschnitt.

Die Standuhr zeigt viertel nach sieben. Er  sieht sich in dem stumpfen Spiegel und spricht mit rollendem R zu sich selbst: Mir fehlt kein Ohr. Und meine alte Standuhr tut’s immer noch. Warum bin ich dann hier?

Er wollte doch zu Hause bleiben, seinen Gästen die Mondscheinsonate spielen. Ein dreifacher Verdacht keimt auf: Nur da ich die Mondscheinsonate mit „Clair de lune“ verwechselte und den Namen meiner Tante mir nicht einfiel, nicht mehr wusste, wie man einen Apfel schält?

Die Standuhr schlägt acht, er streckt seine feingliedrige Hand nach ihr: Wie spät ist es, fünf oder sieben? Du heißt Elise, nicht wahr? Dir hab ich doch meine Mondscheinsonate gewidmet. Erkennst du mich nicht mehr?

Die Standuhr schlägt schnell neun, zehn, zwölf mal hintereinander.

Er schlängt sich die Arme um den Kopf, verzieht sein Gesicht. Als er sich gegen dieses unzeitige Zerbomben zur Wehr setzt und sagt „Du bist richtig gemein, Elise, weißt du das? Und so unmusikalisch!“, fließt ihm Speichel über Kinn und Halskette.

Dann legt er sich mit den Augen zur Wand und verstummt für eine Weile.

Auch die Standuhr scheint inzwischen die Sinnlosigkeit ihres hin- und herschwingenden Treibens zu begreifen. Punkt drei Uhr bleibt sie mit einem metallischen Knarren stehen. Diese unerwartete Uhrzeigestille fällt ihm auf. Aber nicht nur die Stille. Er hebt sich wieder hoch, streicht sich mit der Hand übers Ohr. Das Ohrläppchen zittert. Jemand spielt an seinem Flügel. Eine Träumerei, in der die lichten Farben überwiegen, präludiert in den Fingern und erwärmt seinen Körper, wie schon lange nicht mehr. Bis in die Schrumpfsphären seines Geschlechts. Er fiebert, frohlockt. Die Mondsscheinsonate! Ich spiele die Mondscheinsonate! Ihr seid doch alle gekommen!

Ein kurzer Aufschwung und die Erkenntnis greift müde um sich, seine Freude zerflattert: Aber ich liege im Bett, kann also nicht am Flügel sitzen. Mir geschieht nicht wie jenem Papst, hab seinen Namen wieder vergessen, der zu gleicher Zeit an mehreren Orten zu sehen war…Und falls ich es bin, für wen spiele ich denn? Seit drei Uhr schlägt das Herz von Elise nicht mehr für mich. Es ist, als befände ich mich an einem nicht erkennbaren Ort und fiele aus der Zeit.

Es gefällt ihm, Vermutungen zu entwerfen: Scheinbar liege ich doch nicht im Bett, sondern auf der Klaviatur. Wer hätte geglaubt, dass schläfrige Gelenkkugeln und Gesäß so gut Klavier spielen können: Aufsteigende Triller leiten in die heitere Erregung des Schlussallegro über. ..

Er bewundert sich und weiß sich zu trösten: Der vom linken Fuß falsch gegriffene Mollakkord, na ja, so was könnte Mister Horowitz auch mal passieren. Aber Mister Horowitz und sein Flügel würden nie so ineinander verzahnen wie wir.

Er steht auf, öffnet die Tür und schreit: Warum bin ich hier und nicht daheim?

Ihre Medizin, Herr Wiese! klingt schnell die Antwort. Mund schön auf! Noch diesen Lutschbonbon!

Ja, nein, warten Sie! Er räusperte sich, fühlt sich bedrängt von der weiblichen Nachtwache mit so widerspenstigen Worten im Mund. Zuhause trank er keinen ekligen Brei, musste keinen Milchzuckerklumpen von der Zunge zum Gaumen und von einer Backe zur anderen befördern.

Das Unbehangen steigt noch mehr, als die Nachtwache eine Ampulle mit öliger Flüssigkeit auf dem Flügel hinstellt. Aber doch nicht da drauf! protestiert er. Sie platzen einfach herein und schänden Sie mir den Flügel, damit die Mondscheinsonate nach Ihren Scheißöl stinkt.

Er bückt sich so hastig, dass sein Kopf mit der Eisenbettkante zusammenstößt. Noch schwerer als auf Golgatha! unterdrückt er ein Stöhnen, auf allen vieren verkrochen, bei dem Versuch, den Flügel zur Tür zu bugsieren, und lässt erst los, als sein Rückgrat knackt und droht wie ein Eiszapfen zu brechen.

Seine gedrückte Stimmung will nicht weichen, er seufzt: Daheim duftete die Musik nach Zitronengras und Holunder.

Zitronengrasstunden nannte er damals auch die einzige Liebesnacht mit der Tänzerin. Daheim war er der Greif, während hier man ihm zuschaut wie zu einer Grasmücke.

Verstehen Sie das? fragt er die Nachtwache, während er im Stehen ein paar Triller mit dem vierten und fünften Finger spielt. Klangbilder, die nur Duft sein wollen!

Sie ist aber nicht mehr da, wo sie gestanden hat, ruft ihn aus dem Duschraum, wo sie die Toilettentaste betätigt. Herr Wiese! Sie haben wieder vergessen, das Wasser zu ziehen!

Herr Wiese? Wer ist Herr Wiese? Bringen Sie mich nicht durcheinander!, knöttert er, den flüssigen Stoff gießend über die Standuhr. Für dich, Elise! flüstert er. Wegen deiner Vergesslichkeit.

Hören Sie, Schwester? Ihre Medizin hat gewirkt, Elise tickt wieder!

Ich weiß, meine Braut, es ist sehr spät für uns: drei, vier, fünf, fünf, fünf, bitte schlag weiter! Lass uns tanzen! Wie gefallen dir diese Dreiklänge? Die vier übereinandergestapelten Terzen?

Er hält die Standuhr in den Armen und dreht mit ihr Walzerpirouetten. Immer schneller und immer weiter, aus dem Zimmer hinauf, durch andere Räume und Flure, zwischen Eisschränken und Rollstühlen, um die Klos, auf die Rechner, über staubige Palmen im Eingangsbereich, Kruzifixe und Deckenlampen.

Ich hab es geahnt! klagt die Nachtwache. Was wollen Sie mit Ihrer schweren Standuhr auf der Feuerleiter? Sie kommen jetzt runter, Herr Wiese, nicht wahr?

Herr Wiese kommt ja runter. Aber Elise und ich gehen in dieser Mondnacht heim. Mein Flügel kennt schon den Weg.

***

Auf silikonweichen Pfoten. Wundprotokolle, Pop Verlag, Ludwigsburg 2005.

Zug ohne Räder / Trenul fara roti, lyrische Prosa, rumänisch und deutsch. Nachwort: Theo Breuer, Editura Fundatiei Culturale Poezia, Iasi/Rumänien 2008.

Als käme noch jemand. Lyrische Prosa und Erzählcollagen, Nachwort: Andreas Noga, Pop Verlag, Ludwigsburg 2013.

In deinen Schuhen voller Sand, Prosapoeme, Pop-Verlag 2019

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Wir verliehen Francisca Ricinski in 2016 den KUNO-Prosa-Preis. Lesen Sie hier die Begründung.