Und dann verfing sich die Zeit

Der Hackbrettspieler und ich stiegen an derselben Station ein. Unsere Sitzplätze im Reisebus waren noch frei. Nebeneinander. Das Gepäck noch im Rücken, auf Knien, dann an den Füßen, untergetaucht. Wer von uns beiden hatte mehr zu Tragen im Leben?, stellte ich die Frage im Kopf, allerdings ohne ein ernsthaftes Klärungsverlangen. Und dann wollte ich mich der Lektüre hingeben, um nicht auf die Abfolge fremdartiger Grenzen oder Parzellen der Welt mit geisterhaften Gehöften blicken zu müssen. In den Nächten davor blieb ich wie genagelt am Schreibtisch, aber das einzige Wort, das sich auffangen ließ, war „Früher“. Ein unruhiges, peitschendes Wort, das mich in diese Ferne vertrieb.

Der Nachbar trank aus einem undurchsichtigen Krug und schwieg weiter. Ab und zu gab er vereinzelte Töne von sich, als wäre er das Sprachrohr seines alten Musikinstruments, zu dem er sich immer wieder umdrehte. Irgendwie fühlte ich mich ausgeklammert und doch freute ich mich über die Stille, die von seiner Ecke ausströmte.

Ich zog Stanislaw Lems „Philosophie des Zufalls“ aus der Tasche und blätterte darin, aber schon nach wenigen Zeilen fing ich an zu rätseln, warum ich gerade dieses Buch, das eine empirische Theorie der Literatur war, als Reiselektüre ausgewählt hatte. Ausschlaggebend vielleicht war der Titel, da ich seit langem nach einem einleuchtenden Grund und Auslöser mancher Lebensereignisse suchte. Nach knapp einer Stunde fiel mir das Buch aus der Hand. Kaum war ich in das dampfende Boot eines Traums eingestiegen, da befand ich mich schon in seiner Obhut. Alle tragfähigen Erklärungen und Antworten, die bislang geschlummert hatten, rauften sich nun wie Kobolde um meine Kopfstütze herum. Während sie funkelten und hinaufzuklettern versuchten, rannte ein nächtlicher Windstoß durch die Lüftung und schnappte sie weg. Wie schnell sich alles ändern kann, staunte ich, als ich mich im Fenster wieder sah und den Rucksack mit den frierenden Füßen berührte. Auch ihn, den Hackbrettspieler, hatte ich wieder vor Augen, als er mein Buch vom Boden aufhob und dessen verblichenes Titelbild anstarrte. Und dann geschah es, dass ein Fragesatz des sonst fast Lautlosen wiederholt in der Nähe meines Ohrs flatterte: Philosophie des Zufalls also?

Irgendwann eilten auch andere skeptische Worte dahin, Fetzen und Splitter einer unvermuteten Lebensgeschichte: Eines Tages wirst du mir doch glauben. Ob Glück oder Unglück, es gibt keine wahren Zufälle. Bis hinter den Stacheldraht damals verschleppt: War mein hinkender  Großonkel ein „minderwertiges“ Zufallsgeschöpf?“ Bevor er ging, warf er in meinen  winzigen Schuh einen Papierzettel. Am untersten Rand schien ein Satz wie „Lass uns leben“ zu stehen. 

Fast ein Anflehen und eine unterschwellige Klage zugleich, sagte ich, da mir keine andere Wortschleife einfiel.

Gegen wen aber? Was er  über ein „Vorgebären“ der Dinge drauf kritzelte, hat mich bis heute geleitet … 

Nach jedem längeren Satz musste er husten, aber danach war die Stimme nicht mehr taumelig oder rau.

Jeden Sommer richteten aufgekratzte Kinder ihre Schleuder auf mich, weil ich Kirschen auflas, die am Straßenrand gärten. Hau ab, du Krähenhäutchen, du Schneckenschleim,  schrieen sie, während der Zickzack der Steine gegen meinen Kopf stieß. War es ein Zufall, dass ich als Zigeuner zur Welt kam und in diesem Dorf aufwuchs?     

Einmal schubsten sie mich bis in die Absperrungsgitter der Zirkusarena, wo ein Löwe gerade die Peitsche seines Dompteurs zerriss. Bei meinem allerersten Konzert stürzte sich jemand auf mich und warf mich mit Wucht hinunter. Einen Sack Müll weniger, grollte er. Während ich mir die Handwurzel brach und mehrere Rippen, blieb mein Zymbal, der von seinem Gestell abgetrennt und hinter mir her geworfen wurde, heil. Was für ein Zufall war das?  

Als  ich vor wenigen Jahren  in den Wellen des Flusses, der aufgehört hatte zu strudeln, ausruhen wollte, sah ich tausend winzige Fische auf meiner Haut brennen, lebende Fackeln. Es waren äußerst schmerzhafte Spiele. Der Tod aber ließ mich bisher gewinnen. Wieder Zufall?

Was hätte ich dem hart geprüften Musikanten antworten können? Er erwartete doch nur, dass ich, ähnlich wie er, die Welt im innersten ursächlich dächte und seine Überzeugung von einer eindeutigen Vorhersehbarkeit aller Ereignisse bestätigte. Im ersten Augenblick war ich geneigt, seine Beispiele von der untrüglichen Macht des Schicksals durch gewisse Zitate aus Kant, Spinoza und Freud anzufechten. Mit den Sätzen, die ich ungestüm wiederbelebt hätte, wollte ich wie mit Würfeln herumspielen, und so die zeitgemäße Erkenntnis einer anderen Verlorenheit und Unbedeutsamkeit des Menschen entgegensetzen: Die Zufallsmagie, Endstation ohne erkennbaren Urquell. Aber ein neues Ausstoßen von Lauten nach Schlucken und Hüsteln und schrille Spülungsgeräusche in der Toilettenkabine erinnerten mich, wo ich mich wirklich befand: Weder in einem Konferenzraum noch in der Privatbibliothek meines verstorbenen Mentors, sondern auf dem festen Sitzplatz im Bus. Wahrscheinlich hätte mein Hang zum Philosophieren ihn dazu  gebracht, nur noch zu glupschen und sich an den Ohren zu kratzen, um nicht sagen zu müssen: Verbummle nicht mehr deine Zeit!

So tief vorgebeugt wie der Mann inzwischen saß, den Kopf in den Händen gewirbelt oder  schräg zum tragbaren Zymbal schauend, ließ sich nur Diffuses erahnen. Er schien zu vernehmen, wie Schattenwesen sich aus ihren Verstecken voranschlichen, um ihn im Chor zu vertrösten.

Dieser Anblick veranlasste mich, auf meinen hochgestochenen Handlungsentwurf sofort zu verzichten. Es war elf Uhr nachts, als meine andere Antwort für ihn sich hügelab breitmachte, ein johlender, hastiger Wurf von Sätzen und Beichten, der ungefähr so lautete: Auch ich hab meine Untoten, meine arg verknoteten Tagnächte und Jahre, bin vernarbt und verwüstet, et in infernum ego!, wenn auch anders als du und die deinen, doch ich wollte nirgendwo hinziehen, nie ein Hackbrett haben, aber singen vorm Fenster, bis die Gitter abrücken, und unbedingt schreiben, am liebsten ein melancholisches Regengedicht (wie Paul Verlaines „Il pleut dans mon coeur, comme il pleut sur la ville“…) und irgendwann eine Geschichte über die lange Busreise eines Hackbrettspielers, ach ja, mit acht Jahren hatte ich selbst eine Gummischleuder, mit der ich auf die Vogelscheuche zielte, da sie mich so komisch anglotzte, und als ich eines Sommers von vielen Männern begehrt wurde, ließ ich mir das erotische Schicksal in den Arabesken des Kaffeesatzes lesen, und irgendwann wachte ich samt Kind am Rheinufer auf,  einmal trat ich dort auf einen Regenwurm und blickte bekümmert noch hin, zu dem hinterlassenen Schleim auf dem Pflaster, anscheinend unterliegt auch ihr Regenwürmer eurem Schicksal, sagte ich dann, ohne die Schuldfrage zu stellen…

Das Hackbrett unterbrach mich, erste Klänge machten ein weiteres Wort überflüssig. Da spielte der Mann, während noch alles in den Schlaf versunken war. Mit den zwei hölzernen Hämmerchen schlug er zärtlich die Saiten und danach schneller, noch schneller, in schwindelerregenden Tempi. Und es wurde wieder hell und wieder Nacht, und heller und nächtlicher, und dann verfing sich die Zeit in einer Öffnung des Resonanzkastens und blieb einen Augenblick stehen.

 

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