Aller guten Dinge

sind drei, sagt man. In den letzten drei Jahren wollte sie vier Mal sterben. An diesem Morgen hätte sie es beinahe geschafft, wäre der Heuler nicht auf der Sandbank gewesen, die sie für ihr Versinken im Meer ausgesucht hatte.

Ihr fällt es schwer, die kleine Robbe, die vergebens nach ihrer Mutter ruft, im Stich zu lassen, blind und taub zu sein für ihr Leiden. (Als Kind spürte sie ein ähnliches Gefühl der Verlorenheit, das sich wie ein Insekt um ihren Nabel herum durchgrub und seitdem nie mehr verschwand. Obwohl ihr Weg so viele andere Wege kreuzte und manch einer bei ihr stehen blieb …)

Das Wattenmeer soll jedenfalls noch ein wenig auf sie, die Nichtschwimmerin, warten. Sie möchte auch nicht mehr ruhig hineingleiten, eher sich von einer aufbäumenden Flutwelle umreißen lassen. Aber erst sich um das jaulende Tier kümmern. Diesen kleinen Glitschigen, so weit es geht, auf den Armen tragen. Oder besser ihn ins Wasser locken, um ihn mit einem der ausgehängten Netze zu fangen.

Doch da ist keins mehr, wahrscheinlich sind alle schon ganz früh eingesammelt. Ihr fällt eine andere Blitzrettung ein: Und wenn ich auf allen Vieren über den Sand krieche, würde er mir bis zu einem sicheren Ort folgen?

Während sie ihre Hände auf den rauen Sand setzt, sieht sie, wie der Heuler, der wahrscheinlich seit Tagen nicht mehr gesäugt wurde, seinen Hinterleib nach vorne bewegt und dann sich mühselig vorwärts schiebt. Wie eine Raupe. So werden wir es nie schaffen, außerdem könnte dein nicht ganz verheilter Nabel aufreißen. Sie erkennt, wie unsinnig ihre Idee war.

Ich muss mein Funktelefon wieder ausgraben, beschließt sie, den Schiffbauer anrufen. Unserem früheren Nachbarn fällt zu jeder aussichtslosen Geschichte etwas ein.

Was machte sie nicht früher alles mit dem Sand! Sie vergrub sich öfters darin und genoss die nirgends sonst erfahrbare Wärme oder die nötige Kühle. Und als sie Treppen und Türen, die dunklen Behausungen nicht mehr ertrug, waren die Dünen ihre Zuflucht. Aber nun hat sie ihnen das Telefon überlassen. Sie bekam sowieso nur selten Anrufe oder Nachrichten, und irgendwann verstummten sie ganz. Unter dem Sand besteht die Chance, dass Muscheln und Gräser das harte Gehäuse besiedeln und sich ausbreiten, ihm neues Leben, in all ihren Formen und Farben, einhauchen. Diese Vorstellung erheitert sie.

Auch Teile ihres Weckers befinden sich dort. Hätte sie ihn ins Wasser geworfen, würde er schon in großer Tiefe auf dem Friedhof der unnützen Dinge liegen. Doch diese Uhr ist ihre Zeugin gewesen. Für all das, wofür sie in aller Frühe aufgestanden war. Fast nichts blieb unversucht. Bis auf den Tag,  als sie den unaufhörlichen Alarmierer vom Nachttisch am Stützpfeiler ihres gemieteten Zimmers zerschmetterte. Da spürte sie wieder den Drang, hinter die wüsten Geschichten, die ihr Leben ausmachten, keinen Doppelpunkt und kein Komma mehr zu setzen. Der Drang ließ nach und seitdem heißt er Wunsch. Sie will mit den Windungen ihrer Geschichten, ihrer  persönlichen Zeit brechen. Die Uhr hat sie bereits entlassen …

Auf einmal denkt sie laut, zerschneidet die Stille mit einem undeutlichen Schrei und ballt die Sätze zusammen, fährt fort: Die Glasperlen, die ich vorhin in den Sand neben dem Wecker eingrub, riss ich meiner Mutter vom Hals, als sie in den Zug nach Rom einstieg. Anders als der Spielmeister in Hesses Roman, den ich viel später bei einem Antiquar entdeckte, hatte ich nichts Großes im Sinn, wahrscheinlich hätte ich auch nicht begriffen, wie das Glasperlenspiel alle Bestandteile der Welt in bestimmte Beziehungen zueinander setzt und das Ganze umschließt. Mich reizten einfach die funkelnden Farbspiele in allen Abstufungen. Je nach Helligkeit nannte ich die losen Glasstücke Morgen, Mittag und Nacht. Später hießen sie Lichtgesang, Sonnenauge oder Nachtfalke. Ich spielte mit ihnen, ließ sie nach Belieben rotieren, und wenn die Erinnerung an meine Mutter, die nie wieder zurückkam, zu eindringlich war, ließ ich sie eine Zeitlang in einer Holzkiste verschwinden.

Zwischen den jungen Ausläufern des Strandhafers und dem eingewanderten Sanddorn, da wühlt sie jetzt wieder im Sand, gräbt hastig nach ihrem Gerät. Als sie eine Ecke vom schwarzen Gehäuse erblickt, zieht sie es halb heraus und lässt es wieder fallen. So heiß ist das Ding, als gäbe es im Innern der Erde noch eine Sonne! Ihre Hand sucht in der Brise Abkühlung. Kein Versuch mehr. Man soll die Totenruhe nicht stören, erinnert sie sich an Nachbars Worte von früher mitten in einem Wirrchor von Hammerschlägen und Motorgeräuschen.

Ihr früherer Nachbar, der Schiffbauer. Er käme in Kürze, wie sie ihn kennt. Vorher   würde er bloß Wo bist du? fragen. Sie schüttelt den Kopf: Wenn ich das wüsste … Am Meer, wo sonst, in der Nähe einer Sandbank, da  könnte er uns finden, den Heultönen nach. Wir haben ähnliche Stimmen, der bärtige Heuler und ich, und ganz große Augen, darin hätten alle Sonnen und Milchmeere Platz gehabt.

Ich muss mich beeilen, die Flut naht heran.

 

Further reading →

Wir verleihen Francisca Ricinski in 2016 den KUNO-Prosa-Preis. Lesen Sie hier die Begründung.