Entriegelung

Seit mehreren Stunden wühlte er in einer Kartonkiste, holte vergilbte Papiere und Fotos, ein Paar Steine und noch andere Sachen heraus, ließ sie wieder fallen oder legte sie wie Spielkarten auf, baute damit Türme und Wände, die er dann mit einem einzigen Finger zum Einsturz brachte. Plötzlich ging er mit einem Lächeln zur Tür, als stünde jemand davor, der lange nach ihm gesucht hatte.

Treten Sie ein!, flüsterte er, damit kein anderer etwas von diesem unverhofften Besuch mitbekommt, ich habe Ihnen so viel zu erzählen und so wenig Zeit, unterbrechen Sie mich also nicht. Man sagt, ein Mörder kann es nicht lassen, an den Ort des Geschehens immer wieder zurückzukehren. Auch ein Peiniger wie ich, den krumme Schattenwesen fast vier Jahrzehnte belagerten und mit gebündelten Lumpen und Resten von Schuhzeug bewarfen, muss wieder durch dieses Tor gehen, die verwinkelten Flure entlang, bis in den weitesten Raum, wo einundfünfzig Frauen eingepfercht waren: Links in der Ecke saß die Hebamme. Zwischen der Widerstands-kämpferin und einer Diebin. Dahinter die zwei betenden Nonnen, meist gebeugt über die an Tuberkulose erkrankte Schneiderin. Wie ein Körper aus Farben fiel der zittrige Stoff eines Bühnenvorhangs über den Schlafplatz der Puppenspielerin. Sie flehte mich an, ihr einziges Gut nicht abzureißen. Eine Dirne lag auch da, sie brabbelte und fantasierte, sprach andauernd von gruseligen Nagetieren, die ihren Kopf wegfressen würden, weil sie Brot backte und es zu den Männern in die Berge brachte. Als ich sie vom Verhör zurückholte, sah ich die tiefen Schlagspuren und Schwellungen ihrer Brüste, und plötzlich erinnerte ich mich, wie hinter der

Dorfkirche jemand die Kutschenstute unseres Pfarrers niederschlug und auf ihren Eutern herumtrampelte …

In derselben Nacht befahlen mich die Ermittler nochmals in die abgedichtete Kammer. Diesmal musste ich eine wegen Spionage beschuldigte Juristin heraustragen und sie auf brüchigem Boden absetzen, nahe bei den bekannten Rattenbehausungen. Als ich ihr Namensschild las, erschauerte ich, da ich nun wusste, wer sie war: Mathilde, meine Spielkameradin aus der Kindheit. Die ersten französischen Worte, die sie mir damals beibrachte, waren chanter et sauter. Singen und springen. Nun stand sie wieder vor mir, und ich erkannte die üblichen angewandten Torturen und deren Ausmaß: kahle Kopfhautstellen und halb abgerissene Fingernägel, Striemen auf den Fußsohlen von Peitschenhieben. Ich spürte, wie sich Fragen in mir wälzten, und ich wurde unsicher, stützte, schleppte sie bis zum kahlen Schlafplatz, brachte ihr Eiswürfel. Und eine Blechschüssel aus der Küche als Nachttopf. Hätte ich öfters den Hauch eines solchen Mitgefühls zugelassen, wäre ich kaum noch in der Lage gewesen, meinen Dienst zu verrichten.

Fünfzehn Jahre lang wurde Mathilde ihres Körpers und Geistes beraubt. Nächtelang durfte sie nur stehen oder auf winziger Fläche endlos ‚marschieren’. In dem Buch, das sie im Kopf, Seite für Seite, verfasste und jeden Tag – um nichts zu vergessen – halblaut rezitierte, nannte sie mich mein Höllenaufpasser und Lügenknecht.

Vor einer Ewigkeit schrieb sie mir aber auf einem Zettel Sätze, die anders klangen und die ich heute noch wiedergeben kann: Von der Bank aus, wo ich seit über einer Stunde alleine sitze, sehe ich am besten die zwei tief über den See hängenden Weiden, die schon da waren, als mein Großvater, der Uhrmacher, ein letztes Mal hier ausruhte, bevor er in die Schweiz übersiedelte. Nun, da meine Eltern nicht mehr leben, nehme ich selber Abschied von unserer heimlichen Parkecke (die unter dem Firn schweigt), um zum Großvater nach Zürich umzuziehen. Mit der alten Kuckucksuhr in der Hand will er am Flughafen auf mich warten. Was glaubst du: Wird der bunte Vogel noch heraus schwenken und hüpfen und rufen?

Aber ja, würde ich ihr heute antworten, wäre sie noch auf Erden, er hat schon so oft nach dir gerufen.

Auf der Nichte eines gestürzten Ministers schien der schwerste Verdacht zu lasten, denn sie wurde nach nur zwei Tagen in eine Sonderzelle gebracht. Ich nannte sie Raspelschnecke, weil sie fast nur Gurken und Karotten aß. Raspelschnecke wackelte mit dem Stuhl, als sie mich eines späten Abends nach ein wenig Farbe oder Tinte fragte. Ihr Mund mühte sich ab, die paar Bittworte zu artikulieren, doch sie blickte ins Leere. Ich grinste und antwortete ihr, wie ich immer und allen antwortete: Warte! Obwohl ich sie stets belauerte, war sie schlauer als ich. Anscheinend hielt sie ihre unbegreifliche Lage, das Unheimliche um sie herum nicht mehr aus. Ich erwischte sie nicht beim Ausreißen eines Brettnagels mit den Zähnen, den sie brauchte, um eine Art Fabelwesen mit Affenblick, Aasgeierschnabel und Bärenkrallen in das sandige Mauerwerk zu ritzen, auch nicht, als sie fest in die Wurzel ihres Daumens biss. Mit dem Blut, das daraus tropfte, kritzelte sie zwischen den Kopfzeilen alter Zeitungen (ihr Papier für Klogänge) einen seltsamen Brief an die Welt und die Katze daheim, den ich später im Stroh der Matratze entdeckte.

Dreiundzwanzig Jahre, das sind 8401Tagnächte, sorgte ich in den Mauern dieses Frauengefängnisses für Gehorsam und Ordnung. Ich studierte Gartenarchitektur im zweiten Semester, als die Macht in andere Hände wechselte. Noch unschuldig und ahnungslos, ließ ich mich damals auf die Verheißungen des neuen Regimes ein und glaubte, dass keiner wie ich oder meine neuen Kollegen böse wären, sondern die verworfenen Gegner und Feinde dieser revolutionären Veränderungen. Außerdem wollte ich endlich Geld haben, um später Parks zu entwerfen und ganze Regale mit Samentüten zu füllen. Die Milizschule schloss ich mit einem schnellen Lehrgang ab und wurde als Hauptwärter eingesetzt. Anfangs habe ich noch die Stunden und sogar die Sekunden wie ein Eingekerkerter gezählt, um nicht wahrzunehmen, wie alles begann, in eigener Dunkelheit zu versinken oder ganz aus der Zeit zu fallen.

Ich sehe noch meine Mutter, wie sie mir am Zaun den Kopf streichelte und dabei zitterte, schwankte: Mein Sohn wird kein Böser, nicht wahr?

Warum sagst du so was?, fragte ich zurück.

Wenn sie vom Leiden dieser Frauen, das ich in keiner Weise zu mildern versuchte, gewusst hätte! Dreimal am Tag musste ich sie alle zum fern liegenden, übel riechenden Loch im Betonboden führen. Sie schlurften und schlurften in Reihen dahin, und selbst wenn ich sie mit dem schweren Stiefel anschubste, änderte sich an ihrem Gang nichts. Nicht weil ihre körperlichen Bedürfnisse, die Krämpfe oder das Bluten nachließen, im Gegenteil. Ich merkte es schon, aber ich musste die Anweisungen befolgen, durfte kein Schwächling sein.

Es war Winter und die Zelle unbeheizt, Mutter, aber die inhaftierte Mathilde, ja, unsere Mathilde, trug immer noch ihr Chiffonkleid und Sandalen mit hohen Absätzen. Ein unerträgliches Bild, gebe ich zu, aber nur weil sie andauernd ihre Unschuld beteuerte. Lieber fror sie und schluckte nur Wasser und Brühe mit schlammigem Nachgeschmack herunter, als sich zu beugen.

Die Macht, die wir anstrebten, auch um die eigene Angst zu verbergen, schlug sich im gnadenlosen Umgang mit den Häftlingen nieder. Was haben wir nicht alles getan: gelauscht, gedroht und erniedrigt, gequält, die Wahrheit verfälscht. Ob ich Scham oder Reue empfinde? Was kann ein Hamster im Rad darauf antworten? Ein Diener mit amputiertem Gewissen? Ich will keine Absolution, verstehen Sie? Reißen Sie mir nur alle diese Erinnerungen aus dem Kopf! Vorher aber will ich noch kurz zu einem Geschehnis zurück … Von den einundfünfzig Frauen, die ich in jener Nacht länger als sonst ausspähte, blieb nur die gefolterte Dirne liegen. Alle anderen stapelten die Matratzen aufeinander und legten darauf ihre Decken und Tücher. Sogar der Pelzmantel der Schneiderin wechselte seinen Standort, als wartete er auf jemanden, der im nächsten Augenblick käme. Da ich den Grund dieses außergewöhnlichen Trubels nicht erkannte, griff ich nach kurzer Zeit ein.

Als sie mich sahen, schüttelten sie mich wie einen Baum, zeigten auf den Matratzen-berg und schrieen: Warmes Wasser! Schnell! Als ich mit der Kanne zurückkam, lag die Widerstandskämpferin schon auf dem ‚Entbindungstisch’. Und weil ich ein kräftiger Mann war, hob die Hebamme die Beine der Gebärenden hoch und stützte sie auf meine Schultern. Zum ersten Mal schauderte ich vor einem unbekannten Gefühl, das bis heute namenlos blieb. In den Pelzmantel wurde der neugeborene Junge gewickelt. Ich schaute zu ihm und dachte: Aus dir wird niemals ein Höllenaufpasser oder ein Knecht.

Immer erregter drehte der ehemalige Wärter den Tisch voller Fetzen und Bilder,

und als er die Augen wieder öffnete, sah er im Spiegel weder sich noch die Frauen noch seinen Zuhörer, sondern die grimme Gestalt einer Marionette. Was hat ein dämliches Geschöpf wie du hier zu suchen?, fragte er sie, du hast meinen Besucher vertrieben, ich werfe dich gleich hinunter.

Warten Sie, springen Sie nicht!, rief ein Krankenpfleger dem alten Herrn im dritten Stock zu, der vorher ein langes Gespräch mit sich selbst geführt hatte.

Warten? Ein Witz! Warten, das war früher mein Wort.

 

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