Der Staatsbürger

 

Dieser Beruf ist kein Beruf, sondern eine Berufung. Zum Sozialpädagogen ist man geboren. Das Licht der Welt erblickte Detlef, als sich Europa die letzte Asche des Krieges aus den Kleidern geschüttelt hat, der Sex noch schmutzig und die Luft noch sauber war. „Den güldenen Wirtschaftswunderjahren“, wie sein Grossvater bei den Tischgesprächen in träger Bedeutungslosigkeit des Sonntags verächtlich sagt, um auf Stalingrad überzuleiten, worauf sein Sohn bemerkt:

»Aber Vater, wir leben doch jetzt in einer Demokratie!«

Beim Sonntagsmahl der Anspruchs liegt die Serviette zu einem Dreieck gefaltet neben dem Unterteller, das Besteck ist gerade ausgerichtet. Beim Essen wird der Unterarm nicht wie ein Balken auf den Tisch gelegt, Detlef muss sich gerade halten und mit dem Handballen abstützen. Hunger weicht dem gesunden Appetit. An Feiertagen gibt es reichlich Fleisch, Bier, Schnaps, als Nachtisch eine Zigarre, sowie Kaffee und Eierlikör für die Damen. Nach den Entbehrungen geniesst man das Leben. Wohlstand ist eine Realität, die Wahrheit ein neuer Kühlschrank.

Hinter zugezogenen Vorhängen verschwimmt der Unterschied zwischen dem Verbrechen mit der Intimität der Umarmung. Detlef wächst wohlbehütet auf. Bekommt, wenn er artig ist, Lego–Steine oder ein Spielzeugauto geschenkt.

Das grösste Ereignis seiner Kindheit ist die Installation eines Fernsehers im Hause der Anspruchs. Vor diesem neuen Wunderwerk der Technik verbringt er den meisten Teil seiner Freizeit, wenn er nicht etwas ausgefressen hat. Und er frisst viel aus. So spielt er gern mit Streichhölzern. Davon wird er allerdings durch eine kräftige Tracht Prügel, die ihm von seinem Vater verabreicht wird, kuriert. Im Alter von fünf Jahren wird Detlef eingeschult. Er ist bereits im Kindergarten als besonders intelligent aufgefallen. Vor hier aus beginnt sein steiler gesellschaftlicher Aufstieg. Ganz im Gegensatz zur aufkeimenden antiautoritären Erziehung wird er von seinem Vater nach dem Sprichwort mit Zuckerbrot und Peitsche erzogen. Direkt nach der Grundschule wechselt Detlef auf die Oberschule. Er wird dort, zum Stolz der Familie und der ganzen Verwandtschaft, Klassenbester. Die Zeit ist wildbewegt, vergeht im Sauseschritt, und Detlef scheint eines dieser Wirtschaftswunderkinder zu werden, die unter dem Fernsehhimmel aufwachsen und den geraden Weg gehen.

»Doch Ausnahmen bestätigen die Regel«, weiss Herr Volxmund, Nachbar der Anspruchs, der im Treibhaus fleischfressende Pflanzen züchtet. Detlef kommt in das schwierige Alter der Bewusstmachung. Verliebt sich in Judith. Sie befreit ihn aus der nivellierten Mittelstandsgesellschaft, holt ihn aus den Traumwelten in die Wirklichkeit. Er lernt die Menschen, das Leben kennen und stellt sich seinen eigenen Dämonen. Interessiert sich für kritische Theorie, kreiert einen marxistisch–freudianischen Jargon revolutionärer Eigentlichkeit. Identifiziert sich mit den Opfern, hinterfragt, ob der Kalte Krieg geschürt wird, um die Waffenproduktion in Gang zu halten, will Herrschaftsstrukturen und falsches Bewusstsein aufdecken, und erkundigt sich bei seinem Grossvater:

»Sag mal, Opa, du warst doch auch ein hohes Tier in der Partei, und dann hast du von den KZs nichts gewusst?«

Die labile Kleinbürger–Seele seines senilen Grossvaters reagiert auf seinen Enkel, den Gammler, höchst irritiert und heftig, doch meist so:

»Loss dir do erst amoi dei Hoar schneid’n. Schaust ja aus wira Madel. Sowas hät’s beim Adolf ’net geb’n!«, – und alpenländische Gemütlichkeit vereist im Masskrug. Weisswürste stehen stramm. Nicht nur dieses Verhalten missfällt dem Senior, er regt sich auf, wenn Detlef nachts Musik macht. Meint, er soll die Scheiss–Negermusik ausmachen. Wer zu dieser Zeit lange Haare trägt, mit Nietenhosen herumläuft und progressive Rockmusik hört, zählt schon zu den üblichen Verdächtigen der Umsturzbewegung. Diese Gesellschaft drängt mit allen Mitteln darauf, das Grauen wieder zum Grusel werden zu lassen, das Böse in eine andere Welt zu verbannen. Detlef vertritt die Theorie, dass der Opa um sechs Uhr sein Hörgerät abschalten soll. Seine Strategie der Provokation zielt darauf ab, die Herrschenden zu zwingen, ihre Maske der repressiven Toleranz fallen zu lassen. Sein liberaler Vater ist von seinen politischen Aktivitäten nicht begeistert. Er versucht ihn mahnend, auf den rechten Weg zu geleiten. Dieses Mahnen nimmt an einem Sonntag im Mai 1968 ein abruptes Ende, als sich Detlef bei seinem Vater erkundigt, ob die Chemiefirma, bei der er tätig ist, Napalm nach Vietnam liefert. Sein Alter verbrennt sich die Zunge an der Suppe, knallt den Löffel auf den Tisch und sagt den historisch gewordenen Satz:

»Solange du deine Füsse unter meinen Tisch stellst…«

Das Klima zwischen den Generationen ist durch das Beschweigen der NS–Zeit vergiftet. Ein Sich–Einrichten in der Bequemlichkeit des bürgerlichen Lebens kommt für das schwarze Schaf mit dem roten Stern nicht in Frage. Sein Verhalten gilt als unbewusster Protest gegen die herrschenden Verhältnisse: „Wir haben ja so viel in den Jungen investiert!“, markiert das Ende des Generationenvertrags.

Nach seinem Ausstieg macht Detlef seine Lehrjahre zu Herrenjahren. Baut sein Abitur. Zieht in eine nonkonformistische WG und versucht die Konsumfixiertheit der Mehrheitsgesellschaft subkulturell zu unterlaufen. Arbeitet als Zeitungsbote. Verteilt Flugblätter. Ist umfassend politisiert und ideologisiert.

Da der Wohlstandsstarrsin der Konsumidioten verhindert, dass die Fantasie an die Macht kommt, steigt Detlef aus. Es wird für ihn klar, dass er sich in der Zeit und der Gesellschaft, in der er lebt, vertan hat. Die Utopie von morgen begann mit dem Studium der Vergangenheit, der Russischen Revolverlution im Kontext der ideologischen Auseinandersetzungen der Weimarer Republik, und fragt sich, was so viele motiviert, sich eine Zeit lang als Akteure einer chimärischen Weltrevolution zu fühlen. Als sich der Prager Frühling in einen stalinistischen Winter verwandelt, trampt er nach Indien. Dort lässt er sich von einem echten Guru, diversen Joints und Jimi Hendrix im mitgenommenen Cassettenrecorder erleuchten. Wer sich an diese Zeit erinnert, der hat sie nicht erlebt.

Weltreisen ums eigene Selbst. Erst in den 1970–er Jahren kehrt er zurück. Hier findet er eine veränderte Gesellschaft vor, die ihm zu Ernüchterung zuerst einen Einberufungsbescheid vorlegt. Natürlich verweigert er den Kriegsdienst aus Gewissensgründen. Betätigt sich vor der Prüfungs–Kommission als Historiker der eigenen Lebensgeschichte. Erklärt diese Geschichte als Geschichte einer ganzen politischen Generation, ihrer ideologischen wie psychischen Triebkräfte und als Geschichte eines Jahrhunderts im ewigen Endkampf zwischen Faschismus und Kommunismus. Solidarisch mit revolutionären Bewusstseinsgruppen arbeitet er daran, den Strand unter dem Pflaster zu finden. Mit seiner Gandhi–Adaption kommt er ohne Schwierigkeiten auf Anhieb durch den Gewissens–TÜV.

Nach dem Zivildienst, den er in einem nervenzerrüttenden Schichtdienst einer psychiatrischen Klinik ableistet, ist er reif für eine Selbsterfahrungsgruppe. Detlef zieht in eine Landkommune. Nimmt dort an Wochenendkursen teil und arbeitet in der Furche. Seine Kommunarden waren die Schlimmsten, jetzt sind sie die Besten und Radikalsten. Ihre anarchischen Tagträume und Sehnsüchte nach den Abenteuern der Aufklärung sind Begriffs– und Erfahrungshunger. In den Nazis erkennen sie im Kern nichts anderes als eine an die Macht gekommene Bande von Eroberern, die es verstand, in den Menschen Instinkte freizusetzen, die bis dahin zumindest im Zaum gehalten worden waren. Die Generation der Väter übte eine Gewaltherrschaft ohne jegliche zivilisatorische Idee aus. Alle namhaften Gewaltherrscher in der Geschichte verfügten über irgendeine emanzipatorische Idee, die Nazis waren in keinster Weise davon angekränkelt. In existentieller Distanzierung vom anhaltenden Urverbrechen der Nazi–Generation und dem nachfolgenden Schweinesystem befreien die 68–er mit neuer Erinnerungskultur und Sühnestolz die Welt, auch von sich selbst.

Detlef ist ein lächelnder Schlacks, der selten ausflippt. Hat so viel jungenhaften Charme, dass er alle, die er haben will, verführt. Abermals ist es eine Frau, die sein Leben verändert. Mit Elvira macht er nach dem harten Landleben zurück in Dharma–Tourismus. Sie reisen nach Poona zu einem Herrn Bagwahn. Während sie sich dem Meister völlig hingibt, wird er nach Einblick in die Steuererklärung von einem schwindelnden Anfall namens Ratio gepackt. Indien ist ihm fremd geworden. In einer seltsamen Hass–Liebe fühlt er sich von der Bundesrepublik Deutschland angezogen. Elvira trennt sich aus reinem Überdruss von ihm. Herr Bagwahn verlässt aufgrund steuerlicher Angelegenheiten das Land.

Es ist konsequent, dass Detlef mit der linken Therapiekultur begann, um mit einer orientalischen Meditation aufzuhören. Er klärt in einem Kloster in Nepal die bis ins Privateste gehende Gemengelage aus Generationenkampf, revolutionärer Identität und deutscher Schuld. Üben heisst Erzählen, der Aufstand ist die Evokation von Wörtern, von Bildern. Sie endlich versprechen den Freispruch: Wann, wenn nicht jetzt? Detlef analysiert Tiefenschichten, zergliedert die Entgleisung der Elterngeneration aus der Nazi–Zeit. Versteht im Nachhinein die Scham angesichts der Unfassbarkeit des Holocaust. Will seine stellvertretende, reinigende Rebellion abgetragen wissen in einer Gnade des späten Aufstands. Aus diesem moralischen Negativkapital wachsen bei ihm Euphorie und Entlastung. Freisinnig kehrt er mit dem fruchtbaren Gedanken in seine Heimat zurück, um etwas für Menschen zu tun. Sein Zivildienst hat ihm den richtungsweisenden Wink gegeben. Soziales Engagement ist das Zauberwort, das er aus seinem Kaftan schüttelt. Er schreibt sich ein und erhält eine Immatrikulationsbescheinigung und die wichtige Clubkarte, den Studentenausweis. Ohne jede Anstrengung übersteht er die Einführungswoche. Lernt viele nette Menschen in Arbeitsgruppen kennen. Schätzt ihre ungebrochene narzisstische Treue zu sich selbst. Verliebt sich in mehrere Studentinnen, die einer Frauengruppe angehören. Dieser für ihn Staudamm, der sich gegen seine sexuellen Bedürfnisse aufrichtet, determiniert den Weg in seiner Studentenkarriere erheblich. Zwischen Sex und Sexismus liegt nur ein Wimpernschlag Durch seine Auslandsaufenthalte ist er nicht gewöhnt an herausgeheiserte Verbalkeulen wie „Heteronormativität“, „Phallozentrismus“, „repressive Penetration“ und „klitoraler Orgasmus“.

Öffnet sich das Sprachrohr einer Generation, wird der Mund zur Flüstertüte, und Sprechblasen plöppen heraus: Einvernehmlicher Sex wird durch hierarchische Unterschiede erzwungen. Vergangenheit zu bewältigen ist deutsche Lebensform.

Detlef wird vom Renegaten zum Revisionisten, tut sich schwer und gründet mit Kommilitonen eine Männergruppe. Rituale der Labilität. Der sanfte Übergang vom TuNix–Kongress zu den Spontis in die Alternativbewegung bewahrt den Torpedokäfer vor der tiefergehenden Einsicht seines politischen Scheiterns.

„Du musst dich kristallklar entscheiden: Bist du ein Teil der Lösung oder ein Teil des Problems?“ lautet die Frage, die ihnen grosse Janus–Kopf–Schmerzen bereitet. Falsch verstandene Restbestände der antiautoritären Ideologie maskieren die Bequemlichkeit eines eingeübten Selbstverwirklichungsrituals. Die Bewegung, der er sich anschliesst, ist hedonistisch und puritanisch, egalitär und elitär, von kalter Theorie getragen und romantisch bis in die Knochen. Diese Anti–Partei macht die Organisation zum revolutionären Fetisch und gibt ihm den Anlass, sich mit seiner Vergangenheit auszusöhnen. Ihre Mitglieder unterziehen sich einer kollektiven Psychohistorie, setzen sich intensiv mit der Wiederkunft des Verdrängten auseinander und vermindern den Leidensdruck.

Autistenrodeo des Tagungswesens. Detlef gehört nun zu den Menschen, vor denen ihn seine Eltern gewarnt haben. Er versucht die Profs kunstvoll zu demaskieren, ohne sie blosszustellen. So beginnt ein Aufstieg in studentische und Partei–Gremien. In den Vollversammlungen fällt er aufgrund seiner geschliffenen Reden auf. Schnell ist der Kampf gegen die politischen Weltuntergangssekten entschieden, die von den Finanzangelegenheiten ihrer Mitglieder, über deren Liebesleben, bis zu dem selbstzerstörerischen und oft genug suizidalen politischen Aktivismus, ihr gesamtes Leben und Sterben nicht im Griff haben. Seine MitstreiterInnen besinnen sich auf die demokratische Mehrheitskultur. Politisch engagiert er sich so vielschichtig, dass selbst seine Gegner dies anerkennen müssen. Über die Hausbesetzer–Szene weiss er genau Bescheid, da er selbst ein Haus instandbesetzt. So kann er diese Kenntnisse praxisnah für den soziologischen Bereich seines Studiums verwenden. Immer an vorderster Front, ist einer seiner Wahlsprüche. So bringt er es in bewundernswerter Weise fertig, seine Erfahrungen aus einer Demonstration gegen KKWs in den Fachbereich Recht einzubringen. Praxisnähe ist alles steht auf der Tür des Wohngemeinschaftklos neben den bekannten Forderungen Gemeinsam leben, arbeiten, kiffen, flippen, zusammen kreativ sein, den grauen Alltag umkrempeln, im Hier und Jetzt leben. Sich zusammensetzen, gegenseitig Lücken im Hirn füllen, Ideen zusammenwerfen, und voneinander lernen. Begriffe aus dem Vulgärmarcusianismus in die Diskurs–Umlaufbahn bringen.

Höhepunkt des Semesters ist das Konzert der Anarcho–Rock–Gruppe Nr. 1. Die popkulturhistorische Bedeutung dieser Band lässt sich mathematisch exakt daran ablesen, wie viele ihrer Anhänger sich äusserlich an die Bandmitglieder angeglichen haben. Dieses Publikum bezahlt dafür, anderen Menschen dabei zuzusehen, an sich selbst zu glauben. Und dass die Typen auch noch im Dialekt singen, unheimlich dufte. In den Semesterferien das erste studienbegleitende Praktikum. Randgruppenarbeit mit Punkern. In den reichen Ländern werden soziale Probleme mit Geld gelöst. Es wird bezahlt, was den sozialen Frieden fördert. Detlef macht diese Arbeit sechs Wochen. Lernt dabei Annette kennen.

»Protest ist, wenn ich sage, was mir nicht passt. Widerstand bedeutet, dass ich dafür sorge, dass es abgestellt wird!«, postuliert die eloquente Rothaarige. Sie fällt unter den Ökoschlampen sofort auf. Handtasche, Gürtel und Schuhe haben die gleiche Farbe. Wenige Frauen achteten auf solche Kleinigkeiten. Schon gar nicht in einem sozialen Brennpunkt, wo blonde Perückenschafe mit goldenen Ohrringen das Schönheitsideal vorgeben. Fashionable gelingt es ihr, das unheilige Zusammenspiel von demonstrativer Selbstzerstörung und melancholischem Schuldgefühl zu beenden. Schult ihre Probanden in respektvollem Umgang und betreibt Integration als sozialen Aufstieg.

Nach dem Praktikum fliegen sie nach Indien. Suchen gemeinsam das Reich der Ekstase, der letzten Wahrheit. Jeder, der seinem Nächsten bei der sexuellen Befreiung beistehen will, darf sich hier als Psychotherapeut ausgeben. Annette führt ihn aus dem Theorie–Labyrinth heraus, leistet die eigentliche Arbeit des Verstehens als eine psychoanalytische, macht ihm klar, dass der wahre Anarchist das System bejahen, benutzen und von innen zersetzen muss. Rebellische Trauer wandelt sich zu staatstragender Wut. Das Paar oszilliert auf dieser Reise zwischen der Frühromantik, den Sprachen des Ernstes und findet als Synthese zur ironischen Republik. Ihm gefällt die Ästhetisierung ihres Lebenslaufes als Gegengewicht zum starken politisch–ideologischen Einfluss. Der Begriff des Fremden verwandelt sich nach dieser Anschauung aus staatsrechtlicher in eine soziokulturelle Kategorie. Seine Glaubenslehre ist der hedonistische Humanismus. Freiheit und Individuum, werden seine Begriffe. Die Politik der Anerkennung zum Mittelpunkt seiner Ideen.

Spurwechsel. Der Mittelstand krebst im Schrottgekröse der Industriegesellschaft herum. Dienstleister kommen schleppend ins Land, um das Wegbrechen ganzer Fabrikationen zu kompensieren. Glamour trifft auf Revoluzzertum, Hochglanz auf Protestkultur. Niemand braucht Prominente, was vonnöten ist, sind Vorbilder. Detlef erkennt, dass der liberale, soziale und föderale Verfassungsstaat des Grundgesetzes nicht wertneutral ist und auch nicht auf wertneutralen Grundlagen beruht. Massstab für erfolgreiches Wirtschaften sind nicht allein Wachstum und Produktivitätssteigerung, sondern materieller, kultureller und geistiger Reichtum. Eine Kulturnation, die sich auf das Ökonomische beschränkt, verödet. Detlef setzt sich für den Eigenwert kultureller Differenzen und die darauf gestützte Behauptung von Identität ein, träumt von einem völkerrechtlichen Minderheitenschutz und einer multikulturellen Gesellschaft.

Als er pünktich Europawahl heimkehrt, überspringt seine Partei die 5%–Hürde. Detlef rotiert als Abgeordneter zwischen seinen Wohnsitzen Strassburg / Brüssel und gehört zur Welt der interpretierenden Klasse. Als Wirklichkeitsdeuter, lebt der Abgeordnete in einem Paralleluniversum, redet zwar über Politik und Gesellschaft, benutzt aber keine politischen Begriffe mehr. Hat einen analytischen Begriff von Gerechtigkeit, scheitert aber am synthetischen Begriff der Fairness. Aus dem Lehrling der Konspiration wird ein Meister der Macht. Er erkennt: „Emotionale Empörung schadet der Demokratie“, will mit chamäleonhafter Realitätstüchtigkeit die Vision des geeinten Europa im Osten dynamisch vorantreiben und fordert ein grösseres Mass an Ungleichheit heraus.

Auf dem langen Weg zu sich selbst wurde Detlef Anspruch Politiker, denn dieser Beruf ist selbstverständlich kein Beruf, sondern eine Berufung.

 

 

***

Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2010.

Coverphoto: Anja Roth

Weiterfühend → KUNO übernimmt einen Artikel von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Jo Weiß von fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur, Margaretha Schnarhelt kennt den Ausgangspunkt und Constanze Schmidt erkennt literarische Polaroids. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Ein Essay über Unlust am Leben, Angst vor’m Tod. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten lebendig.

 

 

Redaktionelle Anmerkung: Der Figur Detlef Anspruch ist ein entfernter Verwandter von Lilakäppchen.