Ideen liegen in der Luft

Die Liebe zur Literatur ist in der französischen Bourgeoisie schwer von der Frömmelei zu unterscheiden.

Hans Magnus Enzensberger

Nahezu zehn Jahre nach dem Erscheinen der Novelle Vignetten von A.J. Weigoni hat Hans Magnus Enzensberger „99 literarische Vignetten aus dem 20. Jahrhundert“ zusammengestellt. Christian Thomas weist in der FR auf die „Überlebenskünstler“ hin. In der SZ erwartete Helmut Böttiger gar nicht erst den großen Tiefgang in Hans Magnus Enzensbergers Vignetten über Autoren, die dem 20. Jahrhundert noch einmal von der Schippe gehüpft sind:

„Vignetten“ ist ein schönes Wort, es passt sich wunderbar ein in das „Journal des Luxus und der Moden“, das Enzensberger bereits Ende der 70er-Jahre gegründet hat, oder in die buchbinderische und grafische Gestaltung der „Anderen Bibliothek“, die er kurz danach ins Leben rief. Eine Vignette bezeichnet im Französischen eine Rebsorte, später hieß das gesamte Etikett der Weinflasche so, und zuletzt meinte dieses Wort dann allgemein Randverzierungen in der Drucktechnik. Enzensbergers 99 Vignetten sind zwei-, höchstens drei- oder vierseitige Porträts von Schriftstellern, die er zu obigem Behufe zusammengestellt hat. Bei dieser Kürze, so könnte man meinen, käme es auf jedes einzelne Wort an. Das ist aber beileibe nicht so.“

Jedes Wort, jeder Satz sitzt. Parataktisch, oft stakkatoartig werden die
Sätze vorgetragen. Klänge, die vieles anklingen lassen, und Inhalte, die
ins Innere der Dinge vordringen, evozieren gleichsam ganze Kapitel.

Theo Breuer (Poetenladen)

Mit den Vignetten definiert A.J. Weigoni eine Literaturgattung neu. Er praktiziert damit mehr als das Schreiben, diese Novelle ist ein Sich-Einschreiben in die Welt. Mit seinen Prosavignetten verstößt Weigoni gegen das Gebot: „Du sollst Dir kein Bildnis machen“. Seine 24 Bildnisse bestehen aus vielerlei Facetten. Und außerdem wird in den Vignetten wird alles Spätere präfiguriert, es blitzt die Kunst der Verknappung und die Wucht der schmerzhaft präzisen Sätze auf; aus  disperat wirkenden Einzelteilen setzt sich eine Geschichte zusammen. Das Handlungskonzentrat dieser Novelle bewegt sich auf der Zeitleiste zwischen Rhein und Nil, sie erhält sich das prekäre Gleichgewicht aus Schönheit, Spannung und Melancholie bis zum Schluß.

 

 

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Überlebenskünstler. 99 literarische Vignetten aus dem 20. Jahrhundert, von Hans Magnus Enzensberger. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018

Vignetten, Novelle von A.J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2009 – Limitierte und handsignierte Ausgabe als Hardcover.

Covermotiv: Peter Meilchen

Weiterführend →

Constanze Schmidt zur Novelle und zum Label. Ein Nachwort von Enrik Lauer. KUNO übernimmt einen Artikel der Lyrikwelt und aus dem Poetenladen. Betty Davis konstatiert Ein fein gesponnenes Psychogramm. Über die Reanimierung der Gattung Novelle und die Weiterentwicklung zum Buch / Katalog-Projekt 630 finden Sie hier einen Essay. Einen weiteren Essay zur Ausstellung 50 Jahre Krumscheid / Meilchen lesen Sie hier. Mit einer Laudatio wurde der Hungertuch-Preisträger Tom Täger und seine Arbeit im Tonstudio an der Ruhr gewürdigt. Eine Würdigung des Lebenswerks von Peter Meilchen findet sich hier.