Zeit der Kettenhunde

Vorbemerkung der Redaktion: Daß ausgerechnet der unkomplizierteste Zugang zur Viefalt der Lyrik in Verruf geraten ist, ärgert Axel Kutsch, einen der leidenschaftlichsten Herausgeber:

Rezensionen von Lyrik-Anthologien findet man eher selten in den Medien – und wenn doch, dann kommt es einem mitunter so vor, als hätten Redaktionen Kettenhunden freien Lauf gelassen. Das ist jedenfalls der Eindruck, den einige in den vergangenen Wochen veröffentlichte Kritiken mit Vernichtungspotenzial vermitteln. Fast schon geifernd stürzen sich da Rezensenten auf Gedichte, die nach ihrer Ansicht missraten sind, klopfen sie mit Vehemenz in die Tonne und erwähnen gerade mal am Rande, dass die besprochenen Sammlungen auch gelungene Texte enthalten. Es ist eine billige Masche, das vielleicht weniger Geglückte in den Mittelpunkt zu rücken und damit zu suggerieren, dass die gesamte Anthologie eigentlich wenig bis nichts taugt.

Das Beispiel eines Verrisses, der offenbar von einer Wollust am Vernichten beflügelt worden ist, konnte man unlängst in der “Zeit” lesen, wo die 2015 erschienene Ausgabe der renommierten Anthologiereihe “Jahrbuch der Lyrik” regelrecht zerfleischt worden ist. Da heißt es unter anderem, dass man lieber einen Einkaufszettel lesen solle und einem angst und bange werden könne, wohin die Reise geht, wenn man das neue Jahrbuch als Kursbuch der Literatur verstehe. Es werden eifrig angeblich misslungene Passagen aus Gedichten zitiert und immerhin marginal “noch kleine Oasen in diesem geistigen Brachland” gesichtet. Nun gehört das Jahrbuch 2015 nicht zu den stärksten Ausgaben dieser Reihe, bietet aber mit so manchem lesenswerten Gedicht wenig Anlass, in eine von Langeweile und Empörung angetriebene Schnappatmung zu verfallen, wie es in der Rezension heißt.

Kaum glimpflicher kommt die vor kurzem veröffentlichte Anthologie “Lyrik von jetzt 3 – Babelsprech” mit Beiträgen junger deutschsprachiger Autorinnen und Autoren im Deutschlandradio davon. Auch hier wird genüsslich das Negative ausgerollt, ist von “Metaphernsalat”, “poetischem Packpapier”, freien Rhythmen, “teilweise im freien Fall” die Rede. Eher nebenbei wird erwähnt, dass diese Sammlung auch Geglücktes enthält – weitaus mehr jedenfalls, als diese Kritik vermuten lässt.

Nicht einmal einen Hinweis auf die gelungenen Beiträge in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift “Das Gedicht” enthält eine Rezension, die jetzt in der “Welt” erschienen ist. Stattdessen werden Verse, die dem Kritiker missfallen haben, herausgepickt und in einem Fall gar als “furchtbar” abqualifiziert. Angesichts der Thematik “Götterspeise & Satansbraten – Gedichte vom Essen und Trinken” kam es ihm offenbar darauf an, mit Tunnelblick auf sein süffisantes Fazit “ziemlich halbgar” zuzusteuern. Da passt es halt nicht ins Konzept, auch auf vorhandene Leckerbissen hinzuweisen.

Es ist gewiss keine einfache Aufgabe, Lyriksammlungen mit Beiträgen zahlreicher Verfasser und unterschiedlichen Schreibweisen differenziert und seriös zu beurteilen. Man kann da nicht auf alles eingehen. In jeder Anthologie gibt es zwar ein qualitatives Gefälle, aber das angeblich Missratene so in den Mittelpunkt zu stellen wie in diesen drei Rezensionen und den vielen gelungenen Gedichten bestenfalls eine Randnotiz zu widmen, zeugt von einer Mentalität, die man als pure Lust am Niedermachen bezeichnen kann. Seriöse Kritik, die auch das Negative nicht ausschließt, geht anders.

 

 

Weiterführend →

Auch Bertram Reinecke hat sich dieses Themas angenommen. Lesen Sie seine Replik. Und nachdem das Jahrbuch der Lyrik 2015 für Furore gesorgt hatte, vor allem deshalb, weil „sich so gut wie kein politisches, zumindest gesellschaftskritisches Gedicht [darin] findet“ (Heike Kunert in der ZEIT), schien es geboten, ein Druckwerk vorzulegen, das die Vielfalt der Lyrik in einer brisanten Gegenwart anschaulich macht. Herausgekommen ist das Schwarzbuch der Lyrik 2016 mit dem Titel Fünfzigtausend Anschläge.

Das Schwarzbuch ist sehr schön geworden, könnte einschlagen, ein Hit werden.

        Joachim Wendel

Fünfzigtausend Anschläge, Schwarzbuch der Lyrik 2016, Herausgegeben von der Epidemie der Künste zu Berlin am See. Erscheint im Verlag Distillery, Berlin

60 Gedichte von 39 Schreibenden. Mit einer Titelgrafik von Joerg Waehner und einem Motto von Christine Sohn.

Gedichte von Gerd Adloff, Michael Arenz, Christoph Bruckner, Ann Cotten, Gerald Fiebig, Lütfiye Güzel, Jonis Hartmann, Katrin Heinau, Katja Horn, Lilly Jäckl, Angelika Janz, Alexander Krohn, Jan Kuhlbrodt, Gregor Kunz, Robert Mießner, Pega Mund, Niklas L. Niskate, Hermann Jan Ooster, Bert Papenfuß, Martin Piekar, Kai Pohl, Jannis Poptrandov, Bertram Reinecke, Clemens Schittko, Sigune Schnabel, Jürgen Schneider, Kristin Schulz, Christine Sohn, Michael Spyra, Lutz Steinbrück, Brigitte Struzyk, Su Tiqqun, HEL Toussaint, Tom de Toys, Joerg Waehner, A. J. Weigoni, Ralf S. Werder, Sebastian Wippermann.

Mit ergänzenden Beiträgen zur Entstehung des Schwarzbuchs. Weitere Zitate von Theo Breuer, Peter Engel, David Hoffmann, Eric Ahrens, Herbert Hindringer, Lukas Palamar, Sofie Lichtenstein und Markus Prem. Mit Klappentexten von Marina Büttner und Christoph Bruckner sowie einem Einbandzitat von André Hatting. Grußworte von Hans Magnus Enzensberger, Cindy aus Marzahn, Marcel Reich-Ranicki, Michael Braun und Johann Wolfgang von Goethe.

Lesen Sie auch die Gratulation von Markus Peters zum 70. Geburtstag auf KUNO. Eine  Würdigung des Herausgebers und Lyrikers Axel Kutsch im Kreise von Autoren aus Metropole und Hinterland hier.

Unbedingt zu empfehlen der neue Band Versflug, der ausgewählte Gedichte aus den Jahren 1974 bis 2015 enthält. Neben neuen Gedichten, die zum Teil in Literaturzeitschriften (u. a. Das Gedicht, Matrix) und Anthologien wie „Jahrbuch der Lyrik“ veröffentlicht wurden, enthält dieser „Versflug“ durch rund vierzig Jahre ausgewählte Gedichte aus Kutschs bisherigen Lyrikbänden. Die Anordnung der Gedichte erfolgt nicht chronologisch, sondern in einer themenorientierten Zusammenstellung als doppelbödiges Spiel aus Scherz, Satire, Ironie mit ernsten Zwischentönen.