Pop mit Pensionsanspruch

Gehört nicht zum Kanon

Man will das Wort Konzeptalbum nicht mehr benutzen. Das künstlerische überzeugendste Album haben die Musikarbeiter bereits in 1978 eingespielt. Die Anspielungsdichte ich hoch, die Beziehungen zu Kasimir Malewitsch und El Lissitzky sind so offensichtlich, wie die Beziehung der Kling-Klang-Musiker zur Kunstakademie in Düsseldorf. Hier ist das umgesetzt, was Helmut Lethen als Verhaltenslehren der Kälte bezeichnete. Ihr letztes relevantes Album war Electric Café, 1986 (bei der Wieder-VÖ als Techno Pop hinterhermotiviert). Im Rahmen ihrer Selbstkanonisierung führten sie die elektronischen Alben in der Kunstsammlung als historisch-kritische Werkausgabe auf. „12345678“ lautete diese Show, die vom MOMA übernommen und an die Tate Modern weitergereicht wurde. Mit der werkgetreuen Aufführung ist die Musealisierung der Popmusik  abgeschlossen.

Am Heimcomputer sitz’ ich hier und programmier’ die Zukunft mir.

Hinter einer 3D-Brille durfte sich das Publikum retrofuturistisch vergegenwärtigen, wie die Kraftwerker eine Zukunft erfunden haben, die niemals eingetreten ist. Und nun hält das das verbliebene Gründungsmitglied Ralf Hütter mit eisener Faust an ihr fest. Dabei übergeht er geflissentlich die ersten drei Alben Kraftwerk 1 + 2 sowie Ralf + Florian. Diese Frührwerke werden nicht mehr aufgeführt und dürfen auch nicht mehr als CD oder Schallplatte wiederveröffentlicht werden. KUNO erscheint der wenig souveräne Umgang mit eigenen Vergangenheit als kaum schlüssig – zumal dieser noch recherchierbar ist – weil das museale Konzept einer Werk-Retrospektive das eigene Werk in seiner Historizität doch erheblich ernster nehmen sollte.

Heute erscheint es ja so, als würde Kraftwerk nichts mehr mit der Schöpfung der Musik zu tun haben wollen. Aber die Schöpfung der Musik fand ja in der zweiten Hälfte der 70er-Jahre statt. Und die Autoren heißen eben Hütter, Schneider, Bartos, Schult.

In seiner Biografie rückt Karl Bartos seine Rolle bei dem kreativen Prozess ins rechte Licht. Er entlarvt Hütter und Schneider als Kinder, die aus einem großbürgerlichen Haushalt stammen und daher ihre „Mitarbeiter“ lediglich als Lakaien anerkennen. Evident ist, daß nach dem Aussteig von Barthos und Flür nichts weiteres an Substanz entanden ist. Tour de france ist ein lahmer Nachklapp auf den Locomotive Blues der schwarzen Musikgeschichte, aber Düsseldorf lag eben nicht am Mississippi, sondern mitten in der Wirtschaftswunderzeit der Bonner Republik und war in den 1970er Jahren sogar ihre heimliche Hauptstadt. Und unter dem Kopfsteinpflaster der Ratinger Straße lag glücklicherwiese kein Strand!

Auf der Platte „Die Mensch-Maschine“ von 1978 taucht übrigens noch der Name von Karl Bartos und seinem Kollegen Wolfgang Flür auf. Im Katalog der Wiederveröffentlichung der sogenanntem „Werkausgabe“ wurden diese Namen  getilgt.

Eine umfaßende Bestandsaufnahme nach mehr als 40 Jahren Mensch-Maschinen-Musik versucht ein Band mit Artikeln und Essays, mit befragbaren Ergebnissen. Man sollte zum Verständnis der Musik in der Zeit der Helmut Schmidt-Ära dazu Der Klang der Maschine von Karl Bartos und Kraftwerk – Die unautorisierte Biographie von David Buckley lesen. Oder vielleicht sollte man besser gleich ´Retrotopia` von Zygmunt Bauman greifen:

Visionen, die sich anders als ihre Vorläufer nicht mehr aus einer noch ausstehenden und deshalb inexistenten Zukunft speisen, sondern aus der verlorenen/geraubten/verwaisten, jedenfalls untoten Vergangenheit.

Zygmunt Bauman

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Mensch-Maschinen-Musik, Das Gesamtkunstwerk Kraftwerk, von Uwe Schütte (Hrsg.) C.W. Leske Verlag, Düsseldorf, 2018

In diesem Buch zu lesen: Ulrich Adelt, Max Dax, Heinrich Deisl, Alexander Harden, Ralf Hütter, Marcus S. Kleiner, Alexander Kluge, Alke Lorenzen, Stephen Mallinder, Didi ­Neidhart, Sean C. Nye, Melanie Schiller, Eckhard Schumacher, Uwe Schütte, Enno Stahl, Jost Uhrmacher, ­Johannes Ullmaier, Axel Winne, Olaf Zimmermann

Der Klang der Maschine von Karl Bartos, Eichborn Verlag 2017

Kraftwerk – Die unautorisierte Biographie von David Buckley, Metrolit, Berlin 2014,