Was ich fand, waren Ton, Steine, Scherben

Es gibt nur zwei Alben, auf denen sich gesungene Deutsche Popmusik nicht peinlich anhört, „Keine Macht für Niemand“ sowie „Monarchie und Altag“.

A.J. Weigoni

Ton Steine Scherben wurde 1970 in West-Berlin von R.P.S. Lanrue (bürgerlich Ralph Peter Steitz), Rio Reiser (bürgerlich Ralph Möbius), Kai Sichtermann und Wolfgang Seidel gegründet, die damals alle etwa 20 Jahre alt waren. Im Januar 1966 fragte R.P.S. Lanrue Rio Reiser, ob er in seiner Gruppe mitsingen wolle. Die Band hieß Beat Kings und coverte hauptsächlich Beatmusik. Noch im selben Jahr gründeten Reiser und Lanrue gemeinsam die Rockband De Galaxis, in der sie auch ab und an eigene Stücke spielten. 1967 folgte der Umzug von Nieder-Roden (Rodgau/Hessen) nach Berlin. Beim Theaterprojekt Hoffmanns Comic Teater (sic) in Berlin trafen die beiden auf Seidel und Sichtermann.

Der Bandname Ton Steine Scherben leitete sich laut Aussage Rio Reisers aus einem Zitat des Troja-Entdeckers Heinrich Schliemann ab: „Was ich fand, waren Ton, Steine, Scherben.“ In dem Buch Keine Macht für Niemand führt der Bassist Kai Sichtermann dagegen aus, dass sich der Name bei einem Brainstorming aus dem Namen „VEB Ton Steine Scherben“ entwickelt habe (assoziativ angelehnt an den Namen der westdeutschen Industriegewerkschaft Bau-Steine-Erden). Diese Version bestätigte später auch der ehemalige Schlagzeuger Wolfgang Seidel.

Die ersten zwei Lieder Macht kaputt, was euch kaputt macht und Wir streiken nahm die Band in einem kleinen Studio in Kreuzberg auf. Eine Single mit diesen beiden Stücken als A- und B-Seite war das erste Produkt der Band; verkauft wurden sie über Bootlegger. Den ersten Auftritt hatte die Band beim Love-and-Peace-Festival am 6. September 1970 auf Fehmarn, wo sie unter dem Namen Rote Steine auftrat – die Band war ursprünglich aus dem Projekt einer Lehrlingstheatergruppe, die eigentlich als Märchenbühne begonnen hatte, entstanden. Da die Veranstalter mit den Eintrittsgeldern das Gelände verließen, ohne die Musiker zu bezahlen, soll Reiser das Publikum dazu aufgefordert haben, den Veranstalter „ungespitzt in den Boden zu hauen“. Nach dem dritten Lied, Macht kaputt, was euch kaputt macht, zündeten Besucher das Organisationsbüro der Veranstaltung an. Nach dem fünften Song brannte die Bühne ab. Laut Reiser wurde die Brandstiftung zum Teil der Band zugeschrieben. Der Vorfall steigerte den Bekanntheitsgrad der Band enorm.

1971 gründete sie eines der ersten deutschen Independent-Labels, die David Volksmund Produktion. Zum einen wollte sie mit den eigenen Veröffentlichungen unabhängig von der etablierten Plattenindustrie sein, zum anderen war es aufgrund ihres radikalen Images unmöglich, einen Vertrag bei einem großen Label zu erhalten. Folge davon war ein geringer Profit aus den Plattenverkäufen, sodass die Band permanent finanzielle Probleme hatte.

Das erste Album Warum geht es mir so dreckig? erschien im September 1971. Neben Macht kaputt, was euch kaputt macht befinden sich darauf auch die später populären Lieder Ich will nicht werden, was mein Alter ist und Der Kampf geht weiter.

Am 8. Dezember 1971 besetzten Band und Publikum nach einem Auftritt an der Technischen Universität Berlin einen ungenutzten Gebäudeteil des Kreuzberger Bethanien-Krankenhauses. Da vier Tage vorher der militante Anarchist Georg von Rauch nach einem Schusswechsel mit der Polizei gestorben war, benannten die Besetzer das Wohnheim in Georg-von-Rauch-Haus um. Das Haus wurde erst am 19. April 1972 von der Polizei geräumt. Aus diesem Anlass schrieb Reiser den Rauch-Haus-Song.

Als in einigen Städten Deutschlands wegen Fahrpreiserhöhungen im Rahmen der Aktion Roter Punkt öffentliche Verkehrsmittel zum Teil boykottiert wurden und Protestaktionen gegen diese Verteuerung stattfanden, veröffentlichte die Band auf einer Single die Lieder Mensch Meier und Nulltarif, in denen sie zum Schwarzfahren aufrief.

1972 trennte sich Wolfgang Seidel von der Band. Er wandte sich der elektronischen Musik zu und arbeitete unter anderem mit Conrad Schnitzler und Klaus Freudigmann zusammen, half der Band aber auf Wunsch gelegentlich als Schlagzeuger und Keyboarder (unter dem Pseudonym Sequenza) live sowie im Studio aus. In den folgenden Jahren fanden zahlreiche weitere Mitgliederwechsel statt. Die Musiker wechselten teilweise mehrfach in einem Jahr; Kern der Band blieben Reiser, Lanrue und Sichtermann.

1974 trat die Band bei einem Konzert mit Rosa von Praunheim auf, der Rio Reiser immer wieder künstlerische Impulse gegeben hat. So regte von Praunheim unter anderem den persönlichen Stil des Albums Wenn die Nacht am tiefsten … (1975) an sowie die Besinnung der Band auf schwulenpolitische Themen.

Mit der Doppel-LP Wenn die Nacht am tiefsten … erfolgte auch eine Hinwendung zu melancholischeren Texten und ausgefeilteren musikalischen Arrangements, die Jazz-, Funk-, Folk- und Ethnorock-Elemente aufgriffen.

Zuvor hatten die Scherben West-Berlin verlassen und sich auf einem Bauernhof in Fresenhagen (Nordfriesland) niedergelassen. Der Umzug war eine Flucht vor dem Druck, bei jeder „Szene“-Aktion in Berlin die Protagonistenrolle übernehmen zu müssen. Von dieser Zeit an betätigte sich die Band weniger stark politisch.

Das Album IV von 1981 lässt sich musikalisch im Bereich eines unkonventionellen New-Wave-Stils einordnen. Reiser verwendete Wortspiele, in denen ein politischer Bezug nur indirekt erkennbar ist, etwa „Der Turm stürzt ein“ und „Jenseits von Eden“. Auf dieser Platte betätigten sich auch die anderen Bandmitglieder und Freunde der Band als Texter und Komponisten. Durch die Scherben-Biografie Keine Macht für Niemand wurde bekannt, dass die Lieder auf der Grundlage des Tarot entstanden sind. Die Platte war im Original auf sehr schlechtem Vinyl gepresst und daher klanglich unbefriedigend und bediente inhaltlich kaum die Erwartungen der Fans, so dass sie finanziell ein Flop wurde.

Trotz allem beeindruckte „Die Schwarze“, wie sie auch genannt wird, durch die Verschmelzung von Rock-, Jazz-, Klassik-Elementen sowie avantgardistischen Sound-Experimenten. Ferner zeichnen sich einige Lieder durch ungerade Rhythmen und erweiterte Harmonien aus.

Danach war, um mit einen Song zu enden, der Traum aus. Jeder Künstler, jede Künstlergruppe hat zehn gute Jahre. Die Scherben haben sie genutzt.

 

 

Weiterführend Früher als Peter Glaser hat niemand die Bedeutung von Peter Hein erkannt.

 Die Rheinmetropole war so etwas wie die heimliche Hauptstadt der alten BRD, im Bermuda-Dreieck zwischen der Uel, dem Einhorn und dem Ratinger Hof traf man auf geballte Zeitgeist-Kompetenz.

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