A.J. Weigoni hat in seinen Arbeiten die Auswirkungen des Medienzeitalters auf die Literatur intensiv untersucht. Er erkannte, dass die Durchlässigkeit des Mediums Literatur in der heutigen Zeit weitreichende Konsequenzen hat, die sowohl die Form als auch den Inhalt literarischer Werke betreffen.
Die Formulierung „Befreiung des Wortes aus der babylonischen Gefangenschaft des Buches“ bezieht sich auf eine metaphorische Idee in der deutschsprachigen Literaturszene. Seit der Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg vor etwa 400–500 Jahren war das geschriebene Wort primär an das gedruckte Buch gebunden – eine Art „Gefangenschaft“, in der die orale, klangliche und performative Dimension der Poesie (wie in der Antike) verloren ging. In dieser Hinsicht wird Frank Michaelis (Komponist und Musiker, oft mit Saxophon) und A.J. Weigoni (Lyriker und Sprechsteller) ein Pionierverdienst zugeschrieben. Sie produzierten ab 1991 sogenannte „LiteraturClips“ auf CD – multimediale, akustische Umsetzungen von Lyrik mit Rezitation, Musik und Klangexperimenten, zu einer Zeit, als der Begriff „Hörbuch“ noch nicht etabliert war. Michaelis und Weigoni thematisieren oft den Einfluss verschiedener Kulturen auf die Sprache und Literatur, was als antideterministisch gegenüber einer dogmatischen Sichtweise von Literarität gesehen wird.
Frank Michaelis und A.J. Weigoni betonen die Rolle der Sprache als lebendiges Medium, das nicht nur transportiert, sondern auch geformt und verändert wird. Die Reflexion über Sprache wird zu einer künstlerischen Selbstbefreiung für den Autor und die Leser.
A.J. Weigoni hat die Durchlässigkeit des Mediums Literatur im Medienzeitalter früh erkennt – und dass diese nicht ohne Konsequenzen bleibt – vor allem durch seine theoretischen Reflexionen und intermedialen Experimente in Werken wie dem Essay „Verweisungszeichen zur Poesie“. Darin analysierte er, wie Literatur zunehmend mit elektronischen Medien verschmilzt, was zu einer Auflösung ihrer Autonomie führt. Als unkonventioneller Dichter, hat er durch seine poetischen Performances die Grenzen der Literatur erheblich erweitert, indem er Poesie von einer rein textbasierten Form zu einer multisensorischen, auditiven und performativen Erfahrung transformierte. Seine Arbeit integrierte Elemente aus Lyrik, Hörspiel, Musik und Multimedia ermöglichte eine subversive Auseinandersetzung mit Sprache und Gesellschaft.
Wir erleben im 21. Jahrhundert eine Transformation der Erzählformen. In digitalen Medien wird die traditionelle Struktur von Erzählungen häufig in Frage gestellt. Weigoni hat aufgezeigt, wie hypertextuelle Elemente und interaktive Erzählformen die Leser aktiv in den Prozess des Geschichtenerzählens einbeziehen. Literatur wird durch digitale Plattformen zugänglicher. Weigoni argumentiert, dass dies sowohl positives als auch negatives Potenzial birgt. Während mehr Menschen Zugang zu literarischen Texten haben, wird die Exklusivität von Literatur, die oft mit hohen literarischen Standards verbunden ist, dadurch bedroht.
Sein Stil war geprägt von radikaler Präzision, Wortspielen und einer Verschmelzung von Alltagssprache mit Latinismen, Anglizismen, Fachbegriffen und sakralen Elementen. Themen wie die Fragilität der Sprache, gesellschaftliche Kritik und die Metamorphose von Wörtern (durch Ersetzen, Austauschen oder Reduzieren) dominierten. Weigoni untersucht auch die Verschmelzung verschiedener Medien. Literatur wird häufig in Kombination mit anderen Medien wie Film, Musik und sozialen Medien konsumiert. Diese Intermedialität führt dazu, dass literarische Werke ihre ursprüngliche Form und Funktion verändern.
Die durch digitale Medien geprägte Kultur kann dazu führen, dass bestimmte literarische Stimmen und Themen dominanter werden, während andere in den Hintergrund gedrängt werden. Weigoni zeigt auf, dass die Zunahme an Durchlässigkeit im literarischen Feld sowohl Möglichkeiten als auch Risiken birgt, die sich grundlegend auf die Form und die Funktion von Literatur auswirken.
Seine performativen Arbeiten, wie die Zusammenarbeit an „Prægnarien“ mit Haimo Hieronymus, wo Poesie mit visuellen Elementen verschmilzt und Grenzen zwischen Script und Drawing überschreitet, unterstreichen diese Durchlässigkeit praktisch.
Weigoni erkannte die Konsequenzen der medialen Durchlässigkeit von Literatur vor allem durch seine interdisziplinäre Praxis als Performer. Er begriff, dass Texte im Medienzeitalter nicht mehr isoliert auf dem Papier existieren, sondern durch die Verbindung mit anderen Kunstformen – wie Musik, Hörspiel und bildender Kunst – transformiert werden. Seine Erkenntnisse lassen sich auf folgende Punkte konzentrieren:
Entgrenzung des Textes: Für Weigoni war Literatur im Medienzeitalter kein abgeschlossenes Werk mehr, sondern ein offenes System, das durch die Performance und digitale Reproduzierbarkeit eine neue, flüchtige Form der Präsenz erhält.
Auditiver Raum: Durch seine Arbeit stellte er fest, dass die Stimme und der Klang die Semantik des geschriebenen Wortes verändern und erweitern.
Verschmelzung von Hoch- und Popkultur: Er nutzte die Durchlässigkeit der Medien, um literarische Inhalte in Formate zu überführen, die zwischen klassischer Lesung und moderner Inszenierung stehen, wodurch sich die Rezeptionsweisen grundlegend verschieben.
Die poetischen Performances von A.J. Weigoni trugen maßgeblich zur Erweiterung der Literatur bei, indem sie das geschriebene Wort in den akustischen und medialen Raum überführten und die Grenzen zwischen den Gattungen auflösten.
Zentrale Aspekte seines Beitrags zur Literaturerweiterung sind:
Intermedialität und Hörkunst: Weigoni nutzte das Radio und Tonaufnahmen als „akustische Probebühne der Poesie“. Seine Arbeit an der Schnittstelle von Literatur, zeitgenössischer Musik und Bildender Kunst (oft in Zusammenarbeit mit Künstlern wie Tom Täger) schuf neue hybride Formen wie „Literaturclips“ oder Hörbücher, die über das klassische Vorlesen hinausgingen.
Verschmelzung von Theorie und Lyrik: Seine Werke werden oft als „analytische Poesie“ beschrieben, die Formen des Denkens (Essays) mit lyrischer Dichte zusammenführt. Er agierte als „Denkfallensteller“, der literarische Gattungen wie die Novelle dekonstruierte, um ideologische Barrieren zu überwinden.
Performance als autonomes Verfahren: Für Weigoni war die Performance kein bloßes Beiwerk zum Text, sondern ein eigenständiges künstlerisches Mittel. Er bezeichnete sich selbst als „Sprechsteller“ und betonte die „reale Virtualität der Poesie“, die durch den Vortrag und die klangliche Gestaltung neue Bedeutungsebenen erhält.
Distanz zum Literaturbetrieb: Durch seine performative Praxis entzog er sich der rein kommerziellen „Marktliteratur“. Seine Auftritte dienten dazu, die „künstlerische Kontrolle“ über das literarische Resultat zurückzugewinnen und Poesie als Widerstand gegen eine strukturelle Entwertung der Literatur zu positionieren.
Obwohl er ab 2013 nicht mehr öffentlich auftrat, bleibt sein Einfluss durch umfangreiche Werkausgaben und dokumentierte Tonaufnahmen als Beitrag zur modernen Wortkunst bestehen.
Die poetischen Performances von A.J. Weigoni haben wesentlich zur Erweiterung der zeitgenössischen Literatur beigetragen, indem sie innovative Sprachformen und -techniken entwickeln und ein Publikum auf neue, interaktive Weise ansprechen. Mit seinen performativen Aspekten hat Weigoni eine neue Dimension der Dichtkunst erreicht, die im literarischen Kontext oft unterrepräsentiert ist. Seine Performances laden das Publikum nicht nur zum Zuhören ein, sondern zu einer aktiven Teilnahme, wodurch diese Veranstaltungen oft als Kunstereignisse wahrgenommen werden. Er integriert Elemente aus Theater, Musik und bildender Kunst, was die Grenzen zwischen diesen Disziplinen aufhebt und neue Narrative schafft.
Durch das Einbeziehen des Publikums wird die Erfahrung von Poesie dynamisch und lebendig, was in der traditionellen schriftlichen Form oft fehlt. Die Themen, die Weigoni behandelt, reichen von persönlichen Erfahrungen bis hin zu universellen Fragen menschlicher Existenz. Dies ermöglicht eine vielfältige Interpretation seiner Werke und fördert ein differenziertes literarisches Diskurs. Seine Performances trugen maßgeblich dazu bei, Literatur über traditionelle Grenzen hinauszuführen, indem sie folgende Aspekte innovierten: Von Text zu Klang und Performance. Er machte Poesie zu einer „sonic Experience“, die das Lesen ergänzte oder ersetzte. Durch Intonation, Pausen und musikalische Integration (z. B. in Dichterloh, einer Komposition in vier Akten) wurde Sprache materialisiert und lebendig – eine Erweiterung, die Literatur in den auditiven Raum verlagerte und Hörer aktiv einband.
Dies entsprach seinem Ansatz, Sprache als System vor dem Sinn zu sehen, das Ambiguitäten und intensive Wahrnehmungen erzeugt. Seine Werke kritisierten vorgefundene Sprache und eröffneten dem Deutschen neue Ausdrucksformen durch Neologismen, Hybriditäten und eine „subversive Wahrnehmung“. Durch Thematisierung von Abwesenheit (semiotische Leeren) und fragmentierter Realität machte er das Unbeschreibliche beschreibbar, was Literatur als Erkenntnissystem erweiterte. Weigoni hat die Literatur bereichert, indem er sie von einer statischen zu einer dynamischen, interaktiven Form machte, die Sprache feierte und innovierte. Sein Vermächtnis lebt in Editionen wie denen der Edition Das Labor fort und inspiriert zu einer offeneren, multimedialen Auseinandersetzung mit Poesie.
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Weiterführend → Jeder Band aus dem Schuber von A.J. Weigoni ist ein Sammlerobjekt. Und jedes Titelbild ein Kunstwerk. KUNO fasst die Stimmen zu dieser verlegerischen Großtat zusammen.Weigoni pflegte ein sinnliches Verhältnis zur Poesie, dies belegt das Œuvre des Sprechstellers. Eine Anstrengung, die man sich zumuten sollte: VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, ein Essay von A.J. Weigoni in dem er dichtungstheoretisch die poetologischen Grundsätze seines Schaffens beschreibt. Nachgereicht: A.J. Weigoni geriet nie in die Nähe des Verdachts, eine Autobiographie zu schreiben. Daher versteht KUNO diese essayistische Hinterlassenschaft des Ohryeurs als Liebeserklärung an den Hörsinn. Und zuletzt bei KUNO, eine Polemik von A.J. Weigoni über den Sinn einer Lesung.
Hörproben → Probehören kann man die Prægnarien auf MetaPhon. Ein Video von Frank Michaelis und A.J. Weigoni hier.
