Befreiung des Wortes aus der babylonischen Gefangenschaft des Buches

Beinahe verschwörerisch rezitiert A.J. Weigoni die Texte dieser Blätter. Frank Michaelis bläst mittendrin ein Saxophon, dessen bewußt blecherne Schwüle leicht eine ganze New Yorker U–Bahn–Station unterhalten könnte.

(Mainzer Rhein–Zeitung)

the vera strange tapes

In der Landeshauptstadt NRWs der ausgehenden 1970er und frühern 1980er Jahre betrieben A. J. Weigoni und Frank Michaelis im Kunstakademie-Umfeld mit der Literatur eine multimediale Hörspielerei zwischen Performance, Theater und Lesung, dokumentiert durch die Kassette the vera strange tapes. Als künstlerische Grenzgänger betrieben Weigoni und Michaelis mit der Literatur, in einem hocharbeitsteiligen Virtuosentum mit den Schauspielern Marion Haberstroh und Kai Mönnich, eine multimediale Hörspielerei zwischen Performance, Theater und Lesung, und setzen Elemente der Minimalmusik ebenso ein, wie die des Jazz. Diese Artisten schätzen Experimente mit akustischen und elektronischen Klängen, sie haben ein Faible für die freiere Rhythmik von Regungen und Bewegungen, die Verbindung von Melodie und Experiment, die Offenheit und das In-der-Schwebe-Halten von Stücken; das Ausbrechen aus vermeintlich vorhersehbaren Strukturen, eine Bricolage aus Pop-Klischees und Erwartungen. Synthese und Synästhesie liegen offensichtlich nicht nur lautlich nah beieinander, die Erfindung der Aufnahmetechnik wird von ihnen als ein Moment der Befreiung gedeutet.

Den Performern kommt damit das Verdienst zu, die Lyrik nach 400 Jahren babylonischer Gefangenschaft aus dem Buch befreit zu haben.

Schland-DvD-Version

Exemplarisch läßt sich ihre erste große Arbeit in Cooperation mit Peter Meilchens Arbeit an einem Multimediaprojekt verdeutlichen. Schland ist der Versuch, den Blick gleichsam zu konservieren und mit der Kraft der Vergewisserung die Seele des Augenblicks festzuhalten. Photografie ist für Meilchen kein Ablichten oder Ausschneiden von Realität. Nicht Imitation von Wirklichkeit strebt der Künstler aus, sondern meine Interpretation von ihr. Diese multimediale Arbeit beschreibt einen akustischen Raum in einem räumlichen Behältnis, dem „neuen“ DeutSchland, einem fiktiven Staat, tiefste Provinz. Schland folgt dem poetischen Kernsatz:

Nur die Fiktion ist noch wirklich, weil die Wirklichkeit durch mannigfaltige Wahrheiten verunstaltet wurde.

Zur Ausstellungseröffnung am 13.12.1992 wurde der Super-8-Film Schland mit einem Ohr-Ratorium von A.J. Weigoni uraufgeführt. Von Frank Michaelis stammt die Komposition, er spielte Saxophon und wurde von Marion Haberstroh und Kai Mönnich begleitet.

Am 21. Mai 1993 wurde das Live-Hörspiel „5 oder die Elemente“ mit Marion Haberstroh und Kai Mönnich, in der Regie von Ioona Rauschan im Gutenberg-Museum zu Mainz uraufgeführt

Mit Live-Hörspiel verbindet man immer noch Orson Welles CBS-Live-Thriller Krieg der Welten. Die Ansprüche an das heutige Hörspiel schienen lange Zeit unabhängig vom Genre in Anspruch und Produktionsweise kaum mehr für den Live-Auftritt geeignet. Dennoch gibt es einen Gegentrend: Qualität in Wort und Regie zeigte die Uraufführung im Gutenbergmuseum zu Mainz, ein Hörspiel, das sich Gedanken macht über die veränderten Wahrnehmungen durch eine von Medien dominierte Welt.

Ein Blick in die Zukunft, rekonstruiert aus Fragmenten der Vergangenheit. Sprache als Material, als musikalische Vorlage für eine Stimmenfuge. Kai Mönnich und Marion Haberstroh begeben sich auf einem akustischen Spaziergang am Meer. Nicht an irgendeinem Meer, am Strand von Panthalassa, dem sagenumwobenen Ur-Ozean, der den Urkontinent Pangäa vor dem Kontinetaldrift umspülte… Als „Strandgut“ sammeln Kai Mönnich und Marion Haberstroh die Hinterlassenschaft der Menschheit ein. Ihr Erzählen ist eine Form der Erkenntnis im Wiedererkennen, diese Form gleicht einem Stein, der im Wasser versinkt und Kreise zieht… Einst schöpften Götter und Menschen ihr Wissen aus dem Wasser. Sie empfingen es aus Mnemosynes Schoss und gaben es als Oral-History weiter. Erst als Prometheus den Menschen die Kunst des Schreibens brachte, verliess das Gedächtnis das Wasser und ging an Land… An der Küste von Panthalassa treffen Kai Mönnich und Marion Haberstroh auf die Elemente und erzählen vom dauernden Vergehen durch das Entstehen. Beim Element Wasser wird die Sprachfindung thematisiert. Beim Element Erde ist der Vulkanausbruch ist auch ein körperlicher Ausbruch: Emotionen. Die Sprachwerdung beim Element Feuer trifft auf unterschiedliche Energieströme, auf Widersprüche, die sich im Element Luft in Poesie auflösen. Der Kreis hat sich geschlossen, das Ende ist der Anfang. Die negative Utopie kippt um.

Kai Mönnich, A.J. Weigoni, Marion Haberstroh, Frank Michaelis. Photo: Anja Roth

Das Live-Hör-Spiel „5 oder die Elemente“ verdankt seine Wirkung vor allem den darstellerischen Fähigkeiten von Kai Mönnich und Marion Haberstroh, die sowohl exzellente Sprecher, als auch äußerst wandlungsfähige Schauspieler sind. Bravourös meistern sie die Klippen der komplexen Textcollage, verschmelzen philosophische Reflexionen, Streitgespräche und lyrische Passagen zu einer Einheit, die das Publikum bald in ihren Bann zieht. Eine Rolle leben und erleben ist für Kai Mönnich das Ziel seines Schaffens. Unprätentiös, aus der emotionalen Welt agierend und der Spur der inneren Logik seiner Figuren nachfolgend, landet Kai Mönnich in den Herzen der Zuschauer.

Señora Nada ist ein lyrisches Monodram über das Überwinden von Trauma und Schmerz durch Erkenntnis dank des Eindringens in die unoffenbarte Zwischenwelt. Die Welt zwischen Haben und Sein, zwischen Bestimmung und Freiheit, zwischen Jetzt und Immer.
Ioona Rauschan

Señora Nada. In der Hörspielfassung wird sie dargestellt von Marina Rother.

Señora Nada präsentiert ein schwankendes Daseinsgefühl. Hier geht es um die Krankheiten der Epoche, um Entfremdung, Auraverlust der Kunst und die metaphysischen Konsequenzen, die für den transzendental Obdachlosen aus der Entzauberung der Welt entstanden sind. Dieses Monodram zeigt sich lyrisch hermetisch und auf engstem Raum labyrinthisch, die dahinsurrenden Zeilen sind raffiniert und lapidar zugleich, Stimmungsbilder aus dem Innersten einer äußerst ungesicherten Existenz. Wie im Mondlicht die Dinge eine quecksilbrig harte und zugleich diffus changierende Kontur annehmen, von der einen in die andere Gestalt wechseln, somit der Einbildungskraft doppelt ausgeliefert scheinen, erweist sich Señora Nada als somnambul und luzide zugleich. Eine nächtlich phosphoreszierende Welt, Wachtraum und Traumerwachen, die sich nur in ganz wenigen Augenblicken versöhnlich entspannt. Dieses Monodram bietet Momentaufnahmen einer beängstigend sinnlichen Metaphysik des Schwebens, einer gegenständlichen Bodenlosigkeit gleitender, entgleitender Bezugspunkte, einer sich verschränkenden inneren und äußeren Welt. Es ist beides enthalten und gleichfalls bestimmend: Form und Formsprengung, bezogen auf die allgemeine Geschichte der Gattung Langgedicht, und besonders auf die individuelle.

 

 

***

Photo: Thomas Suder

Weiterführend →

Ein Kollegengespräch mit Ioona Rauschan findet sich hier. Das Live-Hörspiel 5 oder die Elemente wurde in der Regie von Ioona Rauschan mit Marion Haberstroh und Kai Mönnich im Gutenberg-Museum zu Mainz uraufgeführt. Probehören kann man das Monodram Señora Nada (Regie Ioona Rauschan) in der Reihe MetaPhon. Das Hörbuch Gedichte mit einer Klangkomposition von Tom Täger auf CD erhältlich.