Kurze Prosa, lange Nachwirkung

 

Mit dem Erscheinen der Vignetten ging das Projekt Labor im Jahr 2009 in ein Label über. Wie alle Rebellen braucht auch A.J. Weigoni keinen Grund, er überschreibt in einer Art von Trauerarbeit eine Literaturgattung neu und praktiziert damit mehr als das sogenannte kreative Schreiben, diese Novelle ist – wenn man dem Nachwort von Enrik Lauer folgt ein Sich-Einschreiben in die Welt.

Schreibstab auf dem Cover von: Peter Meilchen

Es ist schwierig über die Poesie von Weigoni zu sprechen, ohne dabei auch sein Konzept von Raum und Ort zu thematisieren. Zu präsent sind sie als übergeordnete Topoi in seinem Werk, und das bereits von Beginn an. Der Rhein ist sein lebenslanger Bezugspunkt, der sich durch sein Werk mäandert. In den Vignetten stellt Weigoni mit der Poesie die Wellenbewegungen des Rheins denen des Nils gegenüber, und übersetzt sie in Wellenbewegungen des Lichts und der Gedanken. Wie auch bei seinen anderen Prosa-Projekten pflegt Weigoni die Form der Langzeitbeobachtung.

Jeder Text ist immer kulturell verankert, meist sogar mehrfach. In den Vignetten wird alles Spätere präfiguriert, es blitzt die Kunst der Verknappung und die Wucht der schmerzhaft präzisen Sätze auf, und schließlich setzt sich aus den Einzelteilen eine konkrete Geschichte zusammen. Diese Novelle erhält sich das prekäre Gleichgewicht aus Schönheit, Spannung und Melancholie bis zum Schluß.

Es geht diesem Poeten um theoretisch-philosophische Fragestellungen, historische Schwerpunkte und Formen medialen Transfers in den Bereichen Neue Medien und Intermedialität. Weigonis Kunst dient sich nicht als bildungsbürgerlicher Konsumartikel an, er stürzt sich ebensowenig in den Mainstream, weil dort die Nuance, um die es ihm geht, systembedingt sofort weggeschliffen wird. Es ist ein Brückenschlag zwischen der Poesie und den einzelnen kulturen Disziplinen (Kunstgeschichte, Philosophie, Musik) und leistet damit einen Beitrag zur Entwicklung einer Kulturtransferforschung, welche der besonderen Rolle der Übersetzungen bei der Überschreitung kultureller Grenzen gerecht zu werden vermag. Seine Bücher erscheinen in einer handsignierten und limitierten Auflage.

Informationelle Selbstbestimmung

Covermontage: Jesko Hagen

Alles was wir sind, ist ein Resultat dessen, was wir gedacht haben. Eigentlich ist virtuelle Realität nichts anderes als der Versuch, diese alte Weisheit in Praxis umzusetzen, statt sie an die Wand zu pinnen. Die Literatur ist körperlos und A.J. Weigoni tut sein Möglichstes, um diesen Prozess der Ablösung von der Materie zu befördern. Diese Kältetendenz rührt vom Eindringen der Physik in die moralische Idee. Auch wenn den Lesern die Inhalte vielleicht nicht immer gefallen, weil sie nicht gefällig sind, sondern die Realität hinter der Maske von Schein zeigen, das Scheinbare zum offensichtlichen Phantom degradieren, schätze ich Weigonis literarische Qualität. Ein Wort zu einem anderen zu fügen und dabei beide gegenseitig sich hinterfragen zu lassen, stetig zu hinterfragen, das vermögen nicht viele. Auch wenn es manchmal anstrengend ist, diese Prosa zu lesen. Die Ästhetik der Kunst besteht nur vordergründig in Vordergründigem, erst wer zum Hintergrund gelangt und die Beziehungen der verschiedenen Schichten und Verwerfungen zu erkennen vermag, wird zur wahren Schönheit gelangen.

Weigonis Interesse gilt der Erforschung des Unbewußten der Gegenwart, den unausgesprochenen Ängste und heimlichen Begierden; und der Rolle, die deren Reflexion und Analyse in diesem Unbewussten spielt. So lassen sich seine Novellen auf einer Achse zwischen den Polen Gewalt und Erkenntnis verorten. Sein zentrales Thema ist die Vertechnisierung der Sinne und die Versinnlichung der Technik. Dabei betreibt er eine Aufklärung gegen die Technikgläubigkeit. Eines der wesentlichen Merkmale seiner Prosa ist ein dekonstruktivistischer Ansatz, der im Zerlegen und neuen Zusammensetzen kultureller Erscheinungen besteht. Für ihn ist jedes Buch ein Ort, den er mit seiner Sprache durchwandert. Das Lesen seiner Prosa ist weniger ein Akt des Verstehens und Dechiffrierens als so etwas wie Versenkung und Kontemplation. Diese Prosa ist geprägt von einem erkennbaren Rhythmus und einem hohen Grad an Sprachreflexion. Im beziehungsreichen Metaphernspiel nährt Weigoni zwar den Anschein, die zwischenmenschliche Verständigung mithilfe der Sprache hätte ihren Sinn verloren, zugleich aber reduziert er den allmächtigen Wörterschwall der herrschenden Poesie auf ein Minimum. Er glaubt bei allem schwarzen Pessimismus an die Unverfügbarkeit der Seele, die kein Zwangseingriff zum Schweigen bringen kann und nähert sich den Trivialmythen aus der Perspektive des Connaisseurs, beutet den popkulturellen Rohstoff aus, beschwört den anarchistischen Geist des Rock’n’Roll und verhandelt seine Lebensthemen: Anderssein und Ausbruch, Repression und Libertinage, Rausch und Sexualität.

In Zeiten des kulturellen Allesfressertums und dem Verschwimmen der Grenzen von High und Low Culture läßt sich über ästhetische Präferenzen kein Dinstinktionsgewinn mehr einfahren. Weigoni bringt die spielerische Dramaturgie eines postmodernen Patchwork-Romans und die psychologische Tiefe eines realistischen Gesellschafts-Epos, die Entwicklung der Musikindustrie von der Hippie-Kultur der sechziger Jahre bis in eine von Gadget-versessenen Kleinkindern regierte Zukunft sowie zig verschiedene Charaktere, Generationen und Genres in einem überaus originellen und temporeich erzählten Buch zusammen. Cyberspasz, a real virtuality ist eine Comédie humaine der Gegenwart. Die Figuren von Weigoni stecken in metaphysischen Schicksalshorizonten.

Eine Parodie auf die unschöne Gutmenschenwelt

Coverphoto: Anja Roth

Diese Zombies sind Fiktion, dabei ist kaum etwas  erfunden. Die von A.J. Weigoni als ‚hypermoderne Menschen‘ beschriebenen Typen erleben eine Zergliederung und Fragmentierung des Abgebildeten, Veränderungen und Verstümmelungen des eigenen Körpers, sie sind das ästhetische Untersuchungsprogramm. Weigoni geht den immensen Brüchen in der sozialen Tektonik nach, ohne in ein ohnmächtiges Lamento zu verfallen. Statt die triste Realität der Abgehängten einfach nur abzubilden oder triviale Welterlösungsmanifeste zu verfassen, trifft in diesen Erzählungen das Arkanum auf das Alltägliche, das Offensichtliche wird durch Symbolische entlarvt. Vorbei die Zeit, da Literatur die grossen Schlachten der Gesellschaft austragen muss.

Die Toten warten auf der Gegenschräge. Manchmal halten sie eine Hand ins Licht. Als lebten sie. Bis sie sich ganz zurückziehen in ihr gewohntes Dunkel das uns leuchtet.

Fjodor Gladkow

Weigonis Polaroids der Schattenseiten der Gesellschaft sind bestechend scharf. Als Erforscher von Trivialmythen sind dabei die Bruchstellen für Weigoni von besonderem Interesse, er überprüft mit dieser Poesie, was es mit der körperlichen Verdinglichung des 21. Jahrhunderts auf sich hat. Diese Erzählungen stehen im selben gesellschaftlichen Kontext mit dem chorischen Zusammenschluss vieler Körper, der Massenidentität. Das realistische Erzählen wird zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu einer Form des Widerstands.

Das realistische Erzählen wird zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu einer Form des Widerstands

Dieser Romancier verändert Variablen und macht damit die Grenze zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit durchscheinender, er transformiert das Kommensurable, den Abfall, den Lärm und die schlechte Luft der Metropole, in das Inkommensurable, den Sumpf einer verkommenen Gesellschaft. Die soziale Welt, wie Menschen sie in dieser Frivolitätsepoche erleben, entspricht selten ihren Wünschen, aber es liegt im Bereich der menschlichen Kraft, sie diesen Wünschen entsprechender zu machen. So manches, was hier erzählt wird, kann nie im Leben so gewesen sein. Aber diese Zombies bringen uns das Leben näher, als dieses es selbst kann. Weigoni setzt sich über die Wirklichkeit hinweg, um der Wahrheit näher zu kommen. Je unglaubwürdiger es wird, desto glaubwürdiger wird diese Literatur.

Weigoni handhabt das Wort bei Bedarf so kühl wie der Anatom sein Skalpell.

Enrik Lauer

Dieser Romancier erzählt er von der existenziellen Einsamkeit des Menschen, von Gottlosigkeit, davon, wie sich Zivilisation und Natur feindlich gegenüberstehen. Der Erzählband Zombies ist großartige Fiktion – dabei ist kaum etwas davon frei erfunden. Die von ihm als hypermoderne Menschen beschriebenen Kreaturen erleben eine Zergliederung und Fragmentierung des Abgebildeten, Veränderungen, ja Verstümmelungen des eigenen Körpers sie sind das ästhetische Untersuchungsprogramm. Von besonderem Interesse für Weigoni sind dabei die Bruchstellen, als wolle er penibel prüfen, was es mit der körperlichen Verdinglichung des 21. Jahrhunderts auf sich hat. Diese Erzählungen stehen im selben gesellschaftlichen Kontext mit dem chorischen Zusammenschluss vieler Körper, der Massenidentität: Das satirische Erzählen wird zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu einer Form des Widerstands. Dem abgesicherten Literaturbetrieb wäre eine Rückkehr dieser wütenden Drastik zu wünschen.

Sind diese Zombies paranoid in einer überangepassten Welt, oder sind sie die einzig Vernünftigen in einer durch und durch paranoiden Welt?

Die Bedeutung des Erzählens kann hier als Kompensation von Modernisierungsschäden erkannt werden. Die Erzählungen haben einen formal innovativen Ansatz, man erkennt die Figuren unmittelbar an ihrer unverwechselbaren Sprache, die so brennscharf die Realität abbildet und den Lesern neue Wahrnehmungsmöglichkeiten verschafft. In diesem Werk herrscht ein großes Gedränge der Untoten, Weigoni exorziert damit seine Zeitgenossen. Er hat die „hypermodernen Menschen“ ganz kühl literarischen Versuchsanordnungen ausgesetzt, doch tat er dies, weil er Anteil nahm am Schicksal der Menschen. Zu heilsamen Remystifikation der modernen Welt würde der Einbruch von Zeichen nicht reichen, bei aller Präzision, bei aller Raffinesse und technischen Virtuosität verfügen Weigonis Menschenerkundungen über ein hohes Maß an Empathiefähigkeit. Die Figuren sind nicht bloße Versuchsobjekte; sie sind Menschen, und sie kommen uns auch als solche immer wieder entgegen, treten aus dem Konstruktionsgefüge heraus. Diese Literatur öffnet den Blick für das nie Gesehene, nie Gedachte, so wie Kleist über den Mönch am Meer bemerkte, es sei, wenn man das Bild betrachte, als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären.

Das kapitalistische System bringt sich selbst um, es ist wie ein Zombie: In gewisser Weise ist es tot. Es läuft noch umher, weil wir keine Vorstellung haben, was wir anders machen könnten.

David Graeber

Diese Erzählungen sind vergnüglich zu lesende Etüden in Sarkasmus, allesamt dazu geeignet, die Zumutungen der Wirklichkeit zur Kenntlichkeit zu entstellen. Weigonis Zombies sind ein Meisterstück der Disproportion, keine leichte Kost, er beschreibt die Menschen, aber bewertet sie nicht. Nichts passt hier zueinander, man rätselt die ganze Zeit, wie diese heillos überdrehten Irren eigentlich zusammengefunden haben. Der Langsamschreiber Weigoni arbeitet seit mehr als drei Jahrzehnten unter dem Radar des Mainstream, er hofft, sich dem Wesenskern einer Sache immer weiter anzunähern, zu präzisieren, zu verbessern. Das gilt besonders für die Zombies. Diese Erzählungen sind ein Gewebe, in das Bestandteile erfahrener Realität eingewoben sind, damit überwindet dieser antikonformistische Manierist die spielerische Postmoderne und setzt sich mit realen Gesellschaftsproblemen auseinander, ohne bei der teilnehmenden Beobachtung der Entwertungsgeschwindigkeit auf Ironie zu verzichten. Weigoni weicht der gelebten Wirklichkeit nicht aus, er versteht es, aus den vielen Ungereimtheiten, die er im Alltag vorfanden, eine Poesie zu machen, die durch ihren Bildcharakter vorführen, daß die Widersprüche den Sachverhalten oft immanent sind, sich gegenseitig bedingen, und in der Literatur nicht ausschließlich mit dialektischer Eleganz darstellen lassen, es sei denn, man nimmt in Kauf, daß die Wahr­haftig­keit, mit der sie im Leben vorkommen, gänzlich zur Auslöschung gebracht wird

Gesellschaftskritische Erzählungen mit einer fazinierenden, reduzierten Sprache.

Nico Schoffer, Twitter

Die Sätze werden kürzer, die Beobachtungen genauer. Weigoni begreift Schreiben als Attacke auf die Konsenskultur, auf die Toleranzhölle des Westens. Bei den Motiven seiner Figuren verschmelzen Perversion und Normalität mit der vor allem das männliche Geschlecht begleitenden ewigen Trinität von Gewalt, Sex und Suff; mit hilfloser Empathie und gerechtem Zorn, der nur selten fruchtet. Seine Lieblingsfeinde sind die sogenannten 68-er, ein grandioses Exempel dafür, wie progressive gesellschaftliche Utopien, sobald sich ihre Realisierung als Chimäre erweist, in rigide autoritäre Systeme umschlagen und ihre Verfechter zu Handlangern totalitärer Regime werden können. Dieser Romancier pflegt einen Stil, der Imagination mit Sachlichkeit, Kälte mit Empathie, Realismus mit Parodie, Reflexion mit Narration, Komik mit Utopie, Ironie mit Verzweiflung, Wahnsinn mit Trauer verbindet.

 

 

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Vignetten, Novelle von A.J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2009 – Limitierte und handsignierte Ausgabe als Hardcover.

A. J. Weigoni, Zombies, Erzählungen, Edition Das La­bor, Mülheim an der Ruhr 2010.

Cyberspasz, a real virtuality, Novellen von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2012.

Alle Exemplare des Prosa-Werks sind handsigniert und limitiert in einem Schuber aus schwarzer Kofferhartpappe erhältlich. Es ist ein Akt der Werkoffenbarung. Darin enthalten sind die Novelle Vignetten, die Erzählungen Zombies, der Novellen-Band Cyberspasz, a real virtualityDer erste Roman Abgeschlossenes Sammelgebiet und der „Heimatroman“ Lokalhelden.

Und nur in diesem Schuber enthalten sind das Hörbuch 630, sowie Weigonis Gebrauchsprosa Vorlass, in dem biographische, werkgenetische und poetologische Fragen beantwortet werden.