Der Assistenzarzt

 

»Ich schmeiss den Job«, nuschelt Willbert Neumann undeutlich vor sich hin. Zuckt zusammen. Wacht von einem Alb durchgeschüttelt schweissgebadet neben Noëmi auf. Reibt sich die Hautausdünstungen von der Stirn. Sieht sich aufgewühlt um. Das Moment der Wahrheit scheint als Erinnerung durch.

»Was ist los?!? … Aufstehen?«, murmelt sie. Richtet sich auf. Reibt sich die Augen und dreht sich blinzelnd zu ihrem Mann herum. Willi sitzt am Bettrand. Er kneift dabei die Augen zusammen und schaut in die Nacht, als müsse er einen schwer entzifferbaren Text lesen.

»Frag‘ mich, ob meine Mutter noch zu retten gewesen ist«, murmelt er halblaut vor sich hin. Sie hört den Rauch unzähliger Zigaretten, der sich auf die Stimmbänder gelegt hat. Er greift nach den Glimmstängeln auf dem Nachttisch. Schlägt eine aus dem Päckchen. Zögert mit dem Anzünden. Steckt sie hinter das Ohr. Steht auf.

»Vielleicht hätte ich sie nach Mexiko fliegen lassen sollen…«, wirft er sich vor. Schleicht pantherhaft durch den Raum. Stellt sich ans Fenster. Öffnet es. Lehnt sich heraus. Reckt die Arme auf und nieder, atmet die kühle Nachtluft ein und versucht, klar im Kopf zu werden.

»Sie hatte Alzheimer, hast du das vergessen?«

»…da gibt es Behandlungsmethoden. Nein, ich hätte…«, bricht er ab. Willi zögert mit der Spekulation. „Eine Transplantation ist die Verpflanzung eines gesunden Organs auf einen anderen Menschen als Ersatz für dessen geschädigtes Organ. Das Ziel der Verpflanzung ist, die Funktion des geschädigten Organs wieder herzustellen“, geht es ihm durch den Kopf. Willi zündet sich die Zigarette an. Bläst den Rauch in die Nacht hinaus. »…mit einer Hirnstransplantation…«, versucht er medizinische mit menschlichen Unwägbarkeiten aufzurechnen.

Willbert und Noëmi Neumann leben seit 7 1/2 Monaten zusammen. Sie haben sich auf dem Betriebsausflug des Marienhospitals unsterblich ineinander verliebt und sich zwei Wochen später kamikazegleich in das Eheleben gestürzt. Edelgard, seine Mutter, starb vor 26 Tagen. Seitdem schlafwandelt Willi. Noëmi hat sich inzwischen auf diese Wanderungen vorbereitet. Seitdem man den Zeitpunkt des Todes in Frage stellen kann, hat der tote Körper für sie nichts Beängstigendes mehr. Sein Anblick verhilft ihr zur nötigen Reflexion über Gesundheit, Krankheit, das Sterben und den Tod. Leichen führen Noëmi die eigene Verletzlichkeit eindringlich vor Augen, gleichzeitig öffnen sie ihr die Sinne für die Natürlichkeit und wundersame Komplexität des Organismus. Nun sieht sie den Moment gekommen und gibt ihr Wissen weiter:

»Die Hirntoddefinition ist eben ins Gerede gekommen. 1967 wurde zum ersten Mal ein menschliches Herz transplantiert. Ein Jahr später bestimmt die Ethikkommission, dass der Mensch tot ist, wenn alle Funktionen seines Gehirns vollständig und unwiderruflich erloschen sind, seitdem kann man Organe transplantieren. Der Ausfall der gesamten Hirnfunktion signalisiert das Ende des Organismus in seiner funktionalen Ganzheit«, rezitiert sie etwas hölzern aus einem imaginären medizinischen Wörterbuch. Man nimmt an, dass auf dem OP–Tisch ein seelenloser Leib liegt. Eine durchblutete Organkonserve.

»Es gibt Hirntote, Herztote, Ganzhirntote, Teilhirntote, NHB–Kadaver…«

»Was bedeutet das?«, erkundigt sich Noëmi, weil sie die Abkürzung noch nicht gehört hat.

»Non–Heart–Beating–Kadaver. – Seit Todkranke künstlich beatmet werden können, kann jedes Organ einzeln sterben. Der Tod als Fortsetzungsgeschichte. Das ist moderner Kannibalismus«, schnoddert er dahin. Bei ihm regen sich Zweifel. „Warum…“, so fragt er sich abermals, „wird ein Patient in Narkose versetzt, wenn er doch tot ist? Warum hält der Anästhesist die lebenswichtigen Funktionen aufrecht, wenn der Hirntote nicht mehr lebt?“, seit Wochen gehen ihm diese Fragen nicht mehr aus dem Kopf. Die Ökonomisierung der Medizin ist das Grundübel im Gesundheitswesen, so scheint es ihm von Tag zu Tage immer klarer zu werden. Sanatorien verwandeln sich zu Etatposten, deren Kunden in betriebswirtschaftliche Kosten. Die Kardiologen stellen den Krankenkassen mit Rabatt eingekaufte Herzkatheter überteuert in Rechnung, warum soll es anders als anderswo sein?

Willi schnippt die Zigarette aus dem Fenster. Geht in die Küche. Klappt den Kühlschrank auf. Nimmt den Whisky aus der Seitentasche und die Eiswürfel aus dem Fach. Mixt sich mit wenig Soda einen starken Drink.

»Hirntote sind tot, das ist wissenschaftlich erwiesen. Allmählich glaube ich, dass die Ärzte…«

»Du bist doch selber einer«, stellt Noëmi verwundert fest. Fremdbestimmtes Schicksal steht bei Demarkationssubjekten in Abhängigkeit einander gegenüber. Sie ist ihm besorgt gefolgt und hat sich im Türrahmen platziert. Lässig lehnt sie sich an den Rahmen. Der volle Mond strahlt sie von hinten an und lässt ihre Rundungen im durchsichtigen Nachthemd verführerisch erscheinen.

»Assistenzarzt… was soll die Wortklauberei…«, er zieht die nächste Zigarette aus dem Päckchen. Klopft den Tabak auf dem Tisch fest. »…während ein Hirntoter versorgt wird, ist bei Eurotransplant schon die Maschinerie angeworfen, die Tote ausschlachtet. Dort ist der Tote bereits aufgeteilt; die Nieren sind für Dialysepatienten in Aachen bestimmt, die Leber für einen Hannoveraner im Leberkoma, das Herz für eine Patientin mit Herzmuskelschwäche in Münster. Auch für Augenhornhäute, Lunge, Bauchspeicheldrüse, Knochen und Darm liegen Vorbestellungen bereit«, kommt er sich als Henker vor, der seine Opfer pflegt. Fragt sich auf einer anderen gedanklichen Ebene, wie sich das Geschäft erweitern wird, wenn Xeno–Transplantationen, also Organentnahmen von gentechnisch manipulierten Schweinen möglich sind. Das Hauptproblem der Transplantation scheint ihm weniger der chirurgische Eingriff, als vielmehr die immunologische Akzeptanz des Transplantates durch die Empfänger. Im Gegensatz zur Nierentransplantation, sind Verpflanzungen von Herz, Leber und Lunge aufgrund der medizinischen Voraussetzungen beim Empfänger komplizierter. Es gibt leider noch keinen langlebigen Organersatz. Er zündet sich die Zigarette an. Raucht.

»Aber was unterscheidet den Menschen ohne Gehirn noch vom Tier?«, wendet Noëmi eine Spekulation ein, weil ihr klar wird, dass jede Leiche tot ist aber nicht jeder Tote eine Leiche ist. Sie geht zum Kühlschrank. Mixt sich gleichfalls einen Drink. Riecht daran. Stürzt das Gebräu in den Schlund. Respektvoll und vorsichtig umkreisen sich ihre Seelen auf der Suche nach Einklang und Wahlverwandtschaft.

»Philosophie ist nicht meine Stärke. Ich war gestern im Beichtstuhl und hab‘ Priester Ludgerius einen Mord gestanden«, gesteht er ihr dumpf. Nichts kann in dieser Phase seines Lebens sein Herz erfreuen. Die Opiate der Natur sind ihm zu schwach, der Nervenkitzel des kriegerischen Menschenmetzelns will sich bei ihm nicht einstellen, die Lust an Gosse, Saufgelage und Prollerei scheint ihm unendlich banal. Also helfen Willbert nur noch künstliche Paradiese.

»Und… wie hat er reagiert?«

»Er meinte, dass Ärzte nicht den Mut aufbrächten vor sich zuzugeben, dass sie Organspender bei lebendigem Leib zerschneiden. Ein Hirntoter sei ein Lebender minus Gehirn.«

»Was hast du ihm gesagt?«, erkundigt sie sich entsetzt. Nimmt ihn in die Arme. Reibt ihre Brüste sacht an seinem Rücken. Umfängt ihn. Lässt ihre Zunge in seine Ohrmuschel gleiten. Und ist sich bewusst darüber, dass es ironischer Frivolität und eines besonderen Sinns für Parallelverschiebungen im romantischen Bedürfnishaushalt bedarf, um seine kalkulierte Schrägheit aufgehen zu lassen.

»Ich bin aus der Kirche ausgetreten«, geriert er sich als Welthasser, dem die liberale Mitte wegen ihrer emotionalen Unangreifbarkeit auf die Nerven geht. Dreht sich herum. Beugt sich zu ihr herüber. Nimmt sie schnell, hart und kurz auf dem Küchentisch. Setzt sich halbwegs entspannt auf die Eckbank, nimmt sie in den Arm und fällt wieder ins Grübeln zurück.

In der letzten Zeit sind zuviel Kunstfehler über die Presse an die Öffentlichkeit gedrungen, das hat für den Ruf des Hauses fatale Folgen. Die teuersten Schäden entstehen in der Chirurgie, Orthopädie und Anästhesie. Oft werden Fremdkörper wie Kompressen, Tupfer, Schere oder Nadelhalter bei der Operation vergessen. Die eigentlich selbstverständliche Zählkontrolle wird meist nicht durchgeführt. Nur, wenn seine Kollegen die Arbeitsabläufe optimieren, Kostenfaktoren sichtbar machen und die medizinische Leistung verbessern, können sie das Kliniksterben überleben. Nach wie vor kommen die Patienten freiwillig, und letztlich tragen sie auch das Risiko einer gescheiterten Intervention.

»Schon nach kurzzeitigem Aussetzen des Herzschlags, noch vor dem Erlöschen sämtlicher Hirnfunktionen, können die Chirurgen mit dem Ausnehmen der Körper beginnen, so will es eine Todesdefinition aus Amerika.«

»Was bringt das?«, erkundigt sie sich verwirrt. Bisher hat sie ihn mit Sex immer ablenken können. Seine Sexualität ist jedoch nicht beherrschbar, weil die Nähe zum Leben auch die Nähe zur Vergänglichkeit ist. In dieser Spannung bleibt ihre Sexualität lebendig, anders als in einem Wissen von ihr, das Lust von Last zu trennen sucht und dabei den Tod einplant. Er sitzt wieder hinter dem Küchentisch. Kippt einen Drink und ist bereits im Begriff, einen weiteren zu mixen.

»Eile soll bessere Erfolge bei Transplantationen bringen und bessere Ausbeute bei Organen selber. Das wäre angesichts der wachsenden Nachfrage angezeigt. Bleibt zu klären, ob Menschen im Koma Leichen sind«, setzte er seine lauten Gedanken mit einem leichten Lallen fort. Schenkt nach. Setzt an. Kippt.

»Können sich die Patienten nicht dagegen wehren?«

»Nur wer sich ausdrücklich dagegen ausspricht, kann verhindern, dass ihm Organe entnommen werden.«

»Gibt es keine postmortalen Eigentumsrechte auf den eigenen Körper?«, geht ihr auf, dass nichts weniger Erklärung braucht als das Unglaubliche.

»Eigentum ist nichts anderes als verdinglichte Unfreiheit«, spottet er und lacht gehässig. Willi erkennt, dass vom Menschen nichts mehr bleibt als Staub, geklumpt zu Lehm, mit dem man Spundlöcher verschliessen kann.

»Lässt sich dieses Eigentum vererben?«, kommt sie auf eine Idee. Vielleicht sollten sie sich ausserhalb des Definitionszentrums selbstständig machen.

»Wahrscheinlich.«

»Dann gehört der Körper den Verwandten. Die können ihn dann weiterverkaufen und die Beerdigung damit bezahlen.«

»Was für ein Trost«, höhnt er mit der kühlen Strenge seines analytischen Blicks. Man senkt die Ansprüche, um die Moral zu heben; das ist zwar zynisch, jedoch die herrschende Praxis.

»Auch Sperma, Blut und Eizellen können weiterverkauft werden, das ist legal. Deshalb ist der Präparator Manfred Schulz entlassen worden. Er hat auf eigene Rechnung verkauft«, erkundet sie mit einem irritierenden erotischen Unterton, inwiefern man dem Körper und seinen Gelüsten trauen kann, wie weit Lust und Wahrheit, Begehren und Erkenntnis verbunden sind.

»Ich hör‘ auf«, wiederholt er sich. Kippt einen weiteren Drink. Raucht die nächste Zigarette. Hat sich seine Gedanken gemacht, spekuliert ernsthaft damit, sich entweder selbstständig zu machen oder in die Plastination zu gehen, um an einer revolutionären Methode zur Herstellung biologischer Präparate zu arbeiten. Hier gebe es solche Bedenken nicht. Wenn der Bestatter einen frisch Verstorbenen anliefert, ist die Leiche Gegenstand von Pietät, Würde und Respekt. Sobald der Präparationsprozess beginnt, erfährt die Leiche einen Wertewandel. Sie wird zu einem anonymen Präparat, das in nichts mehr an die Individualität des Verblichenen erinnert. Fortan ist er ihr vor allem Ästhetik schuldig. Schönheit vertreibt den Ekel.

»Du wolltest nach deinem Studium doch in die Transplantationsabteilung. Werd‘ doch Entwicklungsarzt. Ich gehe mit dir überall hin«, schmiegt sie sich in seinen Arm und sieht ihn bewundernd von unten an.

Willbert Neumann arbeitet nach dem Studium mit seinem Onkel, Professor Lurk, zusammen. Beim Vorstand der Deutschen Stiftung Organspende wirbt er um Organe von Toten und damit um das Vertrauen der Lebenden. Sein Onkel legt deutsches Recht und Gesetz nach eigenem Gutdünken aus, sucht für seine Privatpatienten passende Organgeschenke. Nach dem deutschen Transplantationsgesetz dürfen Lebende nur dann Organe abtreten, wenn sie dem Empfänger „in besonderer persönlicher Verbundenheit offenkundig nahe stehen“. Professor Lurk rührt auf Fachkonferenzen die Werbetrommel für die Lebendspende zwischen Verwandten oder engen Freunden. Er spornt beide Patienten an, einander kennen zu lernen. Der Nierentausch löst unter den Beteiligten innige Gefühle füreinander aus. Auf seiner Station rücken Kranke auf der Warteliste nach oben, wenn einer ihrer Angehörigen eine Niere spendet. „Hoffnung durch Teilen“ heisst seine Aktion, hinter der nicht nur die Sorge um die Kranken stehen könnte, sondern auch finanzielles Interesse. Seit alle Organe von Leichen über Eurotransplant vergeben werden, haben deutsche Kliniken nur eine Möglichkeit, am Verpflanzen von Innereien gut zu verdienen: indem sie lebende Organe akquirieren. Diese Marktlücke hat sein Onkel kristallklar erkannt: Sie leben in einer Welt ohne Moral, in der nur noch das Materielle zählt.

»Ich möchte nicht vom Regen in die Jauche kommen und an Strategien der Verfestigung arbeiten«, geriert er sich als Medizyniker für interdisziplinäre Hermeneutik, dessen Sprechgeschwindigkeit der Entwicklung der eigenen Gedanken den Rang abläuft.

»Warum das denn?«

»Ich könnte ja zum Beispiel zur Mutter Theresa nach Kalkutta gehen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was es für eine Organ–Mafia in der 3. Welt gibt. Indien ist der führende Organbazar der Welt, da verkaufen Spender ihre Niere für 1700,– Euro, nicht selten handeln sie sich dafür als Zugabe auch noch Hepatitis oder Aids ein. Es ist wie bei der Zusammenarbeit zwischen Huhn und Schwein. Das Huhn spricht von Kooperation, von Fusion und es schwärmt von den Chancen, die darin stecken – nach einer gewissen Durststrecke am Anfang freilich. Das Schwein hört sich die Sache schweigend an und fragt, wie denn das genau aussieht. „Wir gründen die Firma ham and eggs„, sagt das Huhn. Darauf das Schwein irritiert: „Du bist verrückt, das bedeutet doch meinen sicheren Tod!“ Das sei ja der Sinn einer Kooperation, bemerkt das Huhn trocken«, erläutert Willi sarkastisch, wie die Menschwerdung der Ware von der Warenwerdung des Menschen gekontert wird, und entlarvt damit beiläufig den anti–humanen Grundzug des Kapitalismus. Sie leben in einer sich drastisch wandelnden Konjunktur, nachdem die Zahl der Unfalltoten durch die Anschnallpflicht und den Airbag zurückgegangen ist. In südindischen Dörfern gilt die Faustregel: Wer ein Fahrrad besitzt, trägt eine 25 Zentimeter lange Narbe in der Nierengegend. Seit je war die menschliche Gesellschaft gespalten: in Besitzende und Besitzlose, Mächtige und Ohnmächtige, Eliten und Mehrheiten. Immer neue Gründe fanden die Wenigen, um den Vielen ihre Ungerechtigkeiten aufzuzwingen. Rasse, Religion, Sprache und Nationalität sind altbekannte Kriterien für eine Kategorisierung von Menschen. Doch diese Welt ist nicht zeichenhaft, sondern auf unerbittliche Weise real, nicht mehr zu ändern, nur noch zu ertragen. Die hypermodernen Menschen haben verlernt, dass zur Liebe Treue und Nachsicht gehören.

»Wir sollten versuchen, diese Widersprüche auszuhalten, ohne sie auflösen oder austragen zu müssen. Wir müssen aktiv die Lebenszukunft erwarten!«, versucht sie ihn zu ermuntern. Nimmt ihn in den Arm. Streichelt über sein Haar. Denkt nach. „Was ist denn die Alternative? Das ist ein typisches Frauen–Problem, überhaupt darüber nachzudenken, ob man sich streiten soll.“ Sie streiten sich selten, weil sie sich sowieso nie einig werden, und folgen der Erkenntnis, dass man gelegentlich auch mal mit sich einverstanden sein muss. Streit birgt eine grosse Gefahr: Je öfter man streitet, desto mehr verliert man das Vertrauen. Je weniger Vertrauen man hat, desto grösser wird der Wunsch nach Kontrolle. Als Kontroll–Freak will sie nicht enden. Noëmi macht sich lieber locker, setzt sich mit einem Eis oder einer Pizza ins Bett und denkt nach, ob es das wert ist. Wenn es ihr wirklich wichtig ist, können ruhig die Fetzen fliegen. Voller Einsatz. Nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere, für eine wichtige Sache. Sie streitet prinzipiell dann, wenn es darum geht, dass Frauen ihr Recht bekommen.

»Es wird noch schlimmer. Die häufigsten Spender sind Frauen mittleren Alters. Nachdem sie ihrem Mann die Söhne geboren und grossgezogen haben, besteht ihr Nutzen in der Organspende«, rudert er gegen die Überschwemmung seiner Wahrnehmung und versucht den Dammbruch in der Seele zu kitten.

»Tut denn die Religion nichts dagegen?» schiebt sie rhetorisch nach. Knabbert an seinem Ohrläppchen. Lässt die Zunge in die Ohrmuschel gleiten und vergleicht sein Verhalten mit einer Schar Tauben aus einem berühmten Experiment des Sozialpsychologen Burrhus Skinner aus den 40–er Jahren des 20. Jahrhunderts. Skinner hatte seine Labortiere zuerst ausgehungert, um ihnen dann in festen Zeitintervallen von 15 Sekunden kleine Mengen Futter zu geben. Die Vögel glaubten daraufhin, dass ihr eigenes Verhalten die plötzliche Nahrungszufuhr ausgelöst habe. Eine Taube, die sich zu Beginn der Fütterung gerade umgedreht hatte, begann fortwährend zu rotieren, eine andere hackte auf einer bestimmten Stelle des Käfigs herum, im Glauben, das weitere Körnerangebot zu steuern. Magical thinkingnennen das die Experten. Und auch ihr gelingt es immer wieder, ihn zu verzaubern. Wenn sie die bittersüssen Zwischenbereiche wie Melancholie und Sehnsucht in seinem Herzen anschlägt, hat sie ihn schnell gewonnen. Es geht Noëmi um das Eintauchen in Illusionen. Beobachten schafft Distanz. Sie versucht ihn darüber zu verunsichern, in welcher Wirklichkeit sie sich befinden, indem sie die Informationen, die seine Sinne erreichen, durcheinander bringt.

»Buddhisten oder Hindus haben nichts dagegen, derartige Spenden gelten als höchste Form, Verdienste für das nächste Leben zu erwerben! Warum soll der Skeptizismus gegenüber der Zukunft in einen Fetischismus der Vergangenheit münden? – Ehy, das kitzelt«, beschwert er sich. Je mehr er sich der eigenen Sterblichkeit bewusst wird, desto wichtiger wird der Sex. Das Einfache ist schwer zu leben: Den Tod nicht zu verdrängen, sondern mit ihm freundschaftlich umzugehen, weil der von Anfang an zur Geburt gehört. Sterben zu lernen ohne deswegen aufzuhören, sich des Lebens zu freuen – im Gegenteil

»Und wir?«, haucht sie abwesend. Er befindet sich in einer Zerrissenheit, die geprägt ist von Fragen zu seiner Geschichte, seiner Identität, seinem Wollen. Denkt an eine Liebeserklärung zwischen Unschuld und Raffinesse nach. Den Liebenden ist nur die wahre Liebe Balsam für Leib und Seele. Nur mit reiner Liebe kann sie ihn von einem Fluch erlösen.

»Wir machen mit, weil bei uns die Spender rückläufig sind. Da werden Organübertragungspauschalreisen für rund 60000,– Euro angeboten. Es kann nicht Aufgabe von Ärzten sein, bestehendes Recht durch selbstdefinierten ärztlichen Ehrgeiz auszuhöhlen«, fehlt ihm das Talent zur Selbstzufriedenheit. Willi scheitert er an einer Gesellschaft, deren Fehler er beschriebt, deren Unentrinnbarkeit er ein Schnippchen schlagen wollte. Ihm ist klar, dass er die Welt nicht verändern kann, das hindert ihn nicht, sie so hinzunehmen, wie sie ist.

Noëmi erwägt eine Diskussion darüber zu führen, ob ein Organ der am meisten Bedürftige bekommen soll oder der, der am meisten dafür bezahlen kann. Will Wahrheiten jenseits persönlicher Motive anstreben und Zeitbilder schaffen. Das Gefühl von Unsicherheit ist eine Folge dieser Verwechslung. Sinnliche Gewissheit führt zum konzeptionellen Trugschluss. Perfektion ist ein rares Gut – man muss nett zu ihr sein, sonst verflüchtigt sie sich wieder. Noëmi reduziert ihre Verständigung mit einem Kuss auf ein Minimum, weil für sie stillschweigendes Übereinkommen und Körperlichkeit der Beweis von Liebe ist. Verkrallt sich in seine Brusthaare. Lässt ihre andere Hand in den Schlitz seiner Schlafanzughose gleiten. Bringt den Pint auf Stand. Flüstert ihm lasziv ins Ohr:

»Komm ins Bett. Schlaf erstmal drüber. Morgen ist auch noch ein Tag.«

 

 

***

Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2010.

Coverphoto: Anja Roth

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