Twitteratur aus ferner Zukunft

Das, was den Menschen ausmacht, findet sich in keinem Tier.

Peter Kunert

Peter Kunert schreibt eine abseitige Form der SF. Er gibt einen „Bericht aus ferner Zukunft“ ab (der gleichwohl in 2020 verlegt wurde), wir lesen einen Rückblick auf den Menschen „wie er wäre, wenn er wüsste, wie er ist“. Wir erinnern uns daran, dass alles Wissen für René Descartes zunächst einmal einen Vorurteil darstellte. Deswegen riet der französische Denker, von allen eigenen Überzeugungen abzusehen, um sie dann entweder ganz zu verwerfen oder sie durch Überprüfung neu zu bestätigen. Das ist für ihn die „wahre Methode, die zur Erkenntnis aller Dinge führt“ – sie findet ihre Anwendung „im Denken“.

Es ist nicht genug, einen guten Kopf zu haben; die Hauptsache ist, ihn richtig anzuwenden.

René Descartes

Peter Kunert stellt das Verschwinden der Aufklärung fest. Er stellt sich die Frage, warum der wissenschaftlich-technisch so erfolgreiche Mensch auch nach 6000 Jahren nicht in der Lage ist, ein dauerhaft friedliches und gerechtes Zusammenleben auf diesem Planeten zu organisieren. Diese Frage hat den Autor schon bewegt, als er noch als Mediziner Arbeiten zu seinem Fachgebiet veröffentlichte. Als ihm später im Ruhestand die eigentlich zuständigen Geschichts-, Gesellschafts- und Politikwissenschaften keine Antwort auf seine Frage geben konnten, hat er sich evolutions-biologischen und -psychologischen Texten zum Thema zugewandt. Mit ihrer Hilfe stieß er auf eine hochproblematische Grundkonstellation im Wesen des Menschen, die Ursache der sozialen Schwäche des Homo sapiens ist.

Aufgeklärt sein heißt: Sich vor sich selbst nicht ängstigen.

Gerhard Szczesny

Im HOMO DISTANS beschreibt Peter Kunert diese Problematik und stellt ihre Auflösung dar in Form nicht einer Sozialutopie sondern einer „Humanutopie“: Nicht die Gesellschaft muss verändert werden, sondern der Mensch – nicht durch Genmanipulation, sondern durch Einsicht und von Kind auf eingeübte Selbsterziehung. Der HOMO DISTANS lässt sich als Typus höchster Wohlgeratenheit, im Gegensatz zu modernen Menschen, zu Gutmenschen, zu Christen und anderen Nihilisten. Wir lesen in den kurzen, auf einander aufbauenden Skizzen über einen idealistischer Typus einer höheren Art KUNO erinnert dies an die neue Form des Aphorismus, der Twitteratur. Der HOMO DISTANS ist zur besonderer Selbstbeherrschung und Selbstentfaltung befähigt. Er stellt somit eine radikale Lebensbejahung als Gegenentwurf zum Nihilismus dar. Er ist Überwinder des Nihilismus, Schöpfer neuer produktiverer Werte, die er aus sich selbst bezieht und die anstelle der durch den Nihilismus zuvor zerstörten bzw. verneinten transzendenten Werte, ewige und unbezweifelbar moralisch und erkenntnistheoretische Dogmen nunmehr eine immanente, dem Leben zugewandte und dem Leben dienliche Entsprechung finden.

Das unendliche Denken des Menschen ist eingesperrt in das endliche Leben eines Tieres.

Peter Kunert

Der HOMO DISTANS ist aus dem Blickwinkel seiner fundamentalen Kritik zu verstehen. Demgegenüber will Peter Kunert mit seinem Buch das Individuelle geltend machen, das in unserer vorherrschend platonisch geprägten Kultur des Denkens, in der Philosophie, den Wissenschaften und in der Ethik tendenziell ausgeklammert wird; dies ist die Grundlage von einer Moralkritik, denn in seiner Sichtweise stellt die verallgemeinernde Ethik Handlungen, Verhalten und Motive als gleich dar, die in Wahrheit nicht gleich sind, d. h., sie unterdrückt gewaltsam das Individuelle. Kunert versteht den Begriff des HOMO DISTANS als der Entwurf einer gedanklichen Welt, in dem menschliche Individuen nicht mehr unter allgemeinen und gleichmachenden Begriffen wie eben Mensch verstanden werden. Seine Kritik lautet, Individuen unter einen schematischen Begriff wie Mensch zu subsumieren, mache diese Typen auf ungerechtfertigte und gewaltsame Weise gleich, obwohl sie doch als Individuen eigentlich nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen seien, sondern sich vollständig voneinander unterschieden.

 

 

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HOMO DISTANS – Der Mensch wie er wäre, wenn er wüsste, wie er ist: Bericht aus ferner Zukunft, von Peter Kunert. BoD 2020

Weiterführend

KUNO hat unterschiedliche Autoren zu einen Exkurs zur Twitteratur gebeten, und glücklicherweise sind die Antworten so vielfältig, wie die Arbeiten dieser Autoren. Über den Vorläufer der Twitteratur berichtet Maximilian Zander. Anja Wurm, sizzierte, warum Netzliteratur Ohne Unterlaß geschieht. Ulrich Bergmann sieht das Thema in seinem Einsprengsel ad gloriam tvvitteraturae! eher kulturpessimistisch. Für Karl Feldkamp ist Twitteratur: Kurz knackig einfühlsam. Jesko Hagen denkt über das fragile Gleichgewicht von Kunst und Politik nach. Sebastian Schmidt erkundet das Sein in der Timeline. Gleichfalls zur Kurzform Lyrik haben wir Dr. Tamara Kudryavtseva vom Gorki-Institut für Weltliteratur der Russischen Akademie der Wissenschaften um einen Beitrag gebeten. Mit ‚TWITTERATUR | Digitale Kürzestschreibweisen‘ betreten Jan Drees und Sandra Anika Meyer ein neues Beobachtungsfeld der Literaturwissenschaft. Und sie machen erste Vorschläge, wie es zu kartographieren wäre. Eine unverzichtbare Lektüre zu dieser neuen Gattung. Maximilian Zander berichtet über eine Kleinform der spanischen Literatur. Holger Benkel begibt sich mit seinen Aphorismen Gedanken, die um Ecken biegen auf ein anderes Versuchsfeld. Die Variation von Haimo Hieronymus Twitteratur ist die Kurznovelle. Peter Meilchen beschreibt in der Reihe Leben in Möglichkeitsfloskeln die Augenblicke, da das Wahrnehmen in das Verlangen umschlägt, das Wahrgenommene schreibend zu fixieren. Sophie Reyer bezieht sich auf die Tradition der Lyrik und vollzieht den Weg vom Zierpen zum Zwitschern nach. Nur auf KUNO sind die Mikrogramme von A.J. Weigoni zu finden. Gemeinsam mit Sophie Reyer präsentierte A.J. Weigoni auf KUNO das Projekt Wortspielhalle, welches mit dem lime_lab ausgezeichnet wurde. Mit dem fulminanten Essay Romanvernichtungsdreck! #errorcreatingtweet setzte Denis Ulrich den vorläufigen Schlußpunkt