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»Das Meer schärft die Sinne. Seit ich die Wellen jeden Tag sehe, sehen sie jeden Tag anders aus. Vielleicht sollten wir nur noch am Strand leben?«, spekuliert Nataly, nachdem sie vom Tauchen zurückkommt; kontrolliert, ob der Bikini schon einen Abdruck hinterlassen hat, und verschiebt einen Träger. Sie ist eine schöne Frau, die es sich sogar leisten kann, dies zu bestreiten. Nataly strahlt eine Reife aus, die nichts vergessen hat, und eine Lebensfreude, die so reich und differenziert ist, dass sie enorm viel positiven Ausdruck dafür findet.

Blickwechsel. Das Traurig–Ins–Nichts–Schauen gehört zu ihrem Nachdenken. Max registriert die wechselhafte Tiefenschärfe des Gesprochenen, ihre unaufdringlichen Verlagerungen in die Bewegungen. Menschen erscheinen ihm als ein informationsverbreitendes System, das Denken als Datenverarbeitung, und das Gehirn als eine Fleischmaschine. Nur eine Denkwindung weiter führt all das genau zu dem, was das Leben so faszinierend macht: Es sind offene Systeme.

Nataly beobachtet ihn. Sein Oberkörper ist nach rechts eingedreht, erfasst ist der Augenblick des Ausholens vor dem Abwurf. Die physische Kraft, die diese Bewegung voraussetzt, wird anschaulich in der Spannung der Muskulatur seines Rückens. So dramatisch das dynamische Muskelspiel ist, Max’s Rücken erscheint ihr als zerklüftete Landschaft, in der sich Vortreffliches ereignet.

Max trocknet sich ab. Er hat sein Ausdauer–Programm hinter sich. Fussball ist eine Bastion der Männlichkeit, dazu gehört eine Körpersprache mit jenem Akzent von Gewalt, wie ihn nur eine männliche Anatomie hervorzubringen vermag.

Denkfigurationen. Nataly hat kein Verständnis dafür, verachtet ihn aber nicht. Das Wort, das sie am besten charakterisiert, ist Edelmut. Grosszügig verhält sie sich nicht nur, wenn es um ihre persönliche Geschichte geht, sondern auch in ihren Fragestellungen. Freigiebig ist sie, weil sie keine systematische Wahrheit zulässt, alles Eindeutige, Rechnerische, Erstarrte immer wieder zum Vibrieren bringt, weil sie unbeirrbar an ihrer Methode festhält, weil sie nicht verurteilt.

Das Meer ist für sie nicht nur ein Hintergrund, vor dem sie läuft und sitzt, das Wasser ist auf magische Weise in ihre Seele gesickert. Die Weite des Meeres, das Betrachten des Horizonts; Nataly liebt es, in der Abenddämmerung ins Meer einzutauchen, wenn Wasser und Feuer in den glutroten Wellen verschmelzen… um im Dunkeln wieder an den Strand zu kommen.

»Weil es für jede Sekunde des Lebens ein Sandkorn bereithält?«, erwidert Max, der sich auf den Rücken gelegt hat und sie anblinzelt. Nataly lässt ihm mit schwebender Intimität eine Handvoll Zeit auf seinen Bauchnabel rieseln. Ihm kommt es so vor wie ein Wrack im Dünenschutt dazuliegen und vom Sand der Stunden überschüttet zu werden.

»Es kann nicht schaden, vorsichtig zu lauschen, was da jeweils in uns denkt«, meint Nataly den Klang, der sie selbst sind: der Herzmuskel pumpt, Blut rauscht durchs Venengeflecht, allerorts Ströme, Atome, Kleinteile, die keine Ruhe geben. Vorsichtig schälen sich Klänge aus der konzentrierten Geräuschlosigkeit. Entsprechend verstärkt ergäbe dies eine Sinfonie ohnegleichen. Mit Hilfe von Elektronik wären sie fähig, an das Wesen der Dinge zu gelangen, sie zu verstehen; falls denn das Wesen der Dinge überhaupt aus Sound bestehen sollte…

 

 

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Vignetten, Novelle von A.J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2009.

Covermotiv, Schreibstab von Peter Meilchen

Weiterführend →

Constanze Schmidt zur Novelle und zum Label. Ein Nachwort von Enrik Lauer. KUNO übernimmt einen Artikel der Lyrikwelt und aus dem Poetenladen. Betty Davis konstatiert Ein fein gesponnenes Psychogramm. Über die Reanimierung der Gattung Novelle und die Weiterentwicklung zum Buch / Katalog-Projekt 630 finden Sie hier einen Essay. Einen weiteren Essay zur Ausstellung 50 Jahre Krumscheid / Meilchen lesen Sie hier. Mit einer Laudatio wurde der Hungertuch-Preisträger Tom Täger und seine Arbeit im Tonstudio an der Ruhr gewürdigt. Eine Würdigung des Lebenswerks von Peter Meilchen findet sich hier.