Die Bauhütte®

 

Karl Richter ist heilfroh, nach seiner Rehabilitation einen Lebensrhythmus zu haben. Ein Pilot–Projekt, bei dem sich die Stelle aus dem Kapitalrückfluss finanzieren soll. Im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmassnahme ist er als Detektiv im Heimwerkermarkt Bauhütte® tätig. Der Name des Geschäfts fusst auf Tradition: er verweist auf einen selbst verwaltenden Werkstattverband, der sich im 11. Jahrhundert aus klösterlichen Bau– und Werkstattorganisationen herausbildete und seinen Tätigkeitsbereich an mittelalterlichen Kirchenbauten fand. Die Zahl der unterschiedlichen Arbeiten auf der Baustelle, die Überlieferung und Bewahrung der Hüttengeheimnisse machten solche Organisationsformen notwendig. Dieses Wissen gehört zur Grundausbildung der versierten Fachverkäufer von Bauhütte®. Die stets zuvorkommenden Dienstleister weisen die Heimwerker umsichtig in die Geheimnisse des Häusle–Ausbauens ein.

»59 an eins«, zitiert Fritz Neuber, der Verkaufsleiter, den Praktikanten Kid C. zu sich. Das Haus verfügt über eine professionelle Klanginstallation. In allen Filialen von Bauhütte® sorgen Nachrichten, Produktinformationen und als Muzak für die gute Laune beim Einkauf. Spiegelglatte Welten reiner Klangoberflächen werden als Musique d’Illustration je nach Uhrzeit ganz auf die Zielgruppe zugeschnitten. Weil seine teamfähigen Mitarbeiter ein Mitspracherecht an der Beschallung haben, hat Kid C. am Nachmittag für die Jugendlichen HipHop durchgesetzt, die erste Musik, die nicht von Menschen, sondern von Reproduktionsmaschinen für Battlemönche gespielt wurde. Gegen Abend läuft allerdings, ganz nach Geschmack von Fritz Neuber, für die Spätheimkehrer Country & Western. Die beste Kundschaft, der Tradition verbunden und dem Neuen stets aufgeschlossen. Diese Heimwerker sind die letzten Individualisten, aus lauter vorgefertigten Teilen zimmern sie sich ihr individuelles Universum zurecht.

Obschon Karl Richter mit einem Rollstuhl durch die weiten Gänge fährt, fällt er niemandem mehr auf. Seine Tarnung ist ein Zollstock aus Holz, den er wie eine Wünschelrute vor sich herträgt und mit dem er exakte Vermessungen von Produkten und Transportwegen vornimmt. Zwischen Service–Center, Warenausgabe und Maschinenverleih hat er jeden Zentimeter vermessen. Bei der Gesamtfläche kommt er auf die Grundfläche von 90 x 120 Meter, der vorgeschriebenen Fläche eines Fussballfeldes. Bei dieser Erkenntnis kommen ihm Tränen. Zwei Kreuzbandrisse haben ihn in den Rollstuhl gebracht und seine Karriere als Profifussballer zerstört. Karls schwache Stelle waren die Knie. Er macht seit langer Zeit dreimal wöchentlich eine spezielle Gymnastik dafür. Jeder Fussballer läuft extrem viel und dazu braucht er sowohl eine starke Rücken– als auch Bauchmuskulatur. Damit kann man Muskelfaserrissen vorbeugen. Der Pokal hat seine eigenen Gesetze. Dieses Axiom musste Karl beim Halbfinale erfahren. Beim Tritt unter die Grasnarbe und einem unglücklichen Aufprall auf der Werbebande rissen die Kreuzbänder in beiden Knien. Bei einer Kernspintomographie wurden die lädierten Körperteile in einer Art Röhre untersucht. Die operierten Kniegelenke wurden mit einer Motorschiene nachts während des Schlafs bewegt. Ein Thermostat regelte die Kühlflüssigkeit. Der Arzt versuchte es mit Knorpelersatz aus Achillessehnen von Kälbern…

Oft träumt Karl Richter vom grossen Scheinwerferlicht. Bei Flutlicht spielt die Mannschaft ohne Lampenfieber. Da brennt es in den Köpfen. Jeder einzelne steht persönlich im gleissenden Scheinwerferlicht und wirft vier Schatten. Alles konzentriert sich auf ihn und ringsherum ist es dunkel. Er kann nicht in die Zuschauerränge sehen, den Blick nicht zum Himmel richten. Es zählt nur, was er mit dem Ball und dem Gegner macht. Er ist euphorisch, spürt nicht mal die Tritte so sehr. Fällt weicher, weil der Rasen nicht so stumpf ist wie am Nachmittag…

Nachdem Karl Richter aus dieser Welt gefallen war, stand er vor dem Nichts. Auf dem Behindertenarbeitsplatz in der Bauhütte® hat er nette Kollegen gefunden. Der Reparaturdienst des Hauses wartet regelmässig seinen Rollstuhl, die Elektroabteilung lädt die Akkus des Motors rechtzeitig auf, der Chef schätzt seine präzise Beobachtungsgabe und garantiert dem schwächsten Mitglied seiner Firma eine Existenz in Selbstachtung. Technisch rückständig bedeutet nicht: geistig behindert! Es gibt beim Betriebsrat einen Ansatz zur Bürgergesellschaft, die den Gemeinsinn wieder mobilisiert. Die Bauhütte® ist jedoch nicht Eigentum seiner Angestellten, sondern derer, die den Baumarkt brauchen und bezahlen.

Anfangs hat Karl einen ruhigen Job, kann oft mit den Kollegen einen Kaffee trinken. Meistens muss er die Menschen davon abhalten, mit dem Einkaufswagen durch das Drehkreuz zu laufen. Stöbert verirrte Zeitgenossen auf, die sich im Labyrinth der praktischen Dinge verlaufen haben. Ordnet im Paradies der Dübel, Dosen, Dämmstoffe, Bohrer, falsch zurückgelegte Holz–, Blech–, Spax– und Gix–Schrauben, registriert Schrauber jeder Grössenordnung, WC–Sitze in Pop–Art–Bemalung, Bohrmaschinen und Spiegelschränke, erahnt die unbegrenzten Möglichkeiten deutschen Heimwerkertums.

Dann beginnt es mit dem Umkleben von Etiketten. Immer öfter beobachtet er Menschen gesetzten Alters, wie sie die Preisschilder der Sonderangebote abknibbeln und auf die teuren Produkte aufkleben. An der Kasse kommt es zu peinlichen Situationen. Richter erhält für jeden ertappten Dieb ein Kopfgeld.

100.000 Artikel sind bei der Bauhütte® leicht gefunden. Gestohlen wird alles, was nicht niet– und nagelfest ist. Nicht nur Kleinteile wie Dämmkeile, Schraubendreher und Lüsterklemmen verschwinden. Ein dreister Zeitgenosse entkommt fast mit einem Betonmischer, den er durch den Lieferanteneingang schiebt. Nicht an den Verkäufern scheitert er, sondern an der Anhängerkupplung. Fritz Neuber hat die lauernde Explosivität einer menschlichen Zeitbombe. Er ist hochgradig nervös, weil neben Farben und Tapeten ganze Teppichböden spurlos verschwinden. Der Verkaufsleiter ist aus altem Schrot und Korn, aus einer Generation, die es sich in der Demokratie eingerichtet hat. Als seine Frau starb, hat er das Fernsehgerät abgeschafft und sich einen Hobbykeller eingerichtet, in dem er seine Freizeit verbringt. Er stellt Möbel her, die er der Kirchengemeinde gegen Materialkosten überlässt. Auch bei der Renovierung von Sozialwohnungen ist Fritz Neuber gern behilflich. Vom Wasserhahn über Fenster und Türen, er repariert alles. Eben ein Handwerker alter Schule. Deshalb kann er nicht verstehen, wie jemand seine Ehre wegen einem Dichtungsring auf’s Spiel setzt. Er hat den Verdacht, dass zwei seiner Mitarbeiter in den Fall verstrickt sind, mit der Untergrundwirtschaft zusammenarbeiten und polnische Schwarzarbeiter mit Material beliefern. Als an diesem Tag ein Stoss wertvoller Tropenhölzer abhanden kommt, brennt bei ihm eine Sicherung durch.

»Da ist eine Verschwörung im Gange, das kann kein Zufall mehr sein!«, schreit er Kid C. an, der spillerig hin und her tänzelt. Der HipHoper ist ein Praktikant mit zwei linken Händen, die er in die Taschen seiner viel zu weiten Hosen gesteckt hat. Er sieht mit seiner neuen Frisur aus wie ein Igel, den man durch einen Honigtopf gezogen hat. Nie vor dem Abschluss, immer kurz vor dem Kurzschluss und damit dem Lebensgefühl seiner Generation so nahe wie dem ersten Kuss. Mit Mädchen, deren Haare wie schlecht gezupftes Schnittlauch vom Kopf wegstehen, kann er nicht viel anfangen, weil in dieser Phase der Übergang zwischen unausstehlich und unwiderstehlich noch zu unberechenbar ist. Da er auf eine Festanstellung keinen Wert legt, rotzt der intelligente Querverweiser dem Chef seine angedachten Thesen vor die Füsse:

»Religiöse Fanatiker und Anhänger von Verschwörungstheorien haben gemeinsam, dass sie glauben eine Wahrheit gepachtet zu haben«, verfügt Kid C. über mehr Sprüche, als Tags auf einem U–Bahn–Waggon passen.

»Unser Publikum will kopulieren, nicht reflektieren «, verzieht der Verkaufsleiter mit der Sturheit eines klemmenden Dosenöffners das Gesicht. Er gibt eine traurige Haltung ab, wenn er Haltung bewahrt. Wird zur klassischen Figur, dem Mann, der bessere Tage gesehen hat. Da er keine Kinder gezeugt hat, steht er der neuen Jugendbewegung absolut verständnislos gegenüber.

»Der Stand dieser Zivilisation zeigt sich eben am Stand der Technik, mit der ein Delinquent vom Leben in den Tod befördert wird«, glaubt Kid C., dass solange er reden kann, er die neugelieferten Fliesen nicht ins Regal räumen muss.

»Es ist genauso vernünftig an Weltverschwörungen zu glauben, wie nicht daran zu glauben!«, wirkt Karls abklärende Heiterkeit in der Krise wie ein Hustenmittel.

Rap sollte ein lautes, nachdenkliches Selbstgespräch sein. Leider sieht es meist anders aus, und Fritz Neuber geht das Rumgepose seines Praktikanten, jene Mischung aus Angeben, Niedermachen, Quasselei und Grosskotzerei auf die Nerven. Er schnappt sich einen Einkaufswagen und fährt mit hassverzerter Miene auf den Detektiv los. Kid C. zieht den Rollstuhl aus der Schusslinie. Dem menschlichen Haustier fehlt die tröstliche Erinnerung an die freie Wildbahn und die zu erjagende Beute. Der Verkaufsleiter nimmt einen neuen Anlauf, fährt auf seine Mitarbeiter zu und verfehlt erneut. Eine Palette mit Buchbinderleim fällt zu Boden und versperrt den Weg. Karl Richter kennt den Flucht– und Rettungsplan genau, er versucht zu entkommen. Kid C. reisst den Feuerlöscher aus der Wand und richtet den Schaum auf seinen Chef. Der hat sich mit einer Motorsäge bewaffnet und geht auf ihn los. Blindwütig lässt er die Säge kreischen. Zersplitterte Schalbretter, zerstampfte Fliesen, geborstene Hohlkammerplatten und geschlitzte Abflussrohre pflastern seinen Weg. Der Geruch von Diesel ist sein Parfum. Als er im Kassenbereich angekommen ist, setzt er die Alarmanlage in Gang. Ein markerschütterndes Heulen dringt durch die fast menschenleere Halle. Durch die grossen Scheiben der Bauhütte® sehen Mitarbeiter und Kundschaft, wie der Verkaufsleiter auf den Detektiv losgeht, um ihn zu schlachten. Karl Richter versucht sich mit einer Heckenschere zu wehren, er probiert das gegenläufige Präzisionsmesser anzuwerfen, scheitert an der Zwei–Hand–Sicherheitsschaltung und schleudert sie dem Verkaufsleiter entgegen. Fritz Neuber ist von der kreischenden Sirene genervt, er versucht sie auszuschalten, indem er die elektrische Leitung durchtrennt…

 

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Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2010.

Coverphoto: Anja Roth

Weiterfühend → KUNO übernimmt einen Artikel von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Jo Weiß von fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur, Margaretha Schnarhelt kennt den Ausgangspunkt und Constanze Schmidt erkennt literarische Polaroids. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Ein Essay über Unlust am Leben, Angst vor’m Tod. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten lebendig.