Triebökonomie

 

Bei Lachsstrudel und französischem Weisswein plaudert es sich angenehm. Der Textilkaufmann Wolfram Keyl umgarnt seinen Geschäftspartner Hagen Wundschick. Er beherzigt, dass man Menschen so elegant über den Tisch ziehen muss, dass die dabei entstehende Reibungshitze als Nestwärme empfunden wird.

»Schönheit und Sexualität sind wegen der Hormone in den Lebensmitteln und der Antibabypille durch Produkte erhältlich«, beschreibt Wolfram Keyl das Wachstum und strebt die konsumistische Gleichschaltung der Gesellschaft an. Emotionen sind die neue Herausforderung des Marketings. In Zukunft wird es nicht mehr ausreichen, eine Handelsmarke zur Marke des Vertrauens aufzubauen. Nur wer es schafft, sein Produkt in eine Lovemark zu verwandeln, wird beim Konsumenten eine Loyalität bar jeder Vernunft erzeugen, und so im übersättigten Weltmarkt überleben. Information, Vereinfachung und Verdummung sind traditionelle, aber anachronistischen Elemente der Werbung. Die Zauberformel lautet: Mysterium, Sinnlichkeit und Intimität. Es reicht nicht mehr, dass eine Marke nur respektiert, bewundert und benutzt wird, das sind reine Vernunftgründe, um etwas zu kaufen, Vernunft führt nur zu Überlegungen. Emotion verleitet dagegen zu Aktion. Deswegen muss eine Marke beim Verbraucher wahre Liebe und Leidenschaft erzeugen. Mit diesem Marketingkonzept beliefert seine Firma Textile Elastics die Miederwarenindustrie mit Maschenstoffen, aus denen Slips, Bodys, Tops und BHs gefertigt werden.

»Der Büstenhalter ist das komplizierteste aller Kleidungsstücke. Das Material muss in seinem Dehnungsverhalten absolut zuverlässig sein. Fünf Millimeter mehr oder weniger entscheiden über Tragekomfort«, gibt Hagen Wundschick mit erheblichen bürotrockenen Anteilen im Wortschatz zu bedenken. Ihm fällt auf, dass in den westlich dominierten Gesellschaften zu viele zentrifugale und zu wenig zentripetale Kräfte wirken. Er will, sobald er es sich leisten kann, lieber in Entwicklungsland leben, weil er zu Hause nicht mehr glücklich ist. Hier haben die Menschen keinen Sex, dürfen an immer weniger Plätzen rauchen, ihr Leben ermüdet und langweilt sie.

»Wir entwickeln einen Halter, der das Wackeln bremst. Piezoelektronische Streifen im BH setzen die Bewegung des Busens in elektrische Energie um, die über einen Widerstand die BH–Träger strafft und die Brüste stabilisiert«, beschreibt Keyl die Entwicklung intelligenter Textilien. Klassische Gewebe aus Kunstfasern werden mit Zusatzfunktionen versehen. Sie können Strom leiten oder Gerüche aufnehmen, Körperfunktionen messen oder ihre Farbe verändern. Das Sexualleben entwickelt sich nach dem Muster einer deregulierten Konsumwirtschaft, in der Individuen Anbieter und Abnehmer zugleich sind, das eigene Selbstwertgefühl und der Wert jedes anderen sind einem ununterbrochenen brutalen Wettbewerb ausgesetzt. Liebe und Eros schrumpfen zum nackten biologischen Vollzug der Sexualität, deren Zweck nicht Fortpflanzung ist, sondern egoistische Lustmaximierung. Biologisierung und Zwecklosigkeit gehen eine Verbindung der Erbarmungslosigkeit ein. Triebhaftigkeit und Leere kumulieren sich zum grässlichen Ekel am Leiblichen. Wundschick ist von den neuen Körbchen begeistert, was liegt näher, als ihn zu einem abschliessenden Test in ein Bordell einzuladen.

»Wir möchten uns amüsieren«, gibt Keyl Travis, dem Taxifahrer, als Fahrziel an. Der versteht. Setzt die Fahrgäste vor dem Nobelpuff ab. Wartet ein paar Minuten im Auto. Geht zum Türsteher und kassiert sein Honorar.

»Mensch, du machst mich heute Abend arm. Ist schon die dritte Fuhre.«

»Ich kann die nächsten Gäste auch zur Konkurrenz fahren«, erwidert Travis gleichmütig. In seiner Jugend war er politisiert, seine Kritik richtete sich nicht gegen die Emanzipation, sondern gegen das System, dem sie zugute kommt, die westliche Weltkultur. Er arbeitete an einem Gegenentwurf, in dem die sexuelle Freiheit nicht zur Befestigung eines unfreien Zustands dient. Nun profitiert er ohne analytische Distanz von der konsumistisch deregulierten Sexualität.

Sexbar mit Showeinlagen. Lustbereite Körper werden nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage getauscht. Die Geschäftsleute bummeln durch die Liebe hindurch wie durch eine Boutique. Sie haben die Huren Lisa und Mona aus dem Angebot dieses Dienstleistungsbetriebs gebucht, weil sie die sehnige, zähe, eher zierliche Physis von Ausdauerathleten haben, nicht das aufgepumpte Muskelwerk von Bodybuildern. Für die Liebesdienerinnen funktioniert Prostitution ganz ohne Umwege und authentisch, so wie Sexualität ein direkter Impuls ist. Sie gefallen einem Mann, geben ihm ihren Körper, und dafür bekommen sie Geld: also ein Stück Freiheit. Wie Wolfram Keyl und Hagen Wundschick an der Börse spekulieren, spekulieren Lisa und Mona mit ihrem Körperkapital. Brust raus, Schulter zurück und Verfügbarkeit suggerieren, das ist ihr Job. Eine gute Hure dominiert den Gast, nicht umgekehrt. Daran halten sie sich.

»Will die mit den langen Haaren, weil man sich damit den Schniedel abwischen kann!«, grölt Keyl, nachdem sie eine Flasche Champagner geleert haben. Lisas Nachteil ist ihr Aussehen: blond, langbeinig, mit weissen Strahlezähnen und breitem Lächeln. Sie räkelt sich schmollmündig in Luxuslimousinen, schmiegt sich an den Hals weisser Pferde, öffnet ihr Dekolleté bis zum Anschlag und entspricht damit den Erwartungen reifer Herren, die an Hotelbars auf blaue Augenaufschläge warten, der Sophisticated Lady zunicken und als Cocktail The Look Of Love bestellen. Kontrolle von Lust, die Käuflichkeit von Sexualität und der Kitsch haben ein und dasselbe leere Gesicht. Lisas lange Haare erweisen sich als praktisch, weil der Blow–Job aus einer geübten Handmassage besteht. Vor allem bei diesen angetrunkenen Gästen lässt sich leicht eine Falle schieben und simultan eine Show like a Pornstar bieten.

Mona spricht mit einem Timbre, für das rauchig noch ein schwacher Ausdruck ist. Sie mag maliziös und zickig tun, bei allem Kokettieren bleibt sie stets ein junges Mädchen, dessen schnöd ausgestelltes Selbstbewusstsein das ängstliche Fiebern nach aufregendem Leben schlecht kaschiert. Ihr Verhalten ist von einer rohen, fiebrigen Intensität, ihre Augen glühen, der ganze Körper bebt, sie kämpft um ihr Leben wie ein verwundetes Tier. Wundschick penetriert die Nutte mit der Kerze, die er bei der Versöhnung mit seiner Ehefrau als Beleuchtungskörper für ein Candellight–Dinner verwendet. Er ist ein Fall von Grossstadthospitalismus: Konsumjunkie, Globalisierungsopfer, Selbstverkäufer. Im Schlamassel des wohlgefällig aufbereiteten Elends. Ein Mensch im letzten Lebensstadium, der noch einmal zeigt, wie viel Kraft er hat. Sein Elend ist auf dem Weg aus der Wirklichkeit zur netten Anmutung abgebogen. Er setzt in seinem Jargon auf Pointen, hat eine grelle Biografie zu bewältigen, gewinnt aber doch keine Seele.

Verpufft im sinnfreien Raum. Die Abgestorbenheit, der hospitalistische Affektentzug zeigt sich bei Mona und Lisa in der Sprache. Ihre klaustrophilen Dialoge sind Variationen um den Satz „Ich halte das nicht mehr aus“ – und meinen immer etwas anderes, als sie zu sagen wagen. Sie stolpern durch ihr dysfunktionales Dasein und flüchten aus der Konversation. Erfahrungen werden zum Panzer des eigenen Ichs. Ihnen fehlt jedes Pathos, aber auch die Fähigkeit zum Selbstbetrug. Ihnen ist spöttisch und pointiert zumute, aber ohne jede Spur von prononciertem Willen nach Grundsatzdebatte und Weltveränderung. Sie haben sich früh eine Medienintelligenz angeeignet, die mit den üblichen Massstäben von Bildung, Moral und Rollenverhalten nicht fassbar ist.

Mona und Lisa legen zur Erholung Musik– und Tanznummern ein. Gebräunte Körper bewegen sich rhythmisch. Beim Table–Dance herrscht Distanz. Ist Anfassen verboten. Geraten High Heels zu martialischen Instrumenten, die gleichzeitig verlocken und abstossen. Für diesen Look sind Modelmasse nicht vonnöten. Nur eines sollte da sein: Selbstbewusstsein. Ihre Erotik liegt in einer geschlechtlichen Ambivalenz und der impliziten Negierung jeder Leidenschaft bei gleichzeitiger Verlockung. Entleerte Blicke, kostbare Gesten, kein Feuer, nirgends, aber es züngeln kleine Flammen der Begehrlichkeit. Anders halten sie es nicht mehr aus, weil ihnen das eigene Ich abhanden kommt und eine Bewusstseinsdämmerung einsetzt. Sie sind bis zum Tränenkanal gefüllt mit quicklebendiger Todessehnsucht, angereichert mit blutrünstigen Schockeffekten und nekromantischer Angstlust. Jeder sein eigener Unternehmer, jeder ein menschlicher Dienstleistungsbetrieb. Täglich 24 Stunden geöffnet, versuchen sie dennoch ein Privatleben hinzukriegen. Wenn ihnen einmal alles über den Kopf wächst, kaufen sie sich ein schickes Nervenkostüm. Konzentrierter Einsatz von Körperflüssigkeiten bringt ästhetischen Gewinn.

Sein guter Ruf verhallt irgendwo in von der emotionalen Glut beleuchteten Raum. Das dicke Auto und die Brilliant–Uhr ersetzen den schlechten Leumund. Wolfram Keyl hat sich selbst als Märtyrer gesehen. Als jemanden, der allen überlegen war, aber immer unterdrückt wurde, immer rausgeworfen wurde. Immer alles verboten bekam, immer gehänselt wurde. Er redet. Irgendwas. Von Stimmen, Sinn und Hoffnung. Und von besseren Zeiten. Er redet und redet. Immer weiter. Auch dann noch, als er sich selbst schon längst nicht mehr glaubt. Sein Leben ist eine einzige Anlage, Kapital kann er aus allem schlagen. Da er kein Bargeld bei sich hat, schreibt er Schecks aus. Lässt sich eine Quittung geben. Will den Bordellbesuche beim Finanzamt als Bewirtungskosten absetzen.

Am Morgen ist auf die Wirklichkeit Verlass. Der Textilkaufmann lässt die Schecks sperren. Die Huren beweisen, dass der Taillenumfang einer Frau sich nicht umgekehrt proportional zu ihrer sozialen Stellung verhalten muss, fordern die Abschaffung der Diskriminierung und klagen. Der junge Richter präsentiert sich in seinem ersten Prozess einerseits im bescheiden–kunstlosen Alltagskleid des Understatements, lebt andererseits von Übertreibungen, Zuspitzungen, Idiosynkrasien und bietet ausserdem Indizien, die auf leichten Grössenwahn schliessen lassen. Mona und Lisa erkennen die Gesichter der Macht, bevor sie zu Verkündungsfassaden werden. Der Jurist gibt den Huren einen Korb:

»Es ist ein unsittliches Rechtsgeschäft. Der Freier kann nicht belangt werden.«

Mona und Lisa werden zukünftig auf bargeldlosen Verkehr verzichten.

 

 

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Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2010.

Coverphoto: Anja Roth

Weiterfühend → KUNO übernimmt einen Artikel von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Jo Weiß von fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur, Margaretha Schnarhelt kennt den Ausgangspunkt und Constanze Schmidt erkennt literarische Polaroids. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Ein Essay über Unlust am Leben, Angst vor’m Tod. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten lebendig.