Am Vorabend

Was der Sozialismus hinter sich hat, hat der Kapitalismus vor sich

Heiner Müller

Effiziente Zweckmässigkeit. Hoch aufgetürmte Pappkartons sind als Schallwände im Raum verteilt. Modellbau für ein neues Bühnenbild, ihr übliches kreatives Chaos. Sabine nutzt als Zuzügerin die West–Berliner Insel als Transitraum und zum Sammeln von Inspirationen. Sie erarbeitet am Rechner weitere Skizzen zu einem holographischen Bühnenbild. Kein überschwängliches Begrüssungskomitee. Lediglich ein Fingerzeig, mit dem sie zugleich den Graphitstift aus den aufgesteckten Haaren nimmt, sich schüttelt, den Stift sodann hinter das Ohr steckt und weitere Korrekturen vornimmt. Moritz lässt den abgeschrappelten Koffer, mit dem seine Eltern aus Munkács geflohen sind, unter das Bücherregal schlittern, wo er neben Zettels Traum passgenau zum Stehen kommt. Er kümmert sich nicht weiter um die Wahnwitzige. Kocht einen Salbeitee. Lässt die Kräuter für einige Minuten durchs Sieb ziehen…

Konzeption des Unmittelbaren. Auf bequeme Weise dargestellt, ist von der Schönheit des Pigments noch der Ton vorhanden, der Körper bleibt auf der Strecke. Moritz leidet unter der Nachwirkung der kollektiven Gedächtniserosion des Kalten Krieges. Das Interessante an Verdrängung ist, dass man sie nicht bemerkt, weil sie ganz mühelos vonstatten geht. Seine Vorfahren gehörten im 12. Jahrhundert zu den Siedlern, die das Gallien jenseits der Alpen urbar gemacht haben. Die eingedeutschte Bezeichnung Transsilvanien hat er in den mittelalterlichen Dokumenten seiner Familie nachgeforscht. Im verwilderten Südosten der Karpaten schlug das Ungezähmte in das Menschliche um. Unweit von Munkács lebten seine Vorfahren in einer heilen Welt von stilvollem Wohlstand, intellektuellem Anspruch und humanistischen Werten.

Rückkehr der Lebensgeister. Anarchie bedeutet für Moritz nicht Chaos, sondern Freiheit von Herrschaft. Die zwischenmenschliche Eiszeit wirkt in einem unerbittlichen Gleissen, dass er die Augen zusammenkneift, um nicht schneeblind zu werden. Er sieht auf ihren Arbeitsplatz und möchte zusehen, wie etwas vergeht. Wie die vergehende Zeit etwas anrichtet mit den Menschen, ohne dass es die dramatische Schürzung eines Knotens braucht. Freundschaft bedeutet ihnen, dass sich Sabine und Moritz nicht mehr fragen müssen, worauf ihre Beziehung eigentlich gründet. Ihre Freundschaft zeichnet Vertrauen, Humor und Grosszügigkeit aus. Die Möglichkeit, sich zu unterhalten. Dass man sich weiter etwas zu sagen hat. Wissen wollen, was der andere denkt, und ihm gerne sagen wollen, was man selber denkt. Ihre Freundschaft hat damit zu tun, sich Raum zu geben und Freiraum zu bekommen. „Tut mir leid“ ist ihre Zauberformel. Es geht um das letztendlich Transzendente des Erlebnisses, wofür man jederzeit bereit sein muss. Eine Bindung zu einer Frau führt meist zu Rumknutschen, Sex oder einer gemeinsamen Lebensplanung. Menschen meidet sie wie Aids. Menschenscheu aufs Pathologische zu reduzieren, wäre allzu billig. Bei ihr steckt dahinter eine asketische Verweigerung. Die Freundschaft Sabine und Moritz wird geprägt von Sinnlosigkeit, sie hat keinen Zweck. Und genau das ist das Schöne daran.

 

 

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Leseprobe aus: Abgeschlossenes Sammelgebiet, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2014 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover

Postwertzeichen erschienen zum 20. Jahrestag der DDR. Entwertet am 9. November 1989

Weiterführend → Zur historischen Abfolge, eine Einführung. Eine Rezension von Jo Weiß findet sich hier. Einen Essay von Regine Müller lesen Sie hier. Beim vordenker entdeckt Constanze Schmidt in diesem Roman einen Dreiklang. Auf der vom Netz gegangenen Fixpoetry arbeitet Margretha Schnarhelt einen Vergleich zwischen A.J. Weigoni und Haruki Murakami heraus. Eine weitere Parallele zu Jahrestage von Uwe Johnson wird hier gezogen. Die Dualität des Erscheinens mit Lutz Seilers “Kruso” wird hier thematisiert. In der Neuen Rheinischen Zeitung würdigt Karl Feldkamp wie A.J. Weigoni in seinem ersten Roman den Leser zu Hochgenuss verführt.