Überlegungen zum lyrischen Gesamtwerk von A.J. Weigoni

Dieser Lyriker ist ein Sprachspieler, der die Worte abklopft als wären es Fruchthülsen.

im altertum verglich man das dichten mit der webkunst. marcus terentius varro sprach vom flechten der verse. auch kirchenslawisch und arabisch gab es die tradition des verseflechtens. in der dichtung der veden wurde die zungenspitze des dichters, der sein gedicht rezitiert, mit einem weberschiffchen verglichen. im althochdeutschen waren spinnen und weben synonyme für dichten. bei novalis webt die fabel geschichten. der text ist das gewebe der wörter, der sprache und der schrift. verwandt mit text sind lateinisch texere=weben, flechten, zusammenfügen, verfertigen, bauen, errichten, eigentlich kunstvoll verfertigen, textus=gewebe, geflecht, zusammenhang der rede, fortlaufende darstellung, gewebe der schrift, textūra=das weben, gewebe, zusammenfügung, verbindung, textor=weber und textile=gewebe, zeug, tuch, leinwand.

Coverphoto: Leonard Billeke

weigoni verbindet das profane mit metaphysischem, um heimzukommen »in die Ewigkeit der Gegenwart« (»Start up« in »Dichterloh«) und eine gegenwart zu überwinden, die bloß der hauswart der wirklichkeit ist. »Gesucht wird ein Mythos – zu finden sind viele einzelne Gedichte.« (»VerDichtung«). immerhin kann dichtung magische substanz individuell bewahren, während die kollektive magie zerfällt und verflacht. so erhält das entfremdete individuum, die zentrale ich-figur moderner lyrik, manches, das sonst verloren geht, noch am leben, wenngleich vom rande der gesellschaft her. nicht zuletzt deshalb hat der schreibprozeß auch einen therapeutischen sinn. »Nur wenn man ein Talent auslebt / kann man die Narben schützen.« heißt es in »Unbehaust«, »Einsamkeit ist auch nur eine Form / vor sich selbst zu flüchten.« in »Dichterloh«.

literaturmarkt und literaturbetrieb begegnet weigoni mit distanz. in Verweisungszeichen zur Literatur konstatiert er: »Die heutige Marktliteratur ist realistisch, optimistisch, fröhlich, sexy und didaktisch … Die meisten SchriftstellerInnen haben die künstlerische Kontrolle über die Resultate ihrer Arbeit verloren und lassen sich vermarkten … Vom utopischen Surplus der Literatur bleibt nicht mehr viel. Statt dieses Mehrwerts liefert die Literatur das, was den Waren zu mehr Wert verhilft … Die Zielgruppe ist an die Stelle der Öffentlichkeit getreten.«, und gibt zu bedenken: »Das Bedürfnis nach Subjektwerdung kann niemals wirklich durch den personalisierten Konsum standardisierter symbolischer Güter gedeckt werden … Als Notwehr dagegen bleibt, eine VerDichtung zu betreiben, ohne sich Illusionen über Kommerzialität und Zeitgeist-Kompatibilität zu machen … Gedichte müssen aus Not und Notwendigkeit entstehen und nicht als Geschäftsgrundlage. Lyrik ist eine Kunstdisziplin, die ihren Weg von unten nach oben antreten muss.«

gustave flaubert machte geltend, ein kunstwerk sei nicht schätzbar, habe keinen handelswert und könne nicht bezahlt werden. pierre bourdieu stellte illusionslos fest: »Produzent des Werts des Kunstwerks ist nicht der Künstler, sondern das Produktionsfeld als Glaubensuniversum, das mit dem Glauben an die schöpferische Macht des Künstlers den Wert des Kunstwerks als Fetisch schafft.« roland barthes erklärte: »Der Schriftsteller befindet sich in einer derart extremen Außenseiterrolle, daß er nicht einmal in den Vorteil jener Art von Solidarität kommt, die zwischen bestimmten Typen von Außenseitern oder Minderheiten besteht.«, und, noch zugeschärfter: »Der Schriftsteller behauptet sich in der heutigen Gesellschaft nur als ein Perverser, der seine Praxis als eine Utopie erlebt, er neigt dazu, seine Perversion, sein „Für-Nichts“, als eine soziale Utopie zu entwerfen.« natürlich kann man den wert der literatur nicht allein von ihrer wirkung her definieren. sonst wären etwa die stücke kleist fürs 19. jahrhundert wertlos und kafkas prosa hätte in seiner lebenszeit kaum wert gehabt.

wenigstens in einigen bereichen der gesellschaft, und dazu gehören kultur, bildung, medien, kinderbetreuung, gesundheitswesen und sport, sollten geldmechanismen, mit denen der ideelle wert einer arbeit nur unzureichend erfaßt wird, nicht bestimmen, da sie sonst verwerfungen anrichten und unrecht verursachen. denn selbstverständlich beschädigt und deformiert die geldgelenkte verwertung literatur und künste. wo die kunst zum nur noch kommerziellen faktor wird, entsteht häufig eher kunstgewerbe. auch der literaturbetrieb gerät so leicht zur bloßen begleitmusik einer strukturellen entwertung der eigentlichen literatur. wenn es allein um die popularität beim publikum ginge, wären iffland und kotzebue die wichtigsten dramatiker der »Goethe-Zeit« gewesen, die man dann besser »Iffland-Ära« oder »Kotzebue-Epoche« nennen sollte.

literarische oder künstlerische wirkungen und erfolge basieren ohnehin häufig auf projektionen, illusionen, mißverständnissen, irrtümern, inszenierungen, manipulationen, vereinnahmungen und mißbräuchen. denn die motivationen, antriebe, ambitionen und intentionen im schreibprozeß, die der künstlerische autor selber bewußt oft gar nicht wahrnimmt oder nicht einmal kennt, und die erwartungen der leser, das sind zwei völlig verschiedene wirklichkeiten. manche können die produkte der literatur interpretieren, die spezifik ihrer entstehung verstehen schon viel weniger und eigentlich bloß winzige minderheiten, die immerhin miteinander reden sollten.

aufgrund ihrer strukturellen entwertung durch den sieg der verwerter über die schöpfer unterm diktat der geldwirtschaft verliert die literatur nahezu zwangsläufig an gesellschaftlichem wert. »Eine Waare mag das Produkt der komplicirtesten Arbeit sein, ihr Werth setzt sie dem Produkt einfacher Arbeit gleich und stellt daher selber nur ein bestimmtes Quantum einfacher Arbeit dar.« schrieb karl marx in »Das Kapital / Kritik der politischen Oekonomie«, und: »Als Gebrauchswerthe sind die Waaren vor allem verschiedner Qualität, als Tauschwerthe können sie nur verschiedner Quantität sein, enthalten also kein Atom Gebrauchswerth.« gedichte anbieten ist wie mit spielgeld einkaufen wollen.

selbst wenn man sich anschaut, aus welchen gründen lyrik anderswo noch einen höheren öffentlichen wert besitzt, findet man dafür überwiegend außerliterarische gründe. slawische völker schätzen dichter traditionell, indem sie ihnen als seher und priester sowie lebensweise weltdeuter und ratgeber erscheinen, islamische kulturen, da viele ihrer lyriker mystiker waren und damit religiosität stifteten, trotz des anfänglichen mißtrauens mohammeds dichtern gegenüber, lateinamerikanische völker, weil dort schriftsteller zwischen tradition und moderne vermitteln und öfter politische oder soziale aktivisten sind. in nordeuropa, wo regierungen teilweise verdienstvollen autoren lebensstipendien verleihen, gewinnt die literatur ihre wertschätzung nicht zuletzt durch ihre bedeutung für die nationale identität dieser länder. österreich fördert seine kultur unter anderem, da diese, zumindest unbewußt und indirekt, an die weltmacht der monarchie erinnert, wovon sie praktisch allein übrigblieb. kleinere völker schätzen ihre kulturen, die gegenwärtigen wie die überlieferten, insgesamt mehr.

edgar allan poe, der ausgeprägte wirkungsästhetische strategien hatte, stellte die idealistischen motivationen der literatur infrage. etwa schrieb er in »Die Methode der Komposition«: »Fest steht, daß Originalität (außer bei besonders kraftvollen Geistern) keineswegs, wie manche meinen, eine Sache des Instinkts oder der Intuition ist. Im allgemeinen läßt sie sich nur durch mühseliges Suchen finden, und sie verlangt, wenngleich von höchstem positivem Wert, für ihre Verwirklichung doch weniger Einfall als Auswahl.«, und: »Die meisten Verfasser – insbesondere die Poeten – möchten gern so verstanden sein, als arbeiteten sie in einer Art holden Wahnsinns – einer ekstatischen Intuition –, und sie würden entschieden davor zurückschaudern, die Öffentlichkeit einen Blick hinter die Kulissen tun zu lassen: auf die verschlungene und unschlüssige Unfertigkeit des Denkens – auf die erst im letzten Augenblick begriffene wahre Absicht – auf die unzähligen flüchtigen Gedanken, die nicht zu voller Erkenntnis reiften – auf die ausgereiften Ideen, die verzweifelt als nicht darstellbar verworfen werden – auf die vorsichtige Auswahl und Ablehnung – auf das mühsame Streichen und Einfügen – kurz, auf die Räder und Getriebe – die Maschinerie für den Kulissenwechsel – die Trittleitern und Versenkungen – den Kopfputz, die rote Farbe und die schwarzen Flecken, die in neunundneunzig von hundert Fällen die Requisiten des literarischen Histrionen ausmachen.«

was kunst und literatur, die keine modelle für die gesellschaft sein können, anregt, indem es kreative energien freisetzt, kann zugleich sozial verheerend wirken. eine lebensreal inszenierte phantasiewelt wäre barbarisch. bliebe das leben nicht hinter der kreativen konsequenz der kunst zurück, die straßen wären gepflastert mit knochen. »Können Sie sich das unvergleichbare Chaos vorstellen, das zehntausend absolut einzigartige Wesen anrichten?« fragte paul valéry in »Monsieur Teste«.

weigoni läßt sich von desillusionierungen, die entstehen, wenn er mit einer massenhaften reproduktion plakativer ideen und »Inkompetenzkompensationskompetenz« (»Dehumanisierungsprozess« in »Dichterloh«) konfrontiert wird, »Meine Mitmenschen haben sich / einer Sprachschulung unterworfen / die darin befähigt / Fragen wortreich unbeantwortet zu lassen.« (»Unbehaust«), die hoffnungen, ernst bloch hatte darauf verwiesen, daß hoffnung nicht zuversicht sei, auf einen lebbaren eigenständigen wert der literatur, die er als motivation braucht, nicht zerstören, zumal die sprache, die ihm in ihren tiefen und nuancen halt gibt, seine eigentliche heimat ist.

seine texte haben, neben aller analyse, die sie zugleich bieten, oft einen theoretischen, programmatischen, postulierenden ansatz. postulate kompensieren häufig reale erfahrungen. und sie enthalten utopische substanz, indem sie auf uneingelöstes und unerfülltes verweisen. lateinisch postulāre bedeutet verlangen, begehren, wollen, erwarten, fordern, siehe lateinisch poscere=fordern, verlangen, forschen, fragen, anrufen, anflehen, spätlateinisch bitten, beten. in der philosophie war ein postulat seit dem 17. jahrhundert eine logische, methodische und erkenntnistheoretische annahme und these, die nicht, oder noch nicht, bewiesen werden konnte. verwandte worte sind deutsch forschen und fragen. andererseits kennt er natürlich die gefahren des theoretisierens und postulierens und reflektiert kritisch seine eigenen ideen, ist also sozusagen ein theorieskeptischer theoretiker.

weigoni wird zu recht als sprachakrobat und wortkünstler bezeichnet. »Durch Sprache zur Welt finden und durch das Buchstabieren der Welt zur Sprache.« heißt es in »Unbehaust«, »Es beginnt immer mit einem Wort.« und »Sprache schafft Realität, mit Worten und durch Worte konstruieren wir Welt.« in »VerDichtung«. angestrebt ist eine »Verschränkung von Schriftlichkeit, Bildlichkeit und Tonalität«. der autor, der sich mit sprachtechniken bei arno schmidt beschäftigt hat, was man etwa in »Letternmusik« und »Dichterloh« merkt, erweitert durch die komposition der worte, die musikalischen prinzipien folgt, und mit verfremdungen im wortmaterial seiner kodierten und entkodierenden texte, das er permanent umformt und zu dem auch umgangssprache, redensarten, dialekt und wissenschaftsvokabular gehören, das spektrum des sprachlichen ausdrucks. indem er, neben rhythmen und lautmalereien, sprachliche schichtungen, brechungen und ambivalenzen, inbegriffen ironisierungen, parodien und persiflagen, nutzt und schafft, können sich verschiedene sprachebenen berühren und verbinden sowie gegenseitig kommentieren und relativieren. derart spielt er auch mit rastern und facetten der verständigung. »Jede Schrift und jedes Sprechen ist immer mehrdeutig und offen, weil sprachliche Zeichen sich nicht in ihrer konkreten Bezeichnungsfunktion erschöpfen, sondern untereinander kommunizieren.« (briefzitat weigoni). jean paul sartre sprach vom bedeutungshumus der sprache. literatur wird so zum sprachlabor. französisch labour heißt pflügen und ackern, labourer (um)pflügen, ackern, aufwühlen. laboratorium bedeutete mittellateinisch werkraum, werkstatt, deutsch später destillierstube, alchemistenküche. manche gedichte, die schrift, zeichnung und metapher, die übers sichtbare hinausweist, ineinander übergehen lassen, nähern sich grafischen formen. zudem verraten die texte ein vertrautsein mit filmischen techniken und besonders denen des filmschnitts.

horaz schrieb in »Über die Dichtkunst«: »Wie die Bäume mit ihren Blättern zur Jahresneige sich wandeln, ihre ersten abfallen, so sterben auch Wortveteranen, so blühen eben geborene Wörter und sind kräftig wie Jünglinge. Wir schulden dem Tode uns und das Unsre … Menschenwerk wird vergehen, Geltung und Ansehn der Wörter, wie könnten sie ewig leben! So werden viele längst schon untergegangene Wörter von neuem geboren, es werden vergehn, die heute geschätzt sind, falls es der Sprachgebrauch will.« viele techniken der dichtung, selbst manche, die wir der moderne zuordnen, sind jahrtausende alt. beispielsweise enthielten religiöse und magische rituale vielfach sprachakustische elemente. auch mystiker verschiedener religionen, so jüdische und islamische, kannten buchstabenundzahlenmagie sowie klangundlautmalerei, etwa bei der bezeichnung und anrufung des gottesnamens, lange bevor moderne lyrik sprachspielerisch und lautmalerisch auftrat. lichtenberg zitierte an einer stelle zahlreiche lautnachahmende wörter und schrieb dann: »Diese Wörter und noch andere, welche Töne ausdrücken, sind nicht bloße Zeichen, sondern eine Art von Bilderschrift für das Ohr.«

bei walter benjamin, einem erkunder der labyrinthe, heißt es einmal, kindern seien wörter wie höhlen, zwischen denen sie seltsame verbindungswege kennen. spuren der sprache folgend läßt weigoni wortwurzeln anklingen und die wörter, als erspürer und erdenker ihrer genesis und helfer bei ihrer geburt, oder wiedergeburt, aus sich selbst wachsen. die wortbildungen der frühen sprachen bezogen sich meist auf sinnlich konkrete eigenschaften, merkmale und erscheinungen der bezeichneten dinge, wovon die bildhaftigkeit der sprache bis heute lebt. wer die ursprünge der sprache versteht, kommt der poesie schon nahe, die ebenfalls aus bildhaftem und assoziativem wahrnehmen wächst, das klang und sinn zusammenfügt. man findet so sinnliche versprachlichung und sprachliche versinnlichung, »Klang-Rede« und »Wort-Laut« (»VerDichtung«). worte wie »Kipppunkt« (»ML I-III« in »Dichterloh«) oder »artIQlation« (»UEberkommen« in »Letternmusik«) entstehen gleichermaßen durch spiel und analyse. selbst laute lassen derart sinn anklingen. manches könnte man komponierte sprach-mathematik nennen. indem die höhere mathematik in philosophie und musik übergeht, enthält sie auch übergänge ins sprachliche. die antiken universalgelehrten trennten diese bereiche sowieso nicht, sondern betonten deren einheit.

der eigene anspruch ist hoch: »Gedichte sind freie Zeichen, die auf keinen schon fertigen Code bezogen werden können, sondern die ihre Leser zum Entwerfen neuer Zeichensysteme herausfordern. Aus dieser Sicht verkörpert jedes Gedicht durch seine spezifisch ausdifferenzierte Gestalt eine multiple und komplexe Bedeutung, die nicht unmittelbar auf der Hand liegt, sondern die es im Prozess einer ästhetischen Reflexion erst und immer wieder frisch zu ergründen gilt. Die ästhetische Qualität eines Gedichts erweist sich darin, ob sich seine Gestalt bis in die Details hinein durch diesen vom Betrachter auszulotenden semantischen Gehalt erklären lässt; ist das nicht der Fall, hätten wir es mit einem Zeugnis bloßer künstlerischer Willkür zu tun.« (»VerDichtung«).

tatsächlich ist die genauigkeit, mit der weigoni, dem das präzise denken spürbar freude bereitet, worte in ihren nuancierten bedeutungen erkundet, erstaunlich. wenn er sprache demontiert und dekonstruiert sowie neu montiert und neu konstruiert, »aus dem Wortwerk wird ein Wortbruch« (»Wesenheiten« in »Dichterloh«), hinterfragt er zugleich ihre strukturen und kodierungen. und wir brauchen die genaue sprache, gerade weil unsere gedanken immer nur vorübergehende erkenntnisse enthalten, die wir wieder überwinden müssen. indem er permanent über antriebe, stoffe und techniken seines schreibens, denkens und empfindens nachdenkt und in gedichten eine intellektuelle reflexivität erreicht, die man sonst eher in essays findet, ist er, als wissender autor, oft selbst der beste kommentator seiner texte. »Essayist ist man, weil man ein Kopfmensch ist.« schrieb roland barthes (»Die Körnung der Stimme«)

»Inhärentes Programm aller Dichtung ist es, die Sprache, die uns von der Welt trennt, durchlässig zu machen … die produktiven Vielheiten unserer Umwelt zu erzählen, erfahrbar und mitteilbar zu machen, eben: Bewusstsein also Realitäten mit Kommunikationen zu verunreinigen – das ist die Aufgabe und die Möglichkeit zeitgenössischer Literatur.« schreibt weigoni im brief. er will bedeutungen sichtbar werden lassen, ohne sie durch allzu große eindeutigkeit zu vergröbern. dies heißt auch, das vorgefertigte und verfestigte der sprache, deren verschiedene bewußtseinsinhalte potentiell stets gleichzeitig verfügbar sind, analytisch und sprachgestalterisch zum mehrdimensionalen verständnis hin aufzubrechen, damit entwicklung möglich wird und die wörter veränderungen der menschen und ihrer wirklichkeiten nicht nur entsprechen, sondern ihnen vorausgehn können. und das verlangt, das denken und erkennen selbst und damit geistige und intellektuelle prozesse und techniken zu reflektieren und zu hinterfragen, bis hinein in die strukturen der gegenstände und wahrnehmungen.

je tiefer man sich denkend einen gegenstand aneignet, umso mehr verschwinden die klaren kausalitäten, die man an der oberfläche gefunden hat, und man entdeckt vielschichtige und sich teilweise überlagernde labyrinthische, spiralförmige und fächerartige formen sowie widersprüchliche, ambivalente, paradoxe und absurde inhalte, die ein relativierendes denken verlangen. lateinisch relātiō bedeutet neben beziehung und verhältnis rücksicht. es gibt nie nur eine wahrheit, sondern immer verschiedene wahrheiten, die nebeneinander, oder auch gegeneinander, berechtigung haben. egon friedell schrieb in seiner »Kulturgeschichte der Neuzeit«: »Zunächst liegt es im Schicksal jeder sogenannten „Wahrheit“, daß sie den Weg zurücklegen muß, der von der Paradoxie zum Gemeinplatz führt. Sie war gestern noch absurd und wird morgen trivial sein. Man steht also vor der traurigen Alternative, entweder die kommenden Wahrheiten verkünden zu müssen und für eine Art Scharlatan oder Halbnarr zu gelten, oder die arrivierten Wahrheiten verkünden zu müssen und für einen langweiligen Breittreter von Selbstverständlichkeiten gehalten zu werden, sich entweder lästig oder überflüssig zu machen. Ein Drittes gibt es offenbar nicht.« eben dieses dritte wäre aber wichtig. »Was der Sinn fühlt, was der Geist erkennt, das hat niemals in sich sein Ende. Aber Sinn und Geist möchten dich überreden, sie seien aller Dinge Ende: so eitel sind sie.« sagt zarathustra bei nietzsche. »was wahrhaft tief geht / liegt gut vergraben.« heißt es in »Vage Vermutung« (»Letternmusik«), »gerade in der fernsten Fremde spricht / uns das Vertraute an.« in »Weite Ferne … unendlich nah« (»Dichterloh«). letzteres variiert die formulierung walter benjamins, die aura sei die »einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag«.

der autor folgt einem dynamischen denkprinzip, das ihn befähigt, sich stets von neuem mit den details der eigenen wahrnehmung zu beschäftigen, unter anderem indem er lineares denken sprachlich hinterfragt und aufhebt. der leser oder hörer findet bei ihm den stachel, der zur erkenntnis antreibt, und die relativierende und bergende denkhaltung. viele gedanken haben aphoristische schärfe. doch indem er vieles durchschaut und empört, aufbrausend, sarkastisch darauf reagieren kann, weiß er auch, wie man gütig handelt. humanität und skepsis bedingen einander. seine skepsis ist die andere seite seines idealistischen anspruchs. und vor allen idealisten steht, sofern sie nicht früh zugrunde gehen, die frage, ob sie ihren heißen utopischen kern abkühlen können, ohne ihn aufzulösen und selber zu erkalten.

die literarischen techniken seiner texte, die unterwanderungen und verfremdungen vorgeprägter sprache, die ironischen untertöne, die aphoristischen sentenzen, die filmischen momentaufnahmen, dienen auch einem reflexiv vom intellekt gelenkten und dabei häufig paradoxen und persiflierenden spiel. wenn weigoni postulaten, die ihm abstrakt erscheinen, ob mythen, utopien oder moralvorgaben, mißtraut, zugleich aber den mangel an ideell gelebtem in vorgefundener wirklichkeit konstatiert, verweist er auf ein grundproblem postmoderner intellektualität. sarkasmus und ironie sind so auch refugien gegen eine totale ernüchterung, obwohl, oder weil, viele stellen dem analytisch genauen blick eines heiner müller, ernst jünger, paul virilio oder jean baudrillard nahe kommen.

weigoni mißtraut jedem systemdenken, schreibt von der »Totenstarre des Determinismus« (»ML I – III« in »Dichterloh«) und »Gletschern der Abstraktion« (»Bewegungsprofil« in »Dichterloh«) und versucht die worte zu befreien, indem er sie aus ihren begrifflichen prägungen herauslöst. »die spröde Spreu / vom Weizen / der Sprache / trennen« postuliert das gedicht »Phrasendreschpflegel« in »Letternmusik«. »Die Worte ruinieren, was man denkt.« meinte thomas bernhard. in begriffen degeneriert die substanz. und keine einzige aussage, ja kein einziges wort, ist unter allen umständen gültig oder gar allgemeingültig.

eine skeptisch-reflexive denkhaltung bewahrt vor illusionen, auch denen eines allzu sehr der vorgefundenen wirklichkeit angepaßten und verpflichteten realismus oder pragmatismus. günther anders schrieb schon vor jahrzehnten: »Wer heute einen Weltausschnitt so wiedergibt, wie er sich der Wahrnehmung bietet, also „realistisch“, der flieht, da das Wahrnehmungsbild mit dem bildlosen Bild unserer heutigen horizontlosen Welt nichts mehr zu tun hat, in einen Elfenbeinturm, auch wenn er diesen Turm mit der Portalaufschrift „Wirklichkeit“ tarnt.« »Kein Ding ist so, wie es aussieht.« wußte hugo ball, der die befreiung der dinge von ihren erscheinungen forderte.

indem sprachanalyse und sprachklang, philosophieren und musikalität spielerisch verbunden werden, kommt zum ernst die leichtigkeit und unterwandert so realitäten, wo sie nicht übersteigbar sind. »Wo gespielt wird, kann logisch (oder zeichentheoretisch) die Wirklichkeit nicht sein. Das wussten schon die alten Griechen: die Darstellung des Ritus ist Literatur – kein Ritus mehr.« (briefzitat weigoni). die spielerische aneignung, reflexion und nutzung von medienundkommunikationstechniken, die man in weigonis texten findet, ist nicht zuletzt, über die literatur hinaus, deshalb sinnvoll, weil sie angeborene gaben des menschen nutzt, der spielerisch lernt. die gesellschaftsverändernden wirkungen einer spielerischen kultur verlangen freilich sehr viel geduld.

die stimme sei der »Fingerabdruck des / Charakters« heißt es im gedicht »Leerstelle« in »Dichterloh«. der autor liest seine texte, die man eigentlich vor augen haben und mehrfach lesen muß, um ihre sprachlichen nuancierungen und assoziativen anklänge sowie fließenden übergänge und brüche wahrzunehmen, mit einer stimme, die ähnlich verfremdet und kommentiert wie das geschriebene wort. »Vorgetragene Poesie strebt danach, die vermeintlich klare Form der Sprache aufzulösen und über die Ränder des Verstehbaren zu treiben.« (briefzitat weigoni). indem er die gedichte sprechend als in musik verwandelte sprache interpretiert und gestaltet, verbindet er wieder, was bei den dichtern der alten kulturen, ob skalden oder veden, natürlicherweise zusammengehörte.

auf die musikalität der zugleich sprachanalytischen texte, und damit das kunstvolle der andeutungsreichen sprache weigonis, sei überhaupt hingewiesen. dynamisches sprachspiel und konzentrierte analyse ergänzen sich hier, ja gehen auseinander hervor. die sprache fließt durch präzision, klarheit und konzentration. der zeilenbruch schafft zugleich brüche und fließende übergänge, so daß bruch, stauung und fluß verschmelzen. zeitgeistgeprägten leseundhörgewohnheiten, die von sich immer mehr beschleunigenden, und dabei nur selten innehaltenden oder gar vertiefenden, oberflächeneindrücken bestimmt sind, ist dies freilich etwas sehr fremdes. wer hingegen keinen trends des zeitgeistes folgt, kann nebenflüsse schaffen, mäanderströme der kultur. manche gedichte formulieren die sehnsucht des gehetzten ich nach kontemplativer bergung gegenüber einer vitalistisch durchorganisierten welt. musik, die metaphysische tiefe und technische perfektion zu verbinden vermag, erscheint in diesem zusammenhang als alternative zur reinen technologie. denn »die Musik des / Lebens kommt aus / der Stille.« (»Mili\Meta/Ebenen« in »Letternmusik«). bei thomas bernhard findet sich der gedanke, daß das gehör das philosophischste aller sinnesorgane sei. im hörbuch »Praegnarien / Philip Bracht, Haimo Hieronymus & A. J. Weigoni«, das bei der »Edition Das Labor« erschien und hörbar macht, welches auftrittsundvortragstalent weigoni hat, entspricht die musik von philip bracht (posaune) und frank michaelis (saxophon) kunstübergreifend dem improvisierenden, und dabei teils auch ironischen, der sprachspiele und sprachexperimente, während der maler haimo hieronymus den höreindruck verbildlicht.

weigonis texte sind ernst jandl und mauricio kagel nahe gerückt worden. manches verbindet ihn auch mit ror wolf, so die sprache als akteur und die hinterfragung und behandlung sprachlicher produkte als eigentlichem inhalt der literatur, die deformation und neuformation vorgefundener sprachformen und sprachinhalte, die reflexive und ironische distanz dem material gegenüber, montagetechniken, die hinwendung zur hörbaren literatur, bis hin zum akustisch experimentellen, eine jazzähnliche sprachliche improvisation, die thematisierung medialer wirkungen, einflüsse der filmkunst, die einbeziehung des profanen, populären, genrehaften und trivialen, ohne daß damit vordergründig populäre leseroderhörererwartungen bedient werden. auch korrespondenzen zu franz mon, ferdinand kriwet, hans g. helms oder elfriede jelinek lassen sich finden.

literatur und letter gehören zusammen. der autor, der von »Papierwohnungen« weiß, (»Bannkreis« in »Letternmusik«), fühlt sich unverändert mit dem buchdruck verbunden. man lese, wie er über die verletzbarkeit des papiers, der haut der gedruckten schrift, spricht, das die sprache bei veröffentlichungen trägt und ihn mit andern menschen, ja dem menschlichen überhaupt, verbindet: »Zwischen Mensch und Papier gibt es eine Intimität, eine geradezu körperliche Affinität. Papier ist dem Menschen ähnlich. Es ist schwach und altert. Der kleinste Unfall, und es reißt. Die Asiaten verehren das Papier für diese Schwäche, die der unsrigen nahekommt. Das Papier hat sich auf die Seite unserer Verwundbarkeit und Sinnlichkeit gestellt.« (»VerDichtung«). laut chinesischer überlieferung wurde papier von menschen erstmals im jahr 105 hergestellt.

»Eine virtuelle Realität ist meiner Anschauung nach nur dann sinnvoll, wenn sie eine andere Art der Sinnlichkeit ermöglicht.« schreibt weigoni in »VerDichtung«. als die tiefsten und intensivsten texte und passagen empfinde ich jene, in denen sich, »auf / dem Weg vom Logos zum Eros.« (»Vignetten« in »Dichterloh«), auch vom »Logos des Fleisches« (»An der Demarkationslinie der Sprache« in »Dichterloh«) ist die rede, intellekt und sinnlichkeit, reflexionen und metaphern verbinden und miteinander verschmelzen. indem der autor körperliches erleben beschreibt und reflektiert, entdeckt er dessen teils verborgenen ausdruck in der sprache. umgekehrt werden sprachkörper, »lustlesewandelnd« (»RAPSOdie« in »Letternmusik«), erotisiert. besonders in »Letternmusik« und »Dichterloh« sind, und zwar gerade obwohl die wahrnehmung mehr vom kopf her geschieht und der körper auch als lebendes material betrachtet wird, geistig sinnliche symbiosen von großer intensität und tiefe zu finden, mit denen der reflektierende intellekt sinnliche bedeutungen der worte freilegt.

»Da der Mensch nicht mehr Natur ist, sollte er wenigstens in seiner Sprache so natürlich, so aufrichtig wie möglich sein, und eine gegenwärtige Sprache finden, die sich öffnet für das Mysterium der Dinge.« (»VerDichtung«). die dem griechischen philosophen longinus zugeschriebene schrift »Über das Erhabene«, die noch im 18. jahrhundert nachwirkte, postulierte die einheit aus natur und kunst: »Dann nämlich ist Kunst am Ziel, wenn sie Natur scheint; die Natur wieder ist vollendet, wenn sie die Kunst unmerkbar einschliesst.« heute fragen wir uns, ob »ein reines Schauen … ohne kuenstlichen Zauber« (»Poeten der Tatsachen« in »Dichterloh«) überhaupt möglich sei. wirkliche naturlyrik gibt es sowieso kaum noch, zumindest in europa, sondern allenfalls kulturnaturlyrik. naturmetaphern beschreiben fast immer bereits menschlich angepflanzte, bearbeitete, produzierte und beeinflußte kulturnatur. natursymbole gleichen also mehr forstbäumen als waldbäumen. wir sind umstellt von naturattrappenundprothesen. der intellekt hat die seelen der menschen gepflastert wie der asphalt die erde der städte. dabei wurzelt symbolik, wenigstens ursprünglich, ganz erheblich in der naturbeobachtung, auf die man ganze mythenkomplexe zurückführen kann.

ernst jünger schrieb über die menschen des altertums: »Im Mythos finden wir die Spuren eines Schmerzes, der sich an ihren Abschied von den Höhlen, den Wäldern, den stillen Strömen knüpft. Er gleicht dem unseren. Wie ein Echo davon kommt in der Spätantike das Gerücht vom Tode des großen Pan auf. Von dieser Trauer, die dem Verlust des Erd- und Naturgeistes gilt, ist auch Guèrins „Le Centaure“ durchtränkt. Sie, und nicht die Sehnsucht nach im historischen Sinne abgelebten Zeiten, bildet den Kern der romantischen Philosophie. Auch gibt es keine Lyrik ohne diese Mnemosyne.« so gesehen bewahren natursymbole verlorene natur, oder zumindest die erinnerung daran, und bergen sie. »daß ein großer Teil aller Natur-Lyrik, besonders der Romantik, zu den Ausdrucksformen des Archetyps der Großen Mutter gehört.« erklärte der psychoanalytiker erich neumann. zugleich ist die poetische kindheit auch nur ein mythos. »und kommen ihnen zärtliche Regungen, so meinen die Dichter immer, die Natur selber sei in sie verliebt.« sagt nietzsches zarathustra.

aufgrund der immer rasanter werdenden geschwindigkeit der technologischen prozesse brauchen wir mehr als zuvor die fähigkeit der geistigen vorwegnahme, zur voraussicht möglicher gefahren und zum entwickeln alternativer lösungsvarianten. bereits darstellungen der höhlenmalerei zeigen götter, die in wagen fahren. erst jahrtausende später sind die menschen so gefahren. schon leonardo da vinci hatte ein u-boot konstruiert. mondflüge geisterten jahrhunderte vor der realen raumfahrt durch die literatur. die phantasie ging also vielfach der technischen machbarkeit voraus. inzwischen hat sich das verhältnis umgekehrt und die geistig-ideellen prozesse bleiben hinterm tempo der technologischen zurück, wodurch letztere unter umständen unkalkulierbare wirkungen produzieren können.

in einem gedicht aus »Letternmusik« heißt es: »Meine Generation ist daran gescheitert / das Physische mit dem Intellektuellen zu verbinden.« »Die Kältetendenz rührt vom Eindringen der Physik in die moralische Idee.« schrieb ossip mandelstam. viele der texte weigonis beschreiben und reflektieren das spannungsfeld zwischen sinnlichkeit und technik sowie die zunehmende technisierung der sinnlichen wahrnehmung, die neue möglichkeiten menschlichen erlebens erschließt und zugleich verwerfungen verursacht. »Der Mensch, losgekettet von Religion und Humanismus, ist sein eigenes Produkt geworden, der Körper seine einzige Utopie. Nicht dem Sonnenstaat, sondern dem Astralkörper gilt die Sehnsucht; nicht Gedanken schaffen eine neue Welt, sondern Pharmazie und Chirurgie einen fortwährend sich erneuernden, in der Erneuerung sich zerstörenden Leib.« (»VerDichtung«). vielleicht ist die künstlichkeit der medienwelten nur der modische vorbote, die triviale ouvertüre, zur herstellung eines künstlichen menschen. wozu braucht man noch natürliche natur, denken heute schon viele, wenn man sie im zeitalter ihrer technischen reproduzierbarkeit als künstliche kaufen kann. womöglich stehen wir vor einem urknall der technologien, den kulturelle phänomene bloß einleiten und begleiten und der alle bisherige natur hinter sich zurückläßt.

im gedichtband »Dichterloh«, der sich unter anderem mit der sprache der neuen medien auseinandersetzt, läßt das gedicht »Zuegellos zukunftsorientiert« die vermutung anklingen, daß die technisierung auf paradoxe weise in animalisierungen umschlagen könne. die welt der medien funktioniert mehr noch als die wirkliche nach pawlowschen reflexen. führt uns das virtuelle zuletzt ins animalische zurück? descartes betrachtete tiere als automaten. »Wir tun alle Augenblicke etwas, das wir nicht wissen, die Fertigkeit wird immer größer, endlich würde der Mensch alles ohne es zu wissen tun und im eigentlichen Verstand ein denkendes Tier werden. Vernunft nähert sich der Tierheit.« hatte lichtenberg geschrieben. elias canetti prognostizierte, mit wachsender erkenntnis würden dem menschen die tiere wieder näher sein. wenn sie dann aber so nahe seien wie schon einmal in den ältesten mythen, werde es keine tiere mehr geben.

ein hauptfeld künftiger naturveränderungen scheinen die biotechnologien zu sein, mit denen gleichermaßen medizinische hilfe und körpermanipulation, chancen der lebenserweiterung und gefahren der lebenszerstörung verbunden sind. der mensch kommt bei seinen veränderungen der natur wieder an, wovon er einmal ausgegangen war, beim eigenen körper, der sich einst vielleicht ebenso vom natürlichen leib unterscheiden wird wie eine autobahn von einem trampelpfad. und je mehr der mensch automaten gleicht, umso stärker hat er das bedürfnis, wieder ganz tier zu werden. bis beide daseinsweisen ineinander aufgehn und eine neue barbarei daraus entsteht. die reaktionsweisen der computer ähneln schon animalischen instinktverhalten. man muß nur noch den menschen zwischenschalten.

»Der Dichter ist nicht nur Medienarbeiter, sondern auch Medium.« (briefzitat weigoni). in den lyrikbänden »Dichterloh« und »Letternmusik« versucht weigoni die erlösung von erfahrungen der lebenswirklichkeit durch virtuelle neukompositionen und neukonstruktionen, die auch, nicht zuletzt durch sprache, indem dichtung zum medium der welterschaffung wird, gegenwelten formieren, und seien es nur »kleine Sinn-Inseln im Ozean des Unbegreiflichen« (»Klangwerkzeug im Satzbaukasten« in »Dichterloh«). die gedichte nehmen erscheinungsformen und ausdrucksweisen moderner medienundkommunikationstechniken auf und transformieren diese, indem sie deren sprache spielerisch und virtuos verwenden und zugleich, mit aufklärerischem anspruch, kritisch reflexiv ihre funktionen hinterfragen. im jüngst erschienenen band »Parlandos / Langgedichte & Zyklen von A. J. Weigoni« begegnet man etlichen seiner besten, und insbesondere sprachlich dichtesten, texte wieder.

weigoni hat ein gespür dafür, daß die mentale bewaffnung der individuen im konkurrenzkampf gegeneinander, die den bloßen egoismus siegen läßt, letztlich individualität zerstören und die verwertung menschlicher leistungen menschen entwerten kann. »Was nutzt uns alle Freiheit / wenn wir von der kommerziellen Verwertbarkeit / aller menschlichen Regungen / vollkommen umgeben sind?« (»Unbehaust«). die monodramen »Unbehaust« und »Señora Nada« beschreiben entfremdung, ideelle obdachlosigkeit und existentielle unsicherheit, die der autor wiederholt an frauenfiguren sichtbar macht. der satz »Überwältigende Fremdheit wird zum / Sinn des Aufbruchs.« in »Unbehaust« könnte andeuten, daß menschen gezielt entfremdet werden, weil dies fluchtbewegungen hervorruft, die dynamik erzeugen.

»Unbehaust«, ein monolog der schwer kranken chinesischen einwanderin jo chang, zielt durch reflexive sprachbehandlung aufs wesentliche und vermeidet so allein schon stilistisch die monologische darstellung von bloß momentanen eindrücken und privaten befindlichkeiten. das bewußtsein der krankheit und das leiden an der zivilisation verschmelzen in der hellsicht der figur, die als physisch und psychisch versehrte spricht, was ihre sprache, bei aller sensibilität der wahrnehmung, teilweise hart und abstrakt macht. die emigrantin wird indes exemplarisch, indem sie die aufspaltung der realität in disparate erfahrungssphären und darin ihr eignes fremdsein besonders extrem und existentiell wahrnimmt, und damit auch die seelischen deformationen, komplexe, lebenslügen, fragmentierungen, orientierungslosigkeiten und desorientierungen der andern umso genauer erkennt. weigoni selber sucht nach kräften, die das ich wieder defragmentieren.

die namensgebende figur aus »Señora Nada«, also nichts, betrachtet ihre wirklichkeit bewußt aus der distanz und nimmt sie doch, wie in einem reich zwischen alltagsrealität und traumhaftem erleben, hochsensibel wahr. bei ihr, die vielleicht eine utopische figur ist, möglicherweise sogar ein utopisches ich des autors selbst, hat man das gefühl, daß sie aufgrund ihres ganzheitlichen wahrnehmens vollkommen in sich ruht und gerade deshalb die zerrissenheiten ihrer lebenswelt sieht. mehr scheint derzeit kaum machbar.

 

 

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Leben’n’Werk, das lyrische Gesamtwerk von A.J. Weigoni in einer TB-Studienausgabe. Edition das Labor 2021

Coverfoto von Leonard Billecke

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Jeder Band aus dem Schuber von A.J. Weigoni ist ein Sammlerobjekt. Und jedes Titelbild ein Kunstwerk. KUNO faßt die Stimmen zu dieser verlegerischen Großtat zusammen.
VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, ein Essay von A.J. Weigoni in dem er dichtungstheoretisch die poetologischen Grundsätze seines Schaffens beschreibt.

Zuletzt bei KUNO, eine Polemik von A.J. Weigoni über den Sinn einer Lesung.