KONTROLLE

ich bin in einer bahnhofshalle und veranstalte an einem lagerfeuer eine feier mit alten freunden. wir hören musik. ich erkläre, daß ich beim »hummelflug« zum venusberg fliegen würde. doch die freunde finden die richtige schallplatte nicht. ich frage meinen vater danach, der auf einem baugerüst hoch über mir steht und schallplatten durch rohrleitungen hinabgleiten läßt. ich ermahne ihn, dies vorsichtig zu tun, damit die platten nicht beschädigt werden. er fühlt sich aufgrund meiner ermahnung beleidigt und wirft einen ganzen behälter voller schallplatten herunter. ich fange den behälter auf und schleife ihn hinter mir her, wobei er kratzspuren im parkett hinterläßt. unversehens greift mich ein verwahrlost aussehender polizist von hinten am kragen und verlangt 50 mark strafgebühr von mir. ich gebe ihm das geld und gehe weiter. kurz danach packt er mich erneut und verlangt meine ausweispapiere. ich reiche sie ihm. »ach, sie sind jünger als achtzehn?«, sagt er, »dann muß ich sie nicht internieren.« »wieso internieren?«, frage ich. »mit achtzehn wird man interniert, wenn man auffällt.«, antwortet er. »warum gerade mit achtzehn?«, will ich wissen. »weil dies das einberufungsalter ist.«, erwidert er. »ach, sie fürchten eine flucht vor der einberufung?«, frage ich. »genau das.«, entgegnet er, und läßt mich stehn. darauf erwache ich und habe das gefühl, jemand sei in mein zimmer eingedrungen. ich schalte das licht an, sehe mich allein und notiere meinen traum.

 

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Traumnotate von Holger Benkel, KUNO, 2021

Radierung von Francisco de Goya

Die Frage nach der besonderen Kompetenz der Dichter für die Sprache und die Botschaft der Träume wurde durch Siegmund Freud fundamental neu gestellt. Im 21. Jahrhundert ist die Akzeptanz des Träumens und des Tagträumens weitaus größer als noch vor hundert Jahren. Träumen wird nicht mehr nur den Schamanen oder Dichter-Sehern, als bedeutsam zugemessen, sondern praktisch jedermann. Gleichwohl wird den Dichtern noch immer eine ‚eigene‘ Kompetenz auf dem Gebiet des Traums zugesprochen – Freud sah sie sogar als seine Gewährsmänner an, mit Modellanalysen versuchte er diese Kompetenz zu bestätigen. Die Traumnotate von Holger Benkel sind von übernächtigter, schillernd scharfkantiger Komplexität.

Weiterführend

In einem Kollegengespräch ergründeln Holger Benkel und A.J. Weigoni das Wesen der Poesie – und ihr allmähliches Verschwinden. Das erste Kollegengespräch zwischen Holger Benkel und Weigoni finden Sie hier.

Gedanken, die um Ecken biegen, Aphorismen von Holger Benkel, Edition Das Labor, Mülheim 2013

Essays von Holger Benkel, Edition Das Labor 2014 – Einen Hinweis auf die in der Edition Das Labor erschienen Essays finden Sie hier. Auf KUNO porträtierte Holger Benkel die Brüder Grimm, Ulrich Bergmann, A.J. Weigoni, Uwe Albert, André Schinkel, Birgitt Lieberwirth und Sabine Kunz.

Seelenland, Gedichte von Holger Benkel , Edition Das Labor 2015