Nicht nur zur Urlaubszeit

 

Beim Griff ins Regal greife ich dieser Tage nach den Vignetten von A.J. Weigoni. Eigentlich sollte es ein kurzer Blick auf ein Zitat werden, dann las ich mit in zweiten Kapitel fest. Dies ist eigentlich eine poetische Auseinandersetzung mit einer sechstausendjahre alten Kultur. Diese Novelle spielt auf den Totenkult der alten Ägypter und die mit ihm verbundene Vorstellung vom Jenseits an. Als Gegensatz zur griechischen Zweiteilung der Welt in ein Diesseits und Jenseits zeichne sich das dreistufige Modell der Ägypter in den orphischen Mysterien ab: Aus dem dunklen Hades kann man in Gefilde der Seligen aufsteigen; der Eingeweihte wandelt in esoterischer Ekstase als Dionysos-Osiris durch heilige Haine. Sein Geheimwissen führt ihn aus dem Totenreich ins jubelnde Leben des Ewigen – und das strahlt dann noch ins Christentum weiter. Schöpfung erfolgt seit jeher durch Nachdenken und nachfolgendes Aussprechen des Gedachten. Die Mythen und Mysterien, kreisen um den getöteten und wiederauferstandenen Osiris, der als Totenrichter die Herzen der Verstorbenen prüft und von dem die Gläubigen sich ein neues, osirisgleiches Leben erhoffen um die Vergänglichkeit des Seins zu überwinden.

Für die Ägypter gab es keinen Tod. Jeder Mensch konnte versichert sein, auf der anderen Seite der Erde eine neue Existenz vorzufinden, die der hier befindlichen ähnlich war und er konnte sich der verheissenen Ewigkeit erfreuen, ohne dass er im mindesten seine materiellen Reichtümer hätte aufgeben müssen, wenn er ein Gerechtfertigter inmitten der Planeten geworden war. Die Erfahrung des Todes hat den Menschen veranlasst, zum ersten Mal den Gedanken des Übernatürlichen zu fassen und eine Hoffnung über das Sichtbare hinaus zu heben. Der Tod war das erste Mysterium. Er hat den Menschen auf die Spur weiterer Mysterien gebracht. Hat ihr Denken vom Sichtbaren zum Unsichtbaren erhoben, vom Vergänglichen zum Ewigen, vom Menschlichen zum Göttlichen. Wenn wir modernen Menschen zögern, uns auf solche abstrakten Wege zu begeben, weil sie sich auf nichts Substantielles beziehen, kann man ebenso gut verstehen, dass wir in unserem Inneren nichts kennen, was unsichtbar ist und sich fortentwickelt oder zugrunde geht, ohne dass sich der Gang dieser Entwicklung oder Zerstörung unserem Verstand oder Gefühl einprägt.

 

 

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Vignetten, Novelle von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2009.

Titelmotiv: Schreibstab von Peter Meilchen

Weiterführend →

Constanze Schmidt zur Novelle und zum Label. Ein Nachwort von Enrik Lauer. KUNO übernimmt einen Artikel der Lyrikwelt und aus dem Poetenladen. Betty Davis konstatiert ein fein gesponnenes Psychogramm. Aus Sicht von Margaretha Schnarhelt sind sie verdichtet, streng durchkomponiert und durchrhythmisiert. Über die Reanimierung der instabilen Gattung Novelle und die Weiterentwicklung zum Buch / Katalog-Projekt 630 finden Sie hier einen Essay. Ein Hörprobe findet sich hier. Mit einer Laudatio wurde der Hungertuch-Preisträger Tom Täger und seine Arbeit im Tonstudio an der Ruhr gewürdigt.