ich gehe über ein mit vielen wilden blühenden blumen bewachsenes plateau und streife durch brombeergesträuch, dessen stacheln mir in den strümpfen hängen bleiben. plötzlich sehe ich löcher im erdboden und vermute einen fuchsbau. da höre ich hinter mir ein kreischen, drehe mich um und sehe mich einem kahlköpfigen hamster gegenüber, der senkrecht aufgerichtet vor mir steht und mich anschreit. ich laufe davon und besteige die treppe eines turms, der in der landschaft aufragt, wobei ich im dunkel des treppenschachtes feuchtes pflanzengewebe berühre. als ich oben angelangt bin, schlägt sofort die tür hinter mir zu. aber der turm hat ein fenster, und ich erkenne, das brombeergesträuch ragt bis dort hinauf. ich zerschlage das glas, klettere an der turmwand hinab, was mir erstaunlich schnell und leicht gelingt, wenngleich ich mir dabei das hemd zerreiße und mir einige dornen in der haut stecken bleiben, und erreiche den erdboden. jetzt bloß nicht erneut einem hamster oder fuchs begegnen, denke ich. da entdecke ich hinterm gesträuch einen höhleneingang, bücke mich, gehe hinein und trete auf knochen. in der höhle, einem halbdunklen, muffig riechenden, bunkerartigen gewölbe, steht eine ununterbrochen ratternde nähmaschine, auf einem tisch dampfen eierkuchen, und von draußen höre ich ein rotkehlchen singen. ich setze mich auf einen der bereitstehenden stühle und sage mir: wenn ich hier nur nicht selbst zum fuchs werde. da sehe ich auf dem stuhl neben mir einen gummifuchs liegen, den ich sofort greife, entzweireiße und mit den zähnen zerbeiße. daraufhin fliegt die nähmaschine in hunderte bruchstücke auseinander, der eierkuchen verschwindet, das rotkehlchen verstummt, und der eingang der höhle verschließt sich automatisch.
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Traumnotate von Holger Benkel, KUNO, 2020
Die Frage nach der besonderen Kompetenz der Dichter für die Sprache und die Botschaft der Träume wurde durch Siegmund Freud fundamental neu gestellt. Im 21. Jahrhundert ist die Akzeptanz des Träumens und des Tagträumens weitaus größer als noch vor hundert Jahren. Träumen wird nicht mehr nur den Schamanen oder Dichter-Sehern als bedeutsam zugemessen, sondern praktisch jedermann. Gleichwohl spricht man den Dichtern noch immer eine ‚eigene‘ Kompetenz auf dem Gebiet des Traums zu – Freud sah sie sogar als seine Gewährsmänner an, mit Modellanalysen versuchte er diese Kompetenz zu bestätigen. Die Traumnotate von Holger Benkel sind von übernächtigter, schillernd scharfkantiger Komplexität.
In einem Kollegengespräch ergründeln Holger Benkel und A.J. Weigoni das Wesen der Poesie – und ihr allmähliches Verschwinden. Das erste Kollegengespräch zwischen Holger Benkel und Weigoni finden Sie hier.
fliegende wesen, Gedichte von Holger Benkel, erschienen in der Weberknecht-Edition, Magdeburg, 2018 – Ulrich Bergmann mit einer Rezension zum aktuellen Band.
kindheit und kadaver, Gedichte von Holger Benkel, mit Radierungen von Jens Elgner. Verlag Blaue Äpfel, Magdeburg 1995. – Eine Rezension des ersten Gedichtbandes von Holger Benkel finden Sie hier.
meißelbrut, Gedichte von Holger Benkel, mit siebzehn Holzschnitten von Sabine Kunz und einem Nachwort von Volker Drube, Dr. Ziethen Verlag, Oschersleben 2009. – Eine Rezension finden Sie hier. Ulrich Bergmann regte der Band zu einer Suche nach der Anderswelt an. André Schinkel liest darin Nachrichten aus der Knochenzeit.
Seelenland, Gedichte von Holger Benkel, Edition Das Labor 2015 – Benkel beweist als Lyriker in seinem Band Seelenland ein Gespür für das Unvertraute im Vertrauten, das Unheimliche des Alltäglichen, das Scheinhafte des Realen. Ulrich Bergmann denkt über den Gedichtband nach.
Gedanken, die um Ecken biegen, Aphorismen von Holger Benkel, Edition Das Labor, Mülheim 2013 – Benkels Gedanken, die um Ecken biegen gehen weiter als der geschriebene Text; sie sind kein Ende, sondern ein Anfang. Sie versuchen, diesen kleinen Rest an Sprache etwas aufzuhellen, und wagen es seine Ränder verstehbar zu machen.
Essays von Holger Benkel, Edition Das Labor 2014 – Einen Hinweis auf die in der Edition Das Labor erschienen Rezensionsessays finden Sie hier. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über die Brüder Grimm, Ulrich Bergmann, A.J. Weigoni, zur Lyrik von HEL = Herbert Laschet Toussaint, Haimo Hieronymus, Uwe Albert, André Schinkel, Ralph Pordzik, Friederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Holger Uske, Joachim Paul, Peter Engstler, Jürgen Diehl, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, Sabine Kunz und Joanna Lisiak.