SCHULBESUCH

ich bin in meiner ehemaligen schule und soll dort lesen. ich gehe durch die flure und treppenhäuser und suche die klasse, die mich eingeladen hat, kann sie aber nirgends finden. als es zur pause klingelt, nehme ich das mitgebrachte bündel gedichte aus meiner umhängetasche und sortiere die texte, damit ich den eindruck erwecke, ich würde etwas tun. danach laufe ich, nunmehr die gedichte vor mir her tragend und lesend, erneut treppe für treppe, etage für etage, runde für runde durch das schulgebäude, vorbei an vielen kindern, von denen manche lachen, sobald ich vorbeikomme, während mich ein etwa zehnjähriges mädchen lasziv herausfordernd ansieht und mir hinterherruft. ich drehe mich um, glaube eine frühere freundin zu erkennen, und sage mir, vielleicht ists ja die tochter.

ich krame in meiner umhängetasche nach einem lineal oder dreieck, da ich ausgewählte passagen in meinen gedichten unterstreichen will, finde jedoch weder dreieck noch lineal und muß annehmen, ich habe sie vergessen oder verloren. und während ich mich um mich selbst drehe, bemerke ich, daß ich eine ausgewaschene grüne kordhose trage, aus der hinten das hemd heraushängt, und meine haare nicht gekämmt sind. egal, denke ich, die halten mich hier sowieso für asozial. und laufe umso schneller durch die gänge. ich frage die schüler einer klasse, die vor einem verschlossenen unterrichtsraum stehen, ob sie mein dreieck oder lineal gesehen hätten, worauf ein junge antwortet: »ein lineal wirst du ja wohl haben.«, und die andern lachen. da sehe ich auf einem fensterbrett ein dreieck liegen, das ich sofort greife und einstecke.

ich setze mich auf eine treppe und unterstreiche einige textstellen, die ich vortragen will. plötzlich steht mein vater vor mir und ich schäme mich, daß ich ihm von meiner lesung nichts gesagt hab. ich weiche ihm aus und er verfolgt mich. ich erreiche den biologieraum, vor dem der musiklehrer steht, ein hagerer mann mit gesichtsnarbe, das fleisch überm wangenknochen weggeschossen oder herausoperiert. der lehrer kommt mir entgegen, umarmt mich, und ich muß seine narbe küssen. daraufhin verschwindet mein vater.

der musiklehrer führt mich in den biologieraum, wo verschiedene tiere, flugsaurier, ungeheure lurche, zwei riesige bären, überlebensgroße eulen sowie andere nachgebildete oder ausgestopfte tiere an den wänden zu sehen sind. ein kleiner schwarzhaariger und streng gescheitelter junge tritt hervor und interpretiert mit naturwissenschaftlichem vokabular den inhalt meiner gedichte. dann werden die deckenlampen ausgeschaltet und die tiere angestrahlt. und der lehrer erklärt der klasse, ich werde gleich eines meiner gedichte singen.

er setzt sich ans klavier und sagt, ich solle beim singen an richard wagner denken. ich zögere und frage, was die urtiere bedeuten. das sei die ideale kulisse für meine texte, antwortet er. ich frage weiter, welche beziehung richard wagner zu sauriern habe. das wisse ich ja wohl am besten, erwidert der lehrer. und beginnt auf dem klavier zu spielen. ich stehe einsam vor der klasse und rufe laut, daß ich gar nicht singen könne, greife meine umhängetasche und laufe davon. und höre nur noch, wie der junge, der meine gedichte erläutert hatte, mir hinterherschreit: »das also sind die herren literaten.«

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Traumnotate von Holger Benkel, KUNO, 2020

Radierung von Francisco de Goya

Die Frage nach der besonderen Kompetenz der Dichter für die Sprache und die Botschaft der Träume wurde durch Siegmund Freud fundamental neu gestellt. Im 21. Jahrhundert ist die Akzeptanz des Träumens und des Tagträumens weitaus größer als noch vor hundert Jahren. Träumen wird nicht mehr nur den Schamanen oder Dichter-Sehern, als bedeutsam zugemessen, sondern praktisch jedermann. Gleichwohl wird den Dichtern noch immer eine ‚eigene‘ Kompetenz auf dem Gebiet des Traums zugesprochen – Freud sah sie sogar als seine Gewährsmänner an, mit Modellanalysen versuchte er diese Kompetenz zu bestätigen. Die Traumnotate von Holger Benkel sind von übernächtigter, schillernd scharfkantiger Komplexität.

Weiterführend

In einem Kollegengespräch ergründeln Holger Benkel und A.J. Weigoni das Wesen der Poesie – und ihr allmähliches Verschwinden. Das erste Kollegengespräch zwischen Holger Benkel und Weigoni finden Sie hier.

Gedanken, die um Ecken biegen, Aphorismen von Holger Benkel, Edition Das Labor, Mülheim 2013

Essays von Holger Benkel, Edition Das Labor 2014 – Einen Hinweis auf die in der Edition Das Labor erschienen Rezensionsessays finden Sie hier. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über die Brüder Grimm, Ulrich Bergmann, A.J. Weigoni, zur Lyrik von HEL = Herbert Laschet Toussaint, Haimo Hieronymus, Uwe Albert, André Schinkel, Ralph PordzikFriederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Holger Uske, Joachim Paul, Peter Engstler, Jürgen Diehl, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, Sabine Kunz und Joanna Lisiak.

Seelenland, Gedichte von Holger Benkel , Edition Das Labor 2015