Nocturne – ein Literaturclip

 

Sobald bei einer Leiche unklar ist, ob der Mensch eines natürlichen Todes gestorben ist, kommen Beamte und binden einen Zettel an den grossen Zeh: „Beschlagnahmt vom Polizeipräsidenten“. Hier sind sie sich nicht einig.

»Ja gut, es riecht ein wenig verkohlt, aber eigentlich riecht das wie Grillhähnchen. Da unterscheidet sich Menschenfleisch nicht von Tierfleisch«, schnaubt Kommissar Stahl. Man braucht einen unverwüstlichen Magen, faules Menschenfleisch stinkt und sieht auch nicht schön aus, vor allem dann nicht, wenn sich die Maden daran gütlich tun. Bei aller Distanz hat er ein respektvolles, beinahe zärtliches Verhältnis zu seinen Toten. Sein Assistent Rigobert Miller beugt sich über die Notenblätter und drückt die Abspieltaste des Aufnahmegeräts:

»…Nachtschatten… sinistres Geknister im Gebälk, ans Ufer der Nacht auslaufende Geräusche des Tages… Schillernde Scherben der Spiegelbilder / Fetzen der Erinnerung / Bruchstücke aus Momenten des An–Die–Welt–Ausgeliefert–Seins. Der Körper, vom Geist losgerissen. Die Seele, ein Gespenst, das in seinem eigenen Haus herumspukt. Eine Spurensuche nach Authentizität… Annas Gramme pfunden mit Wucher, finden keinen Weg her: aus dieser kreischenden Kreiselei… Lava, Geröll und Feuersteine – Erze, die Metalle in sich verborgen halten… Keltischer Kalkstein, Sand, Beton… Der Pflasterstein, die Waffe des Proletariers, das Spielzeug der Studentenrevolte… Trockener Sternstaub… Stumpfer Starrsinn, dumpfer Starsinn, mangelnder Tastsinn… Lustvoll lackierte lange Fingernägel ohne jegliches Takt–, geschweige denn ein Tastgefühl… Manische Mustermösen, simple Sabbeleien, der Auslauf durchdrehender Tage ohne Kontermutter… Wie soll das funktionieren, wenn Soldaten in ein Land eindringen?… wer versucht ästhetische Differenzen zu überspringen, wird unweigerlich von ihnen eingeholt. Es geht um: präzise und knappe Beschreibungen! Um Klarheit und Tiefe. Ehrlichkeit und Authentizität. Pathos und Bescheidenheit. Es geht um viel, wenn nicht gar um alles!? … Phantasmagorien in zartem Hellblau. Doch bitte keinesfalls Blumen. Zombies leiden unter einer schleichenden Unlust, sich Geschichte zu vergegenwärtigen, streiten miteinander und machen sich das Leben schwer. Geben sich als Agenten der anthropologischen Invarianz… Lebende hausen abgestorben hinter Tapetentüren oder geistern als Erscheinungen herum. Vampyre konkurrieren mit ganz gewöhnlichen Blutsaugern. Die Frage lautet nicht, wer der Gefährlichste ist, sondern wer der Glücklichste. Und die Antwort ist erstaunlich simpel: Die Toten sind’s, denn sie haben alles hinter sich. Nichts wie weg!«

»Werden Sie daraus schlau?«, erkundigt sich Kommissar Stahl verwirrt bei seinem Assistenten. Auf ihn wirkt dieses Hörstück wie eine grau gewordene Avantgarde, die letzte Parameter der Serialität zerfieselt und sich in autistische Kunstträume versenkt hat. Er assoziiert einen psalmodesierenden Thora–Schüler, der unter beständigem Kopfwippen den Sinn von den Buchstaben liturgischer Formeln ablöst, bis ihm der Schädel schmerzt. Der Kriminale hat sich das memento mori wiederholt angehört, nimmt an, dass dieser Suizid die späte Klimax eines lebenslangen Triebaufschubs ist. Kommissar Stahl schaltet den Recorder ab. Drückt die Auswurftaste. Nimmt die Kassette umständlich aus dem Schacht. Legt sie in das markierte Plastiktütchen.

»In dieser Hör–Collage steckt die geheime Sehnsucht nach dem Anderen, nach der Entgrenzung. Die Klangkomposition spiegelt das Faszinosum eines intensiv gelebten Lebens jenseits des Establishments«, analysiert Rigobert Miller mit Ungerührtheit die Verwerfungen, denen Menschenseelen ausgeliefert sein können. Interpretiert die Chiffren für Streicher, im Klangraum vereinsamte Spuren eines längst gelebten Lebens, Tonskelette der Verzweiflung.

»Der ganze Sturz an narrativ Erbrochenem soll eine Rückschau auf das Leben im Moment des Todes gewesen sein?«, ist Kommissar Stahl erstaunt. Der Kollege hat einen neben der Kappe, aber mit seiner Intuition einige Anstösse gegeben.

Rigobert Miller beugt sich über die neben der Aufzeichnungsmaschine liegende Partitur. Wilde Experimente, schreiende Tonzersplitterungen. Er betracht die Handschrift mit ihren Tintenklecksen, krakeligen Korrekturen und hingekratzten Notenhälsen. Glaubt, Weills gelangweilt rasselndes Schlagzeug, Kreneks Geigen, Hindemiths Pointen, Strawinskys gebrochene Folklore zu hören. Der Autor verzichtet auf Psychologisierung, will mit der Sprache Räume füllen, mit Worten Musiken schreiben, mit dem Körper und den Worten, die er schreibt, aufbegehren gegen das Imitieren von Wirklichkeit und antreten gegen jeden falschen Schein. Der Hörspielmacher verweigert das Narrative und erzählt losgelöst von gesellschaftlichen Konzepten und Realitäten, losgelöst von Ethik und Geschichte die Welt. Seine Zerstörungswut ist eine Art existenzielle Aggression. Erfindet Worte, findet Worte wieder, deren Bedeutungen verloren gegangen sind. Spricht vom Tod und von Gott, aber nichts wird debattiert, analysiert. Er benennt. Und was er mit Buchstaben und Klängen benennt, wird Realität.

»Dieser Multimediakünstler hat die Selbstüberforderung zur Strategie für Kunstwachstum erkoren. Völlig verzweifelt ob der leidenschaftlichen Vulgarität einer Literatur der Beschreibung betrinkt er sich. Bespricht dabei ein Tonband. Quält sich durch seine Textbaustelle. Limitiert seine Noten. Lacht nicht, er hustet Heiterkeit. Spuckt Worte aus. Schluckt Tabletten und trinkt weiter. Allein gelassen, war er ein ernster, eleganter Epiker. Man kann diese Notate auch als Ausflug in die Tabuzone des Todes lesen…«

»Sie können gern munter weiter spekulieren, das gehört zur Folklore des Ereignisses«, fordert der Chef den Assistenten hemdsärmelig auf. Er erfährt gern Dinge, von denen er vielleicht nichts wusste und die ihn auf Gedanken bringen, von denen er noch nichts weiss.

»Expressionistische Lakonie findet man hier neben Romantik und Symbolismus, wobei die Härte des expressionistischen Sprachduktus durch fliessende Bildwelten unterwandert wird. Dieser Autor fühlt sich nach Jahrzehnten der Vergeblichkeit unendlich erschöpft. Es fällt ihm immer schwerer, das Reich des Nicht–Lebens, das ihn umgibt, in Richtung obere Welt zu verlassen, ist jedes Mal über das blosse Vorkommen wirklicher Menschen erstaunt, hat das Gefühl, dass ihm jede wirksame Aussenwelt fehlt, weshalb er zunehmend alle Lebendigkeit, die ihm begegnet, auf’s schmerzlichste als entfremdet empfindet. Diese Menschen können nicht erwarten, dass andere ihnen Antrieb und Wärme spenden, wenn alle Möglichkeiten infolge psychischer Havarien ins Verderben führen. Aus dem edlen Heros und Sinnsucher, als der er gestartet ist, wird ein schlampiger Filou. Keine seiner Hoffnungen auf ein sinnvolles Dasein hat sich erfüllt, er sieht kaum mehr, worauf er sich positiv berufen könnte…«

»Schreiben allein ist kein hinreichender Lebensgrund«, unterbricht Kommissar Stahl mit wadlbeissendem Spott. Das Gespräch wird ihm zu intim. Hier wird ins Innere eines Menschen geschaut, und dabei soll kein Lärm entstehen. Kühne Exkurse in künstlerischen Wahnsinn. Eine Verzweiflung kann man nicht zeigen, nur lesen. Dies riecht nach Selbstmord aus Angst vor dem Tod. Sein Mitarbeiter hebt indigniert ein Augenlid und setzt seine Schlussfolgerungen unbeirrt fort.

»Das Ziel bei seinem Schreiben ist nicht der Schock. Er ist vom Glauben an den geschärften Verstand geküsst, will sich an sich selbst als Wortfechter berauschen, das Aufdringliche und Ordinäre in eine Welt von grosser Schönheit verwandeln. Längst erzeugt eine Devitalisierung seine angenehmsten Gefühle, gibt ihm Bergung, lähmt zugleich. Depressionen beenden sein Leben vor dem Tod. Er kann im vollen Bewusstsein auf der Stelle stampfen, muss sich nicht mehr auf dem freien Markt der Lügengeschichten bewegen, um seine innovativen Projekte anzudienen… Tage später benachrichtigen uns die Nachbarn, weil der Geruch von Verwesung in den Flur dringt«, merkt der Assi an. Öffnet die Tür. Verneigt sich leicht. Der Chef legt die Stirn in Falten. Er ist berufsbedingt von Bosheit umgeben und misstraut in einem Land mit eingeübter Korrektheitssemantik allzu planen Erklärungsversuchen.

»Diese Erklärung ist mir viel zu weit hergeholt. Ein Nervenlauf durch bürgerliche Idiosynkrasien und eine saturierte Lebenshölle tut nichts zur Sache«, knurrt der weise Spötter und stets distanzierte Analytiker seiner Zeit, während sie die knarrende Treppe besteigen. Alles, was unter Beobachtung stattfindet, ist fingiert. Der Kommissar will das Muster erforschen, das dem Fingierten zugrunde liegt, die Wahrheit, der hier alle gehorchen und nimmt sich vor, eine Sektion anzuordnen. Sind die Umstände des Todes nicht alarmierend, wird Mord schnell ausgeschlossen und so bleibt jede zweite Tötung im neuen Deutschland unentdeckt. Hier dagegen ist alles so verwirrend offensichtlich und unmissverständlich eindeutig.

Rigobert Millers fast schon romantische Leidenschaftlichkeit kommt ganz nah ans moderne Unbewusste heran. Für alles Unergründliche, für alle Niederlagen des Lebens gibt es seiner Ansicht nach einen Schuldigen. Wenn Begründungen für Katastrophen, für Bedrohungen zu komplex werden, sucht der Hörspielmacher nach Feinden unter seinesgleichen. Er versucht mit Sprache ein Wortuniversum zu kreieren. Dieses Nachtstück oszilliert zwischen einer glitzernd–scharfen Beschreibung und einer eiskalten Meinung über seine Figuren. Grob gepinselt, in prallen Farben gehalten, bietet sein letztes Stück Einblick in ein Waldstück, wo Jagd gemacht wird auf die ewige Frau. Doch das Ziel des Hörspielmachers ist nicht sie, sondern die Aufmerksamkeit der Welt. Der Künstler in seiner reinsten Form muss asexuell sein, die Nacht beschwören, mit Schatten spielen, um in Gleichnissen das Licht, den Tag und die Wahrheit zu finden. Man kann niemanden zwingen, am leben zu bleiben. Dieser Selbstmord bleibt straflos. Da dieser Autor von niemandem sonst beachtet worden ist, möchte er ihm wenigstes einen lakonischen Nachruf zukommen lassen.

»Sie müssen ja nicht auf jeden Fall Ihre Verschwörertheorie anwenden.«

»Ich bilde mir gerne ein, einen Sinn in meiner Arbeit zu sehen«, überdenkt der Kommissar dieses faszinierende Paradox in lächelnd überspielter Zerrissenheit.

»Nun, Chef, jemand, der zu seinen Wurzeln will, muss viel Staub schlucken.«

 

 

***

Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2010.

Coverphoto: Anja Roth

Weiterfühend → KUNO übernimmt einen Artikel von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Jo Weiß von fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur, Margaretha Schnarhelt kennt den Ausgangspunkt und Constanze Schmidt erkennt literarische Polaroids. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Ein Essay über Unlust am Leben, Angst vor’m Tod. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten lebendig.

Post navigation