Seebären

 

Sie nennen ihn den Admiral. Er ist der Erfahrenste unter ihnen, obwohl er nie zur See gefahren ist. Skipper, seine rechte Hand, hat wenigstens schon einmal auf einem Rheinschiff gejobt. Paul, Kurt und Fritz sind Landratten. Sie treffen sich jeden Sonntag. Um dieselbe Uhrzeit. Bei Schnee und Regen im Klubhaus. Bei gutem Wetter am Goldbergerteich.

Der Admiral ist immer der erste. Genüsslich zündet er seine Pfeife an. Zieht seine Mütze in die Stirn. Gegen 14·50 Uhr lässt er sein Segelschiff vom Stapel laufen. Vorerst nur von Wind und Wellen treiben. Seine Mannschaft gesteht ihm dieses Privileg zu. Sie wissen, dass der Gorch–Fock–Nachbau auf dem friedlichen Weiher ein erhebender Anblick für den rüstigen Rentner ist.

Skipper, sein Juniorpartner und natürlicher Nachfolger, ist der nächste. Fünf Minuten vor der Zeit setzt er sein Rennboot auf dem Wasser auf. Mit dem Start wartet er immer, bis der Admiral ihm mit der Flagge das Zeichen gibt. Heute ist er besonders aufgeregt. Er hat den Motor frisiert.

Paul, Kurt und Fritz kommen immer gemeinsam. Punkt 15:00 Uhr. Exakt auf den Glockenschlag. Sie reden beim Näherkommen über ihre Skatrunde. Der zweiten Leidenschaft neben ihrem liebsten Hobby. In Hörweite des Admirals verstummen auch sie.

Der Admiral gibt das Zeichen. Paul lässt seinen langen Öltanker zu Wasser. Kurt sein wendiges Polizeischiff. Fritz sein Schlachtschiff, ein filigraner Nachbau der Tirpitz. Sie achten darauf, dass sie nie in die Nähe der Schwäne kommen. Ein Flügelschlag kann ein Schiff zum Kentern bringen.

»Leichte Brise heute«, eröffnet der Admiral das Gespräch.

»Schiffsladung voller Rum«, gibt Paul durch, während der Skipper voller Stolz sein Rennboot über den Weiher röhren lässt.

»Bootsmann, Leinen los«, ruft Fritz und lässt das Kriegsschiff in See stechen, während Kurt das Polizeischiff in Hafennähe kreuzen lässt. Gelegentlich betätigt er das Blaulicht. Den Spaziergängern soll schliesslich auch etwas geboten werden.

Die Kinder zerren vehement an den Ärmeln ihrer Eltern. Sie sind ein dankbares Publikum. Stehen mit Glubschaugen am Weiher. Die Eltern haben sich an den schrulligen klub der seebären gewöhnt. Menschliche Schwächen bis zu einem gewissen Grad zuzulassen, ist menschlich. Sie lächeln, reden über ihren Beruf, die totgeschlagene Zeit, eine verbrauchte Woche, den nächsten Urlaub und die Schulden, die noch für den Letzten abzubezahlen sind. Es wird ihnen leicht gemacht, die Wirklichkeit nicht zu sehen. Erst wenn sie in die Welt müssen, stellen sie fest, dass sie nicht dafür ausgerüstet sind. Rechtschaffene Bürger mit dem Blick fürs Wesentliche. Betriebsame Betriebsblinde. Ihre Geschichten klingen so plausibel, dass man glatt vergessen möchte, dass sie gar nicht stimmen. Klassisches Mimikry: nach mehr aussehen als man ist. Viel bliebt nicht übrig aus den Zeiten des Flokatiteppichs, in denen man mit Aufbruchsgeist einer Umsturzromantik nachgehen konnte. Sie sind Nostalgiker, die weniger einem politischen Programm als ihrer verlorenen Jugendzeit nachtrauern. Dieser Jugendwahn ist eine fixe Idee der Alten.

»Willkommen im Club der Cholesterinfreien«, wirbt Fritz neue Mitglieder und wirkt dabei so hölzern wie ein Zahnstocher.

»Seit 50 Jahren baust du Schiffe. Keiner hat dich jemals griesgrämig gesehen. Wie schafft man das?«, erkundigt sich der Skipper beim Admiral.

»Das schafft man leicht! Egal, ob irgend jemand zu dir sagt: „Das ist aber jetzt totale Scheisse, was du da machst!“ Du musst sagen können: „Mir doch egal. Ich stehe dazu.“ Dann kannst du besser durchs Leben gehen, als wenn du nur das tust, was andere von dir verlangen!«, redet der Alte langsam und lässt sich von der Wortlosigkeit seines Gegenübers nicht bluffen. Das Bekannte ist zu sehr im Ohr, um zu stören, das Neue so individuell, dass es nicht als Kopie gehört werden muss. Moden verraten sich an ihre Zeit und altern schnell. Der Admiral macht nichts falsch, wenn er richtig steht und hinten dicht macht. Er hat keinen Besitz. Seine Wohnung ist gemietet, fast leer, und die geliebte Frau in seiner Wohnung ist seine geliebte Frau. Der alte Kämpe kann aber nicht behaupten, dass er sie besitzt.

»Wenn einem das Wasser bis zum Hals steht, kann man den Kopf nicht sinken lassen«, lallt Paul, der schon halb einen in der Kiste hat. Ihre Wohnungen sind Archive auf kleinstem Raum, ihre Leiber neigen zur Unförmigkeit, erzählen vom Sesseldasein und Stressfressen. Der klub der seebären entzieht sich jeglicher Gruppenetikettierung, und doch sind sie sich in diesem Trotz kollektiv einig, gefangen in einem Purgatorium. Sie geraten über die Niedergeschlagenheit zur Trance, zum Rausch. Ärger gab es nur mit dem Anglerverein „Die Blinker e.V.“. Anfangs fühlten sich Petris Jünger dadurch gestört, dass man vermutete, die Boote verjagten ihnen die Fische. Seitdem der Anglerverband herausgefunden hat, dass die Fregatten und Dampfer ihnen die Fische zutreiben, haben sie das Ohr am Wasser und sich am Weiher genau gegenüber platziert.

»Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord…«, grölt Kurt, der eine Schiffsladung Rum von Paul geordert hat.

Um 17·45 Uhr sinkt das Rennboot. Der Skipper heult vor Wut auf. Er verliert nicht den Verstand… doch die Beherrschung. Wirft seine Jacke auf den Boden. Zieht die Schuhe aus und springt in den Teich. Er krault in Rekordzeit zum Bermudadreieck. Das Polizeischiff eilt zur Hilfe. Kurt ermittelt. Hilflos muss er mit ansehen, wie auch sein Boot sinkt. Er platscht auf die Wasseroberfläche. Sackt zusammen. Ein Dumpfbeutel mit individueller Perspektivlosigkeit.

»Ich kann nicht schwimmen«, jammert er. Glücklicherweise hat der Tanker kein schwarzes Gold geladen. Die Enten danken es Paul und schnattern aufgeregt. Fritz hantiert aufgeregt mit der Fernsteuerung. Die Tirpitz hat einen schweren Treffer erhalten. Der Skipper ist aufgetaucht. Er hält das Boot in der Linken.

»Frauen und Kinder zuerst«, bekundet der Admiral mit tonloser Stimme. Hält in diesem Augenblick die Möglichkeit eines dritten Weltkriegs für viel wahrscheinlicher, als zu Zeiten des kalten Krieges. Greift sich an seine linke Brust. Versucht, der lärmenden Gegenwart ein Schweigen abzugewinnen.

»Alles in die Rettungsboote!«

Er sinkt in die Knie und fällt ins Gras. Der Skipper hat das Ufer wieder erreicht und kreischt als Schutzheiliger des gepflegten Weltschmerzes:

»Diese Schweine! Die haben ein Luftgewehr!«

Kurt und Fritz durchkämmen das Ufer zur rechten und zur linken Seite. Paul ruft einen Krankenwagen. Das Motto: „Dabeisein ist alles“, erweist sich als fromme Lebenslüge, um mit der Niederlage leben zu können. Die Blinker senden Signale. An der grossen Pappel hissen die Punx eine Piratenflagge.

 

 

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Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2010.

Coverphoto: Anja Roth

Weiterfühend → KUNO übernimmt einen Artikel von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Jo Weiß von fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur, Margaretha Schnarhelt kennt den Ausgangspunkt und Constanze Schmidt erkennt literarische Polaroids. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Ein Essay über Unlust am Leben, Angst vor’m Tod. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten lebendig.