Das Fragezeichen

 

Der Wind verlängert an diesem Abend die Geräusche auf eine befremdende Art und Weise: Es hat den Anschein, als versuche er die Zeit zu dehnen.

Florin sieht von seinem Schreibtisch auf und bemerkt, dass im Spiegelbild der Fensterscheibe Buchstaben auf– und abtanzen. Sofort schliesst er die Augen. Verschiedene Erklärungen hasten durch seinen Körper. Schon seit einiger Zeit ist er daran gewöhnt, nachts zu arbeiten, weil er zu dieser Zeit die Ruhe hat, die er für seine Arbeit braucht. Keine Geschehnisse werfen ihn so aus seinem Rhythmus, den er für seine Klausur gewählt hat, so glaubt er. Morgens geht er, wie Millionen andere Menschen, zum Kiosk, um die Tageszeitung zu kaufen, in der er dann nachlesen kann, was am Tag zuvor Nennenswertes passiert ist. So vergewissert er sich, nichts verpasst zu haben. Auch der Bäcker kennt ihn bereits. Jeden Morgen kommt Florin über den Hinterhof in die Backstube. Wechselt ein paar Worte mit dem Gesellen und darf sich die knusprigsten Brötchen aussuchen.

Für Melancholiker ist die Zeit eine Wunde, die niemals verheilt. Als Florin die Augen wieder öffnet, sind die Buchstaben verschwunden. Nur ein Fragezeichen ist schwach zu erkennen; aber das hat er in der letzten Nacht mit dem Finger dort hingepinselt. Er will sich wieder der Tastatur seines Personal–Computers zuwenden und weiterarbeiten, bemerkt, dass alle Buchstaben von den Tasten verschwunden sind. Nur neben der Taste, auf der normalerweise die Null angebracht ist, kann er schwach das ? erkennen. Sich einer Laune hingebend hat er nach dem Frühstück nicht geschlafen. In einem Zustand zwischen Müdigkeit, Langeweile und Neugier sass er in einem Park, um dort Menschen zu beobachten. Menschen, die einem geregelten Tagesablauf nachgehen.

Zum allfälligen Nachdenken besucht Florin das Café Imperial. Hier löst sich das Mondäne in bürgerlicher Biederkeit auf. Er reicht den Mantel der kühlen Garderobiere und erhält dafür ein rotes Nummernkärtchen in einer Plastikhülle. Die Kellner tragen Dreiteiler und kommen nur selten an die Tische. Lassen ihn mit dem Kleinen Braunen allein. Florin sucht nach der Möglichkeit, einen Bereich zu definieren, versucht, sich über den vitalen Irrsinn klar zu werden, den man braucht, um auf der Welt zu bleiben. Er sitzt Nacht für Nacht am Schreibtisch. Den Blick auf seine Finger. Das Papier. Die Augen auf Worte gerichtet, die sich zu Satzgebilden auftürmen, in logische Abschnitte einfliessen, in Kapitel gebändigt werden, sich einst zu einem Ganzen fügen sollen. Ihm geht die Frage weiterhin nicht aus dem Kopf, warum es ihm noch wichtig ist, zu promovieren. Er wendet die Frage vom Wirklichkeits– zum Möglichkeitssinn. Ersinnt die wirklichste und die unmöglichste Antwort. Nur die, auf die es ankommen würde, kommt ihm vorerst nicht in den Sinn. Es ist ein Kennzeichen des europäischen Geistes, sich immer wieder in Frage zu stellen, das ist zugleich die Grundlage der europäischen Offenheit gegenüber anderen Zivilisationen.

Der Belag auf seiner Zunge signalisiert Durst. Florin möchte die aufkeimenden Selbstzweifel mit Dosenbier runterspülen. Er schlurft in die Küche. Öffnet den Kühlschrank. Schliesst ihn sofort wieder. Setzt sich auf den Fussboden und starrt fassungslos auf den Griff. Versteckt sich im Windschatten der eigenen Versiertheit. Nach einer Weile wiederholt er die Handbewegung und stellt erneut fest, dass sein Kühlschrank keine Lebensmittel, sondern Bücher beinhaltet.

Florin macht einem Spaziergang, um Schritt für Schritt, Atemzug um Atemzug die Gedanken abzulegen. Er atmet die kalte Nachtluft bis in die äusserten Lungenspitzen ein. Seine Umwelt nimmt er als ein stark unterbelichtetes Foto wahr. Erst im Lauf der Zeit kann er Einzelheiten durch die Tiefenschärfe seiner Wahrnehmung feststellen. An einer grösseren Strassenkreuzung ist die Lichtzeichenanlage noch auf Betrieb geschaltet. Weil ein Polizeiauto an der Linksabbiegerspur hält, beschliesst er, sich regelgerecht zu verhalten. Ein fröstelnder Schauer läuft über seinen Rücken, als er merkt, dass er beobachtet wird. Der Beifahrer hat das Fahndungsbuch aufgeschlagen und blättert aufgeregt darin. Er sieht dem Fahrer in die Augen und findet dort das §–Zeichen seines Keyboards. Nervös blickt er auf die Ampel. Hält den Atem an. Schliesst die Augen. Tastet mit den Füssen die Vertiefung ab. Atmet wieder auf, als das rhythmische Klacken des Summers ertönt und er die Strasse der Regel gemäss überqueren kann. Er spürt, dass die beobachtenden Blicke sich in seinem Rücken festkrallen. Er wird nicht durch einen Schuss aus einer Dienstwaffe aufgehalten.

Er nimmt einen Umweg über eine Seitenstrasse. Ein paar Strassenzüge weiter weist die Neonbeleuchtung hinter schäbigen Fassaden ein anderes Stadtviertel aus. Glitschiges Kopfsteinpflaster. Gähnend offene Tore. Dunkle Hinterhöfe. Kleine Schaukästen mit Fleischauslage. Ein Türsteher spricht ihn an:

»Gnädiger Herr! Wenn Sie mit der Freiheit nicht klarkommen, versuchen Sie es doch mal mit Frauen. Kleine Unterhaltung gefällig?«

Der Trieb ist sein Antrieb. In einer Mischung aus Ekel, Faszination und Neugierde steigt er die Stufen hinab. Schleicht wie ein vertrockneter Visualerotiker durch das sexuelle Arrangement. Stakst durch den Raum. Sucht nach Halt und findet ihn am Messingrohr an der Bar. Setzt sich hinter die Theke und ordert einen Highball, weil er das so in einem Film einmal gesehen hat. Der Barkeeper nennt ihm einen Betrag. Florin sieht in seine Geldbörse und stellt fest, dass ihm nur mehr ein paar Cent verbleiben. Dafür sind die Streichhölzer für lau. Er verbraucht das halbe Heftchen, um sich eine geschnorrte Zigarette anzuzünden. Inhaliert den Rauch, hustet ihn weg und sieht sich um.

Gruselkammer des schlechten Geschmacks: Dorische Säulen in Phallusform, Jugendstilsessel, Nierentische als Luxus der Form und nicht des Gedankens. Eine Gummizelle mit Häkelgardinen würde stimmiger wirken. Die Musik ist akzeptabel. Nach einiger Zeit wird ihm klar, dass der Mann hinter der Trompete Miles Davis ist. Die Musik kommt von einer rauschenden Compact–Cassette. Mit Silikon bewehrte Frauen produzieren sich in Leopardenkostümen mit emotionslosen Verrenkungen, die an Aerobic–Videos erinnern, und ziehen das Ausziehen hinaus. Florin betrachtet die wenigen Männer, die breitbeinig um die Bühne herumsitzen. Eine vollbusige Stripperin beugt sich zu ihnen herab und schwenkt ihre Silikontitten mit der Gleichgültigkeit gespielter Lust. Quetscht sie mittig zusammen, macht ein dummes Gesicht und hält den hinteren Tangafaden ins Publikum. Dreht sich gekonnt herum. Ein biederer Familienvater hakt umständlich den BH aus. Ein Bauer, der schon arg gepichelt hat, darf das Heu einfahren und den Slip behalten. In ihrer Arbeitskleidung spielt die Stripperin mit einschlägigen Tanzschritten an einer Stange die Codes der sexuellen Verfügbarkeit durch. Am Ende erstarrt sie versandfertiges Stück Fleisch. Die Männer johlen und klatschen am Ende der Nummer Beiphall.

Dem smarten Geschäftsführer missfällt Florins Interesse an den Gästen. Er schickt ihm eine abgemagerte Brünette auf den Hals. Der Bohnenstange ist das Abkratzen bisher misslungen, er sieht ihr auf fünf Meter Entfernung an, dass sie sich über kurz oder lang mit H erschiessen wird. Sie nähert sich ihm wie eine Schlange. Florin tut ihr nicht den Gefallen, das Kaninchen mit Brille zu spielen.

»Ein X just for U!«, verrät eine Stimme zwischen den Untertiteln, dass ihre Besitzerin Jane–Mansfield–Filme im Original gesehen hat. Auf dem Weg von der Magie des Mehrdeutigen zur Banalität des Eindeutigen blickt er ihr in die Augen und findet dort das $–Zeichen seines Keyboards.

»Wir sind nicht in Entenhausen«, kichert er. Lässt die Pfütze im Glas, das Gerippe und den Geschäftsführer stehen. Die unschuldige Morgenluft tut ihm gut. Ein Müllwagen spielt den Vorboten des kommenden Tages. In wenigen Minuten wird der Frühverkehr den Sauerstoff mit Blei geschwängert haben.

Florin tänzelt über eine Verkehrsinsel und macht einen Umweg ins Nachtcafé. Schaubühne der Künstlichkeit. Die Szene hat etwas Suchbildhaftes. Hier herrscht koloristische Feindschaft zwischen dem Menschenaquarium in der Mitte und der schlafenden Welt drum herum. Erstarrte Verschränkung. Die giftgrüne Leiste bildet die Grenze: ein magischer Zirkel, um Menschengespenster gezogen. Abgestandene Luft schlägt ihm entgegen, als er eintritt. Jens wirft ihm einen Blick zu, der besagt, dass er müde sei, wie er. Sie beschliessen sich in schweigsamer Übereinkunft zu langweilen. Auch die anderen Gäste scheinen sich auf diese Vereinbarung eingelassen zu haben. Ausser Jens, der den verchromten Kaffeeautomaten blankputzt, befinden sich noch drei Gäste im Nachtcafé. Ein Typ wirkt wie erstarrt, vom Packeis der Einsamkeit überzogen. Eine Frau mit einem auffallend roten Abendkleid, das stilgerecht mit dem Lippenstift harmoniert. Ein weiterer Typ, der ihr Begleiter sein könnte und durch seinen kobaltblauen Anzug auffällt. Nachtschwärmer, die zwischen Neonlicht und Dunkelheit eine Heimat suchen, die ihnen ihr Zuhause nicht mehr bieten kann. Sie sind ohne Zeitgefühl, übermüdet, aber letztlich doch geschärften Sinnes. Jeder von ihnen hat die abgewetzte Würde des Authentischen. Er kann nicht sagen, ob diese Typen nun echt sind oder nicht, und niemand kann verstehen, wie sich da, vor seinen Augen, Leben in ein Stück Kunst verwandelt. Die Anwesenden registrieren ihn mit einem Interesse, das nichts aussagt, herablassend nichts. Die Metropolen haben eine neue Art der Verlorenheit geschaffen, nie fühlte sich der Mensch in der Masse so einsam. Das Leuchtband über der Tür verkündet in Leuchtziffern die neuesten Krisen, Bürgerkriege und Staatsgründungen. Nach dem Sport stürzt der Computer ab. Buchstaben purzeln. Die Leuchtschrift verlischt. Zu seiner Verblüffung legt Jens eine Kassette ein, deren Musik er als Sketches of Spainidentifiziert. Florin lässt sich Zeit. Lauscht dem Mann mit dem Horn. Nippt hin und wieder an dem Milchkaffee. Denkt zum ersten Mal nach langer Zeit nicht an Bücher und seine Arbeit. Hört nur dem Blechbläser zu.

Florin legt den Deckel auf die Tasse. Verlässt die Szenerie. Fährt mit dem Lumpensammler schwarz. Geht nicht in die Backstube, obwohl er anschreiben lassen könnte. Stibitzt auf dem Weg zu seiner Wohnung einem Boten die Zeitung aus der Karre. Im Arbeitszimmer faltet er die Zeitung auseinander. Schneidet mit der Schere Buchstaben heraus und klebt sie, als Erpresserbrief an sich selbst, in einer anderen Reihenfolge auf die Tasten des Keyboards.

 

 

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Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2010.

Coverphoto: Anja Roth

Weiterfühend → KUNO übernimmt einen Artikel von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Jo Weiß von fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur, Margaretha Schnarhelt kennt den Ausgangspunkt und Constanze Schmidt erkennt literarische Polaroids. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Ein Essay über Unlust am Leben, Angst vor’m Tod. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten lebendig.