Kinderspielplatz

 

Als Noëmi die Glasscherben und den Kot aus dem Sandkasten entfernt hat, darf ihre Tochter Laura darin spielen. Sie packt ihre schönsten Förmchen aus, zieht den Sand glatt, sticht hinein und gestaltet ein Muster.

Sevgi nimmt Anlauf. Sie will ihren Rekord brechen. Springt am Rand des Sandkastens ab. Im Sprung merkt sie, dass ihr jemand im Weg ist.

»Aus dem Weg, deutsche Kartoffel!«

»Willst du Terror machen, Ölauge?«, ist Laura sauer, dass jemand auf ihrem Backblech ein anderes Muster gestanzt hat.

»Vorsicht, Ungläubige!«

»Ehj, du bist hier Gast!«

»Hallo?«, ruft Noëmi mit schneidigem Diskant den Kindern zu und fragt sich, wie politische Korrekt frau sein muss, ohne das es aufdringlich wirkt. Als sie stillhalten, wendet sie sich an Sevgis Mutter und gibt sich als scharfe Gegnerin des Gutmenschendiskurses über den Islam zu erkennen:

»Richtig ist, dass nicht alle Muslime Terroristen sind. Aber richtig ist auch, dass immer mehr Muslime Terroristen sind!«

»Weil es Menschen gibt, die im Namen dieser Religion andere töten, muss man sich fast schämen, Muslim zu sein. Man kann sich hundertmal sagen, dass es sich hier um Missbrauch der Religion handelt, es tröstet nicht mehr«, distanziert sich Safak, die Mutter von Sevgi, von den Dschihadisten, die ihre Religion zu einem totalitären Todeskult verzerren. Ihr Blick ist müde. Wie sediert wandelt sie seit Tagen durch kühle Bürohäuser und Glaskanzleien. Sie könnte einer der Film–noir–Heldinnen sein, die zu melancholisch ist, um im eigenen Leben noch eine Heldenrolle zu erwarten. Die Erinnerung an vergangene Werte ist das Einzige, was ihr geblieben ist.

»Ihren geschätzten Glaubensgenossen kann man nur zurufen: Verinnerlicht endlich die Werte, die nicht umsonst universell heissen, aber von vielen, und leider gerade von vielen Muslimen, nicht für solche gehalten werden«, fällt es Noëmi schwer, einen Ton zu treffen, der weder blauäugig noch verletzend ist. Sie weiss nicht, wie sie einen theologischen Dialog mit jemandem führen soll, der das Christentum nicht einfach für eine andere Religion hält, sondern für eine falsche.

»Setzen Sie sich doch bitte zu mir«, bitte die Araberin die Europäerin zu sich auf die Parkbank. Safak trägt ein Ensemble aus Jeans, T–Shirt und Kapuzenjacke so, dass der Eindruck Abendgarderobe entsteht. Sie hat mehr Armbänder, Armketten und Armreifen um, als überhaupt an ein Handgelenk passen, so dass es bei jeder Bewegung Klick macht. Es ist ein dunkles Land, das sie bewohnt, aber es ist ein helles Dunkel, das aus ihr strahlt. Noëmi zögert.

»Aber die Kinder«, tut sie sich schwer, den Teufelskreis aus Ablehnung und Ausgrenzung zu durchbrechen. Die kommerziellen Medien haben sie dahin erzogen, sich selbst und ihre bildungsbürgerliche Sicht ohne Scham als Zentrum jeglichen Denkens zu begreifen.

»Sind bereits mit einem anderen Problem beschäftigt«, weist Safak auf die Kinder. Sevgi und Laura haben mit einem abgebrochenen Ast einen Hickelkasten in den Sand gezeichnet, bücken sich wechselseitig nach einem weissen Kiesel spielen und „Himmel und Hölle“.

»Also, ich will nun nicht wirklich Ehrpusselig werden…«, will Noëmi die Dynamik von Beziehungen aufzeigen und erstarrt in tiefgekühltem Ästhetizismus.

»Ich will Ihnen sagen, dass man nicht alle Muslime unter Generalverdacht stellen darf«, bietet die Araberin ihr die Chance, sich einem Du zu öffnen. Noëmi bleibt vorläufig verkapselt.

»Man darf auch nicht verharmlosen: Islamitisches Gedankengut breitet sich immer mehr aus. Zwar predigen die wenigsten Gewalt, aber viele ihrer Ansichten sind mit der freiheitlich–demokratischen Grundordnung nicht vereinbar. Und das ist der Boden, auf dem Fanatismus und Radikalität gedeihen«, beginnt Noëmi eine Cowboydiskussion, schiesst aus der Hüfte und versucht zu treffen.

»Es ist nicht strafbar, etwas zu denken, das gegen das Grundgesetz verstösst. Aber als Muslimin stelle ich an meine Glaubensgenossen die Forderung, sich eindeutig zu diesem Staat, seiner Rechtsordnung und seinen Prinzipien zu bekennen«, fühlt sich Safak in einer Metropole ohne Gedächtnis, in der die Spuren der Vergangenheit mit Sprengstoff gelöscht werden. Ein Megalopolis, in der alle kulturellen, religiösen, ethnischen Prägungen verflüssigt sind, damit sie den Umlauf des Geldes nicht hemmen. Doch das Geld trägt nicht nur die Differenzen ab, es schwemmt sie auch wieder an. Zerkleinert und rund geschliffen vom Mahlstrom, kehren sie wieder: als themes. Mit grosser Folgerichtigkeit hat sich in der Architektur die Selbstthematisierung der Stadt durchgesetzt. Das Setting erinnert sie an eine kalt glitzernde Weltraumkolonie. Sie sehnt sich nach ihrem Heimatdorf, einem See von eisiger Klarheit, der 5000 Meter über dem Meersspiegel liegt und viel höher über allen menschlichen Dingen, glatte Wasserscheiben, verbunden durch einen schmalen Bergbach, der später zu einem stattlichen Fluss werden und im fernen Gestade das Meer speisen wird.

»Wer sich nicht anpasst an den hier herrschenden Wertekanon, der hat hier eben nichts verloren«, verweist Noëmi auf ein Verfassungsschutzproblem. Weil der Prozess der Zivilisation laufend mehr Obszönitäten schafft, sind ihrer Ansicht nach auch mehr Warnungen vonnöten.

»Viele der Glaubensbrüder begreifen das nicht. Sie fordern eine Toleranz ein, die sie gegenüber anderen nicht haben, wollen, dass man sie fromm sein lässt und dafür das öffentliche Leben umkrempelt, und sind nicht bereit hinzunehmen, dass andere anders leben«, erklärt Safak die Unlust am Deutschsein als erfolgreiche Anpassung damit, dass die Deutschen selber nicht gerne deutsch sein wollen.

»Wenn ich mich daran erinnere, wie wir mit einem Palästinenserfeudel rumgelaufen sind… dabei fungierte diese Kopfbedeckung nicht zuletzt als Tarnkappe der Verklärung«, belächelt Noëmi eine Jugendsünde. Komik ist etwas, das sie über die Abgründe und Verletzungen rettet. Die Araberin lächelt zurück. Im Grunde sehnen sich beide Frauen nach einem erdverbundenen, handfesten, den ursprünglichen Dingen zugewandten Leben. Wenn Noëmi eine Sinnkrise befällt, reist sie in möglichst ferne Länder, um zu sich selbst zu finden. Nun muss sie erkennen, dass sie auch in einer gewissen Gesellschaftsschicht ihrer Pfründe lebenslänglich nicht mehr sicher ist. Bisher hat sie sich für unantastbar gehalten, die Verbindung zu untergeordneten Schichten gekappt und ihren Nachwuchs in eine Privatschule. Anstatt machtvolle Positionen dafür zu nutzen, die Entwicklung progressiver Kräfte zu fördern, hat sie aufkeimendes Innovationspotenzial mit dem Totschlagargument, besser auszuwandern, erstickt.

»Eine muslimische Lehrerin soll ihr Kopftuch in der Schule tragen, aber wenn sie meine Tochter nur ein einziges Mal fragt, warum ich keines trage, werde ich alles daran setzen, dass diese Lehrerin von der Schule fliegt«, plädiert Safak für eine stärkere Legitimation über den Bildungsgedanken, der ein Ansatzpunkt der Kulturpolitik sein sollte. Nach ihrer Erfahrung verarmen immer mehr Menschen, umso häufiger wird die Rhetorik von der Verantwortung des Einzelnen bemüht, umso lauter ist die Rede von Sozialschmarotzern. Dass es zur Strukturlogik des Neoliberalismus gehört, wenn ein bestimmter Teil der Gesellschaft aussortiert wird, gerät dabei immer mehr in ihren Blick. Ein Akt grausamer Inhumanität zeugt fortwährend neue Übertretungen, zerstört das soziale Gefüge, löst sich in ein bestialisches Chaos auf.

»Die Frauenunterdrückung in islamischen Ländern ist ja nicht zu leugnen«, versucht Noëmi die Probleme nicht aus einer sozioökonomischen, sondern auch aus einer kulturanthropologischen Sicht auseinanderzusetzen. Versucht sie ihre Sehnsucht nach dem Fernweh in eine kühle Textkonstruktion zu sublimieren.

»Es gibt diese Frauenunterdrückung in grossem Masse; und auch wenn ihre Ursache eher im Patriarchat liegt, als Argument herhalten muss meist der Koran. Und wer weiss schon in Ägypten, dass der Koran die Klitorisbeschneidung keineswegs vorschreibt. Dummerweise wissen viele Muslime nicht besonders viel über ihre Religion« deutet Safak an, wie sie die traditionellen Muster überwand, die sie zu einem Leben als Sohnfabrik unter der patriarchalischen Herrschaft verurteilt hatte. Frauen sind im arabischen Kulturkreis verschüttetes Wasser:

»Ich gehöre zu einer Generation von Bewältigungsexperten. Indem wir uns mit den Opfern von einst ganz identifizieren und auf ihre Seite stellen, gehören wir auch zu ihnen. Manchmal scheint es mir, als habe sich meine Generation Auschwitz als eines eigenen negativen Mythos bemächtigt, anfangs wohl mit dem Ziel, sich radikal von der Elterngeneration abzunabeln, bald aber auch, um sich selbststilisierend in den Stand einer militanten Unschuld zu versetzen«, versucht Noëmi das Rätsel der Existenz als gegeben hinzunehmen.

»Auch bei uns muss es zu einer Auseinandersetzung mit der Tradition kommen. Wenn manche islamischen Bestimmungen nicht mit den Menschenrechten zu vereinbaren sind, dann muss man sich von ihnen trennen. Nicht ohne Grund hat die islamische Exegese im Laufe der Jahrhunderte mystische, philosophische, linke und rechte Korankommentare hervorgebracht. Also soll man den Koran, im 21. Jahrhundert, so interpretieren, dass er zu Meinungsfreiheit, Menschenrechten und Rechtsstaat nicht mehr im Widerspruch steht«, wünscht sich Safak keinen zusammengeglaubten Sperrmüll–Islam, sondern einen authentischen Islam.

»Wir werden um eine Inventur und Selbstvergewisserung der westlichen Werte nicht umhin können«, vermutet Noëmi, dass in der Verhöhnung der Toleranz ein gehöriger Schuss liberaler Selbsthass steckt und ein Modell, das eher indifferent als tolerant ist, scheitern muss.

»Wenn sich ein Moslem nicht zu dem hier herrschenden Wertekanon bekennt, kann er nicht eine Toleranz einfordern, die er selber nicht zu gewähren bereit ist. Wir müssen das Denken in Dichotomien überwinden und das Geanderteanstreben«, erkennt Safak beim Blick auf die spielenden Kinder. Sie nickt Noëmi mit einem Lächeln zu, ruft Sevgi und macht sich mit ihrer Tochter auf den Weg zurück ins Frauenhaus.

 

 

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Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2010.

Coverphoto: Anja Roth

Weiterfühend → KUNO übernimmt einen Artikel von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Jo Weiß von fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur, Margaretha Schnarhelt kennt den Ausgangspunkt und Constanze Schmidt erkennt literarische Polaroids. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Ein Essay über Unlust am Leben, Angst vor’m Tod. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten lebendig.