Nachtschicht

 

»Woher nimmt du eigentlich diese beispiellose Arroganz?«, kreischt die weibliche Stimme hinter der verschrammten Wohnungstür. Das Flurlicht erlischt. In seiner Antwort rezitiert der Mann einen gestrigen Überlegenheitsgestus. Steffen greift nach seinen Streichhölzern. Ratscht einen Zündkopf über die Reibfläche. Illuminiert das düstere Treppenhaus. Poröser Putz. Die Farbe blättert von der Wand. Elektrische Leitungen baumeln vom Türrahmen herab, weil die Nagelschellen keinen Halt in der Wand finden. Steffen verbrennt sich die Fingerspitzen. Weitere Wortfetzen und Porzellangegenstände fliegen durch die Wohnung. Der Ohryeur ist kurz davor, das Aufnahmegerät zu zücken. Als er den Tastschalter betätigen will, kommt ihm zwei Etagen tiefer jemand zuvor. Die Schritte des anderen scheinen das Echo seiner eigenen zu sein. Sie kommen näher. Er geht weiter die Stiege hinauf. Das Licht verlischt erneut, doch er hat die Klinke und damit die Situation im Griff. Durch den Hintereingang gelangt er in der oberen Etage in ein portugiesisches Lokal.

Eine mit Quast und Ölfarbe gepinselte Dämmerstunde. Ein Abend, wie üblich nach einer arbeitsreichen und den Körper auszehrenden Woche. Ein Freitagabend, der viel, wenn nicht gar jenes ungenannt Letzte verspricht. Eine weitere Nacht, die dies wiederum nicht halten können wird. Ein zwielichtiger Übergang, der in einem Absacker ertränkt werden will.

Eingehüllt in den Dunst der blauen Stunde. Die Gruppe von jungen Diskutanten sitzt schon lange an dem klobigen Eichentisch. Eine Batterie von Flaschen belegt den Schmiermittelverbrauch, den sie als Feuerwasser für ihre hitzigen Diskurse benötigen. Hier werden alter Mief und angestrengte Diskurse auf’s Beste mit Weirdotum und stranger Hipness versöhnt. Kubanische Musik läuft auch hier, das ist dem Clave–Rhythmus zu verdanken, der hellt das Gemüt auf. Ausserdem kann man seine Gabel im Güterzugrhythmus dazu bewegen. Dieser Klangteppich schmiegt sich wie ein Sessel den Bedürfnissen der Benutzer an.

Die Gruppe ist so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie ihn nicht bemerkt. So bleibt er lässig an einer dorischen Säule angelehnt stehen, verschränkt die Arme und beäugt voyeuristisch die Szenerie. Nicola hat sich divenhaft auf die Lehne des Stuhls zurückgelehnt und bläst lasziv den Qualm eines Zigarillos in Richtung des tumben Theo, der, weit über den Tisch gebeugt, die eine Ledernummer zu auffällig gestylte Brunhild bearbeitet. Im Erscheinungsbild devot, doch im Wesen herrisch, spiegelt sie sich in seinen Augen und glaubt das wahre Bild ihrer selbst zu erkennen, während Arno seinen Kopf mit dem rechten Arm abstützt und mit der linken Hand übertrieben lässig versucht, eine weitere Flasche Altbier mit einem Einwegfeuerzeug zu öffnen und sich, wie so häufig, dem Geschehen derart abkehrt, dass er lieber die Komik des Mikrokosmos erforscht als kommunikative Strukturen. Die Combo spielt seit der Studienzeit Fangen mit den Möglichkeiten, und ist sich einig darüber, dass die besten Chancen die ungenutzten sind. Als es Arno endlich gelingt, den Kronkorken abzuschälen, quillt der Gerstensaft auf den Tisch. Er deckt die Überschwemmung mit Bierdeckeln zu, stellt den Aschenbecher auf dem Gebilde ab und nimmt sich vor, sein autistisches Gefängnis zu einem späteren Zeitpunkt öffnen. Theo greift sich die geöffnet Flasche und schenkt Brunhild eilfertig nach.

Als hätte sie seine Nähe gewittert, sieht Nicola aus den Augenwinkeln zu ihm herüber. Zwinkert, grinst, winkt. Er hätte den vier Palovern noch stundenlang zuschauen können. Die Gang beeindruckt in ihrem Kammertheater durch fahrige Posen und dandyhafte Exaltiertheit. Was vorher als gemischter Haufen erschien, scheint sich jetzt einig in der Abneigung gegen den Eindringling. Irgendwem musste bei ihren Aktionen die schwarze Petra zugeschoben werden.

»Hast Glück, dass du uns noch erwischst!«, zirpt Nicola gedehnt herüber. Damit werden die abgegriffenen Karten neu verteilt. Er muss wohl oder übel das Blatt in die Hand nehmen und ausgeben. Dreht den freien Stuhl herum. Setzt sich zu ihnen an den Tisch. Ordert bei dem Kellner, der einen Teil des Gedecks abräumt, fünf Kannen. Das Eigene will so gut gelernt sein wie das Fremde. Er lehnt sich gelassen zurück. Klappt den abgeschabten Tabaksbeutel auf. Rollt sich eine Zigarette. Leckt über die Gummierung. Rupft das überstehende Kraut. Reisst ein Streichholz über die Reibfläche. Saugt die Flamme ein und bläst sie über die Glut hinweg aus. Arno beobachtet die Aktionen seines Gesinnungsgefährten lächelnd.

»Kannst du dir vorstellen, mit drei anderen Leuten in die Camargue zu fahren?«, durchbricht Brunhild die Schallmauer, schiebt ihren Oberkörper in sein Blickfeld und versucht, ihn durchdringend anzusehen. Er blickt auf. Sieht in ihre grünen Katzenaugen. Runzelt die Stirn. Bläst Rauch aus und denkt nach. Am liebsten würde er den Spielstand halten wollen…

»Wenn du im März ins Rhônedelta fährst, kannst du nach der Rückkehr den Frühling, oder vielleicht gilt das ja auch für den Herbst, doppelt erleben. Es kommt immer auf das Timing des Zufallsgenerators an. Meteorologie ist eine geheimnisvolle Wissenschaft«, denkt Steffen darüber nach, dass in dem Wort Gabe sowohl das Wort Vergabe als auch das Wort Vergeblichkeit steckt. Es ist meist das Vergangene, das nicht vergehen will.

»Redet der immer so’n poetopathologischen Schwachsinn?«, wendet sich Brunhild an ihre Busenfreundin. Nicola ist vermutlich die letzte Intellektuelle Deutschlands, die über ein Weltbild im starken Sinn verfügt; die jüngeren leben mit heftigen Meinungen und beweglichen Ideologemen. Doch die Entropie der Jahre hat davon wenig mehr übrig gelassen als Paranoia. Man sollte erst dann zu sprechen beginnen, wenn die Stille endlich still ist. Die schnoddrigschnutige Nicola nickt bestätigend und grinst über ihre Freundin, die ihn fürderhin mit ihrem Raubtierblick fixiert.

»Wenn wir gegen 6·00 Uhr fahren wollen, werde ich mich jetzt verabschieden!«, erkennt Theo clever die Gunst der Stunde, sich auf dem Höhepunkt des Abends ohne weitere Verletzungen und Demütigungen verabschieden zu können. Man muss kein Spezialist der forensischen Wortschatzanalyse sein, um zu erkennen, wie bei ihm eine konservative Weltanschauung und eine konservative Kunstauffassung eins geworden sind werden. Theo verkörpert den konservativen Vogue, führt seinen Erfolg auf Pflichtbewusstsein zurück und darauf, dass er sich keine genialischen Lethargien erlaubt. Nachdem der Platzhalter seinen Stuhl geräumt hat, legt sich eine elektrisierende Spannung über die Kontinuumschicht dieses Tages. Das Kartenspiel hat sich in einen Street–Poker verwandelt. Jeder glaubt gute Karten zu haben. Nur Arno macht sich erneut mit dem Feuerzeug an den restlichen beiden Bierflaschen zu schaffen und schnippt die Kronkorken lässig vom Flaschenhals. Eine Kanne schiebt er westernlike zu Steffen hinüber.

»Der Inhalt dieser Pulle verstösst gegen die Strassenverkehrsordnung.«

»Willst du etwa schon nach Hause?«, lässt Nicola die Wimpern klimpern.

»Eigentlich ja. Wir haben morgen Vormittag eine Live–Sendung von einem Kinderfest. Da müssen wir schon sehr früh mit dem Ü–Wagen hin und dieses mediale Ereignis vorbereiten. Der übliche Kladderradatsch eben«, bleibt er Meister der Luftblase, ein exzellenter Provokateur, der unter den polemischen Girlanden seines Textes eine klare Botschaft formuliert.

»Tanderadei, tanderadei. du könntest bei uns übernachten. Ich muss auch früh raus… Wir könnten noch zusammen frühstücken.«

»Verlockende Offerte! Habt ihr denn noch ein Pils im Kühlschrank?«

»Wir können ja bei der Tanke vorbeifahren«, presst Arno zwischen den Zahnlücken heraus. Er blickt enttäuscht auf die geöffneten Flaschen. Krallt sich eine Kanne, zieht sie ex. Will sich mit der zweiten zulöten, Nicola und Brunhild kommen ihm zuvor und legen nach. Flaschendrehen wird nicht mehr gespielt. Sie legen dem Gastwirt das Geld auf den Tresen und verlassen die Startrampe.

Neumond. Die Nacht liegt tiefschwarz vor dem Hauseingang und droht, die Stadt zu verschlucken. Ein paar Strassenlaternen legen gleissende Lichtbalken auf die Bürgersteige. Die Lichtzeichenanlage ist auf Durchgang geschaltet. Ein Blinder steht an der Ampel und hält seine Hand auf den Summer. Sie folgen dem klappernden Stock. Unter einem der erleuchteten Flecken steht Steffens klappriger Käfer. Der Motor keucht los. Die Strasse scheint an diesem Abend der geeignete Drehort für ein Roadmovie. Doch kein Kamerateam ist zur Stelle, um einen Film über eine Kleinstadtodyssee zu drehen. Sie fahren aus dem toten Herzen der Stadt in den Wohnsilobereich hinaus. Die Freiheit wohnt anderswo, und die Schönheit ist vor langer Zeit ausgezogen. Vom Zubringer her erinnert die Nachttanke durch scharf abgegrenzte Licht– und Schattenzonen mit noch gesteigerter Farbintensität an ein Bild von Edward Hopper.

»Diese Stadt sagt dir nicht, wer du bist«, murmelt Arno. Es ist Mummenschanz, ein Schauspiel von vorgetäuschtem Leben, dessen Ansprüchen er in Wirklichkeit nicht mehr gewachsen sind. »Seeing is believing, sagt das Kino, aber natürlich meint es das nicht wirklich so«, beruhigt ihn Steffen. Die bewährte Duchamp–Geste der radikalen Kontextverschiebung, das Transformieren von Vertrautem in neue Zusammenhänge, ist Grundlage popmoderner Auschauung. Die Nachfalken beschäftigen sich mit der Kopie des Vorhandenen, der Manipulation der Realität, und sucht nach literarischen Readymades. Seine Methodik zielt auf verschärfte Wahrnehmung und Reflexion von Welt. Neben Öl und Benzin verkaufen übernächtigte Angestellten nahezu alles, was der Krämerseele des Besitzers Geld einbringt. Sie decken sich in dem Mini–Markt mit mehreren Six–Packs ein.

Die Wohnung von Nicola und Arno ist zwei Querstrassen entfernt. Eigentlich könnten sie das Gefährt an der Tankestehen lassen, doch die Kleinstadtdiva will sich partout vor die Haustür chauffieren lassen. Schmollend setzt sie ihren Willen durch. „Jung–Sein ohne Rebellion und subjektive Selbstvergottung?“ Die 1968er–Generation hat einen bestimmten Jugendbegriff gepachtet: Autorität angreifen. Für ihre Generation stimmt dieses Denken nicht mehr. Sie schleppen den Kram in die grosse Wohnküche und breiten ihn auf dem Tisch aus. Ein Pott kanadischer Erdnussbutter, den Sabine für Steffen aus der neuen Welt mitgebracht hat, sorgt für Entzücken. Gierig fallen die Schleckermäuler darüber her.

Die bequemen Möbel in der Wohnung von Nicola und Arno vermitteln das Lebensgefühl einer unangestrengten Moderne. Das Paar erinnert an Menschen, die in eine Falle geraten ist. Steffen spürt die Wut der Eingekreisten. Brunhild ist weder zum Sprechen noch zum Schmeicheln aufgelegt, sie mutiert allmählich von der lächelnden Schönrednerin zur eiskalten Automate. Der Wechsel vollzieht sich zunächst derart glatt, dass es Arno schaudert. Ein Strahlen wird zur Fratze, ein Fingerzeig zur entseelten Geste, Worte zu leeren Sprachhülsen.

»Ihr könnt auf der Couch schlafen, hab‘ euch das Bettzeug bereitgelegt«, wirft Arno jedem ein Handtuch zu. Linguistisches Fingerspitzengefühl ist nicht vonnöten, um sich über das kraftmeierische Vokabular mokieren zu können.

Brunhild verschwindet auf der Toilette. Steffen schnappt sich noch einen Schlaftrunk. Schlurft in das Wohnzimmer, bleibt vor der Anlage stehen und kramt eine Operetten–LP aus dem Archiv. Stellt die Schaltuhr auf 6·00 Uhr. Würgt den Strom ab. Legt den Tonträger exakt in die Rille eines Evergreens.

»Ehj, Kerl, was zum Teufel tust du da?«, empört sich Brunhild mit smartem Dekonstruktivistensound.

»Ich richte den Weckservice ein.«

»Oh, nein! Ich kann ausschlafen. Hättest du nicht bei Nicola schlafen können?«

Er verkneift sich darauf die Antwort. Fragt aber auch nicht, mit wem sie gerne das Nachtlager geteilt hätte. Selbstverständlich würde er nichts lieber als das tun, nicht nur wegen des gemeinsamen Frühstücks. Aber auch in diesen Kreisen gelten Sitte und Anstand. Er rollt sich wohlig in die Bettdecke ein und geht seinem liebsten Hobby nach: Frauen beim Ausziehen zusehen und studiert den seltsamen Mechanismus zwischen den Geschlechtern, das absurde Wechselspiel aus künstlichen Verzögerungen und holpriger Beschleunigung.

Brunhild scheint dies instinktiv zu spüren. Sie entkleidet sich vor dem Spiegel mit dem Gestus einer professionellen Stripperin. Zuvörderst lässt sie langsam ihre Bluse von den Schultern gleiten. Danach hakt sie in ihrem körpereigenen Groove den BH aus und lässt ihn verspielt auf den Boden sinken. Mit einem Schlenker aus der Hüfte rutscht der Rock knisternd über die Knie. Sie stellt abwechselnd die Fersen auf den Stuhl und pellt die schwarzen Netzstrümpfe von den Beinen. Mit den Händen fährt sie kreisend um ihr Becken. Lässt den winzigen Slip an den Oberschenkeln herunterrutschen. Dreht sich herum. Ihr rotes Schamhaar funkelt. Brunhild richtet ihre Scheinwerfer auf ihn und fragt provozierend:

»Na, wie war’s für den Anfang?«

»Soll ich nun etwa Beiphall klatschen?«

»Bist du immer so eine eiskalte Hundeschnauze?»

»Mich gibt es überhaupt nicht mehr. Ich komme mir vor wie jemand, der sich bei einem noch nicht zu Ende gelebten Leben interessiert zusieht«, scheinen ihm alle guten Ideen vernutzt und das Pathos der veröffentlichten Meinung folgenlos.

»Schlaf ist der Bruder des Todes?«

»Vorher hätte ich gern eine Mütze Schlaf. Muss wegen der Live–Übertragung früh raus. Wär‘ gerne leidlich auf dem Damm«, nuschelt er beim Herumdrehen und will einschlafen. Er hat von der medienpolitischen Erfahrung die Ohren voll, dass man elektronische Medien und das skandalisierbare Bewusstsein benutzen kann, um eine extraordinäre öffentliche Wirkung zu erzielen.

»Mutieren Gefühle etwa zu Wahrnehmungen?«, will Brunhild wissen.

»Gefühle sind nicht widerlegbar!«, gibt Steffen nach einigem Zögern eine Erwiderung über das einzig unbezweifelbare Eigentum des Menschen. Frauen wollen ihren Männern näher sein als ihre Männer ihnen. Brunhild schlängelt sich aufreizend langsam unter das Plumeau, reibt ihren rechten Oberschenkel an seinem Hüftknochen und elektrisiert mit ihrer Hand seine Brusthaare. Sex ist die beste Möglichkeit, einem anderen Menschen nahe zu kommen, es ist das Einzige, das in dieser Gesellschaft noch halbwegs funktioniert. Brunhild setzt ihren Sex als Waffe ein. Erobert Zentimeter um Zentimeter von seiner Haut. Es bleibt ihm keine andere Wahl, er kapituliert. Gibt sich ihr jedoch nicht hin. Sie zieht ihn zu sich herunter und presst seinen Kopf zischen ihre geöffneten Schenkel. Die rosa Farbe von Brunhildes Möse gegen die weisse Haut der Schenkel verschwimmt ihm vor den Augen. Mit zitternden Fingern schiebt er die Lippen beiseite, um die knospenartig geschwollene Spitze des erregten Kitzlers zu enthüllen. Leicht berührt er diese Blüte mit der Zungenspitze. Dann zieht er den Kopf zurück und bläst den Kitzler leicht an… Sie krallt die Fingernägel in das Bettlaken und zerreisst es. Das Spiel ist noch nicht beendet. Die Nachspielzeit beginnt. Während sich Brunhild in ihrem Orgasmus windet, streift sich Steffen ein Kondom über seinen Schwanz. Lässt seine Rute langsam in sie hineingleiten. Zieht sie bis zur Eichel wieder heraus und verweilt. Langsam bewegen sich ihre Becken in einem Rhythmus. Sie winden sich umeinander. Beim gleichzeitigen Orgasmus zerkratzt sie ihm brutal den Rücken und überschwemmt ihn mit einem Strahl von Urin. Die atembare Luft besteht aus einem Gemisch von überhitztem Gummi, Schweiss, Sperma, geronnenem Blut und Pisse. Zwei gleichwertige Gegner sitzen sich keuchend gegenüber. Sie haben das Bett in das verwandelt, was es ist – und woraus immer ein Sieger hervorgeht: ein blutiges Schlachtfeld.

Knacken, Knistern, Schnurpseln. Die Schaltuhr startet punktgenau um 6·00 Uhr. Die Nadel fällt in die Schallplattenrille, eine sinfonische Fantasie setzt mit leisem Knistern ein; defekte Stille macht sich breit; hernach: ein Trompetenmotiv über gedämpftem Tremolo der Kontrabässe, Kontrafagott und grosse Trommel, raumfüllend, weltschaffend. Es sticht ein extrem natürliches Klangbild ins Ohr, warm, jede Regung des Orchesterapparats dringt wohltuend durch.

»Oh no!«, stöhnt Brunhild und wälzt sich auf die andere Seite, während Steffen sich einem Stilett gleich aus dem Bett klappt, mit einer Robinsonade den Schukostecker erreicht und ihn aus der Steckdose zerrt. Die Musik eiert aus. Der nackte Torhüter greift nach seiner Hose unter ihren Netzstrümpfen. Alles, was über das diffizile Geflecht von Beziehungen zwischen Männer und Frauen gesagt wird, dokumentiert nur die völlige Verständnislosigkeit. Partiell können sie sich in der Begierde dem Gefühl des völligen Verströmens anheimgeben, doch nach dem Erwachen sind sie sich wieder fremd. Gefangen zwischen ritterlichem Fatalismus und einer richtungslosen Sehnsucht, schultert Steffen die Last, dem alltäglichen Klassenkampf einen endgültigen Ausdruck zu verleihen.

Vor der Haustür liegen frische Brötchen in einer Tüte. Daneben steht eine Flasche Milch. Der Zeitungsjunge legt die Wochenendausgabe dazu. Die Strasse gähnt wochenendfriedlich. Ein paar Dauerläufer streifen zielorientiert vorbei. Steffen startet die alte Kiste und macht Platz für Theo, der ihn mit Stinkefinger und Lichthupe aus der Parklücke verscheucht. Vom Licht geblendet, nimmt Steffen den Entgegenkommenden nicht wahr und verursacht einen Frontalunfall.

 

 

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Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2010.

Coverphoto: Anja Roth

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