Freude am Sprach­experi­ment

Das Treibholz der Sprache

Diese Gedichte sind dabei weit weg von allzu grüble­rischer Hermetik oder expres­siv überladenen Wort­kaskaden, deutlich wird bei diesen Schmauchspuren die Freude am kühnen Sprach­experi­ment mittels vor­sichtig und fein verfugter Sprache. Da kreist Schreiben um den Schöpfungsvorgang einer rein immanenten, innersprachlichen Welt und zuweilen hat man den Eindruck als handele es ich bei diesen ‚VerDichtungen’ um Mikro-Essays. Das klingt verkopft, aber zum Kopf gehört das Gehirn und nicht nur die Augen.

Der Markt entwertet alles zu nichts

Es ist kein Zufall, das Schmauchspuren (sowie das lyrische Gesamtwerk) bei der Edition Das Labor erschienen ist, denn die Konzentration im Verlagswesen und im Buchhandel schreitet im Internetzeitalter rasant voran. Literatur ist eine Ware mit besonderer Aura. Über ihre Vermarktungsstrategien streitet man sich bereits, seit Gutenbergs Erfindung des Bleisatzes. Gut gefüllte Bücherregale bieten kaum noch Prestige, verständiges Lesen nimmt ab und digitale Lektüren bauen das Gehirn um. Der Markt für literarisch anspruchsvolle Innovationen und Entdeckungen hat sich dramatisch ausgedünnt, die Neugier auf die zu lesende Kunst hat in einem beängstigenden Maß nachgelassen. Pop, Glamour und Spaßkultur haben vor das Ernstere geschoben. Zerstreuung, Abenteuer, Fantasy, Selbsterfahrung, Internet verbauen den Blick auf das Wesentliche, das wir benötigen, wenn viele dieser Phänomene ihre Anziehungskraft verloren haben. Buchhändler verlangen Werbekostenzuschüsse, damit Bücher überhaupt in der Auslage präsentiert werden, die Presse ist immer stärker von den Anzeigen der Großverlage abhängig, deren Bücher sich immer ähnlicher werden und die Literaturkritik ist auf den Hund gekommen. Umgeschriebene Waschzettel beleidigen den Lesern genauso redaktionelle Inhalte, die an Anzeigen geknüpft sind. Diesem publizistischen Schneepflug entkommt keiner. Warum solche Bücher wie die von Joanne Rowling, Henning Mankell oder Stephen King zum Bestseller werden, mag leicht zu erklären sein. Originalität jedenfalls spielt keine Rolle. Das Unfertige, Fragmentarische, Geschwätzige hat längst die Alleinherrschaft übernommen. Ein Meisterwerk benötigt absolute Konzentration, und die ist in auseinanderschwirrender Zeit schwer zu gewinnen. Perfektion wird kaum mehr angestrebt, geschweige denn erreicht. Schon um ihrer Seltenheit willen sollte man sie höher schätzen.

Phonokratie: Rhetorische Decodierung des lyrischen Ichs

A.J. Weigoni, Porträt: Jesko Hagen

In der Studioarbeit geht es den Artisten um ein Stimmenhörenschreiben. Es kommen drei Dinge zusammen: zunächst die Stimme als körperlicher, materieller, objektiver Ausdruck von menschlicher Subjektivität und Individualität. Es folgt die politische Stimmabgabe, wo diese Subjektivität in die Repräsentation eingeht. Und die tonal aufgezeichnete Stimme, weil sie Elemente der beiden anderen verbindet: Das Hörbuch Stimme hat einerseits den Körper verlassen und geht so in eine Öffentlichkeit ein, was mit Stimmabgabe zu tun hat, andererseits wurde sie von einem Körper verursacht. Seine Lyrik muss mit Augen und Ohren wahrgenommen werden, die Worte wollen klingen. Ihr unaufdringlicher und trotzdem eindringlich ausdrucksstarker Ton fängt den Zuhörer ein. Bei seinen Rede– und Suchgedichten konzentriert sich Weigoni beim Rezitieren auf die nackte Stimme. Es ist ein Textkonzert, die Partitur ist Sprache. Tom Täger stellt sie auch bei dieser Aufnahme im Tonstudio an der Ruhr ganz in den Vordergrund. Gleichzeitig löst sich die Sprache in den Gedichten in ihre Einzelheiten auf.

Das Ziel ist eine Einheit von Atem, Sprache und Poesie.

Dieser Sprechsteller hat beim Schreiben das Hören im Blick und beim und Sprechen das Auge im Ohr. Er läßt die Distanz zwischen Sprache und Gedanken schrumpfen, dass die sich daraus ergebende Transparenz des Verfahrens es erlaubt, dass sich die Unterschiede zwischen Gattungen aufheben. Heiner Müller hat sinngemäss gesagt, Autoren müssen dem Hörer mit ihren Texten Widerstand entgegensetzen, es sei ihre Pflicht zu überfordern. Der Widerstand, den die Materialität eines Textes leistet, bietet sich eben auch als Material für Sprecher. Dort, wo etwas präzise gebaut ist, zwingt es, gegen den Schlendrian eine klare Haltung einzunehmen, die dazugehörige Form ist zu erfinden. Bei dieser Fülle des Wohlauts finden sich vokale Eruptionen und Rauheiten sebenso wie das allerschönste, sehnsuchtsvollste Tremolo. Man kann dieses Kompositum als Polyphonie hören, eine Art Wortkonzert, ein auf– und abschwellender Klagegesang über den Verlust des Individuums. Es geht um Stimmen und ihr Spiel, ein Aus–Sprechen, das die Kulturgeschichte von Klang und Ton gleichsam mitatmet.

 

 

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Prægnarien, Hörbuch von Philipp Bracht, Frank Michaelis und A.J. Weigoni. Eine limitierte Auflage von 50 Exemplaren ist versehen mit einem Original von Haimo Hieronymus. Edition Das Labor, Mühleim an der Ruhr 2013

Gedichte, Hörbuch von A.J. Weigoni mit den lyrischen Gesamtaufnahmen, Edition Das Labor, Mülheim 2015

Auf dem Cover finden wir paßgenau hingetuschte Porträts.

Hörproben → Probehören kann man die Prægnarien auf MetaPhon. Ein Video von Frank Michaelis und A.J. Weigoni hier.

 → Lesen Sie auch die Würdigung von Jens Pacholsky: Hörbücher sind die herausgestreckte Zunge des Medienzeitalters.

Weiterführend → Jeder Band aus dem Schuber von A.J. Weigoni ist ein Sammlerobjekt. Und jedes Titelbild ein Kunstwerk. KUNO faßt die Stimmen zu dieser verlegerischen Großtat zusammen. Last but not least: VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, ein Essay von A.J. Weigoni in dem er dichtungstheoretisch die poetologischen Grundsätze seines Schaffens beschreibt.