Kollegengespräch · Replica

Vorbemerkung der Redaktion: Für das Projekt Kollegengespräche hat A.J. Weigoni einen Austausch zwischen Schriftstellern angeregt. Auf KUNO ist diese Reihe wieder aufgelebt.

Wir arbeiteten am gleichen „Produkt“, an der deutschen Sprache.

WEIGONI: Zwischen 1995 und 1999 machte ich gemeinsam mit Kollegen aus Belgien, Deutschland, Rumänien, Österreich und der Schweiz eine Reihe von Kollegengesprächen. Wir arbeiteten am gleichen „Produkt“, an der deutschen Sprache. Ausgang zu den Kollegengesprächen war die Rezeption von Literatur im Neuen Deutschland. Mit meinen Gesprächspartnern stimmte ich weitestgehend darin überein, dass man Literatur nicht nur den „Fachleuten“ überlassen sollte. Eine Frage blieb offen: Kann es eine Sprache zwischen Buchdeckeln geben, die den Lesern nicht auf die Nerven geht?

BENKEL: es gibt ja sehr verschiedene arten von lesern. vielleicht findet der literaturspezifische dialog manchmal in einem elfenbeinturm statt. schließlich will man kundige menschen ansprechen. michel serres schrieb in »Die fünf Sinne / Eine Philosophie der Gemenge und Gemische«: »Der wirkliche Elfenbeinturm droht nicht dem einzelnen; er umgibt die Vereinigung. Die Gruppe umgibt sich mit einer undurchdringlichen Mauer aus Sprache.« und »Der Gruppe angehören heißt den Lärm nicht hören.«

über die heutigen schriftsteller wird man später womöglich sagen, sie hätten die entwertung der literatur mitgestaltet. du sagtest einmal, du hättest noch nie einen autoren erlebt, dem so wenig am eigenen erfolg gelegen sei wie mir. in einer zeit des siegs der verwerter über die schöpfer und der effekte über die inhalte darf man das wohl als lob verstehen. ich verweigere mich tatsächlich allen wirkungsästhetischen konzepten. man schreibt texte für die texte, die man schreibt. literatur hat, wie bildung, an sich einen wert und ist nicht bloß mittel zu jeweils wechselnden zwecken. mit menschen, die das nicht begreifen, kann man über den inneren kern von literatur nicht reden. nur vulgärmaterialisten beurteilen texte einseitig nach ihrer verwertbarkeit. besser man scheitert als daß man sich fremden erwartungen unterwirft. wer tiefenschichten erkundet, muß, da die allerletzten tiefen kaum jemandem zugänglich sind, sowieso scheitern. und  überragt dann dennoch alle, die bloß oberflächen bedient haben.

zudem sollte man autoren auch gegen ihre interpreten schützen. literarische oder künstlerische wirkungen basieren häufig auf projektionen, illusionen, mißverständnissen, irrtümern, inszenierungen, manipulationen, vereinnahmungen und mißbräuchen. denn die motivationen, antriebe, ambitionen und intentionen im schreibprozeß, die der künstlerische autor selber bewußt oft gar nicht wahrnimmt oder nicht einmal kennt, und die erwartungen der leser, das sind zwei völlig verschiedene wirklichkeiten. manche können die produkte der literatur interpretieren, die spezifik ihrer entstehung verstehen schon viel weniger und eigentlich bloß winzige minderheiten, die immerhin miteinander reden sollten.

Deutschsprachige Literatur als demoskopisches Küchenstück?

WEIGONI: Für diese Form von Gesprächen nahmen wir uns Zeit. Viel Zeit. Oft mehrere Monate. Mit einem etwas veralteten Medium – dem Briefeschreiben – stellen wir uns Fragen, die auch eine breitere Öffentlichkeit interessieren könnte. Im Laufe der Zeit ergab das allmählich die Form einer journalistischen Gattung, das Interview, bei dem im günstigsten Fall zwei Insider über das reden, von dem sie mehr verstehen als „Literatur–Wissenschaftler“. Deutschsprachige Literatur als demoskopisches Küchenstück?

BENKEL: die besten dialogbücher, die ich zuletzt las, waren roland barthes »Die Körnung der Stimme / Interviews 1962 bis 1980« sowie peter sloterdijk und hans-jürgen heinrichs »Die Sonne und der Tod / Dialogische Untersuchungen«. literaturwissenschaftler betreiben wissenschaft, nicht literatur, teils zudem noch literaturvermittlung. und nicht alle literaturtheoretiker verstehen wirklich etwas von literatur. theorien gehen häufig ihre eigenen wege. die beiträge der autoren zu ihren büchern und denen ihrer kollegen können alternativen zu literaturmarkt und literaturtheorie bieten.

WEIGONI: Gibt es nach 1989 nurmehr eine Solidarität der Solitäre?

BENKEL: ich spreche von künstlerischer literatur und unterscheide zwischen kultur und kunst. »kunst wird meist von außenseitern geschaffen, kultur von etablierten.« der ort des künstlers ist außerhalb der kultur, oder an der grenze dazu. »Der Professor, der Kritiker, der Theoretiker, der Politiker, sie alle leben auf der geschlossenen Seite; der Schriftsteller sucht sich sein Domizil an den offenen Rändern.« erklärte serres. mein ausgangspunkt war freilich der irrtümliche glaube an die einheit von kultur und kunst. heute verstehe ich unter kultur vor allem konventionen, normen, traditionen, sitten, kultisches leben und geregelte spielformen. kultur will sich innerhalb einer zeit behaupten, das heißt darin meist bräuche bewahren oder moden etablieren, während kunst eher bestehendes infrage stellt und zeitlos wirkt.

künstlerische autoren sind immer in der minderheit. in allen zeiten schreiben die meisten schriftsteller gebrauchsliteratur, die aktuelle, und oft zeitgeistkonforme, erwartungen und interessen bedient. und der zeitgeist wandert wie eine wanderdüne durch die kulturgeschichte. wer sich daran festhält, dem zerfällt am ende alles. weitgreifende vorstellungen von einer eingreifenden literatur wiederum haben sich als illusionen erwiesen. literatur kann einzelne menschen zum nachdenken anregen, das bleibt auch eine ihrer aufgaben, nicht aber die gesellschaftliche wirklichkeit oder gar den menschen verändern.

Abstrahieren heißt die Luft melken.

WEIGONI: Wir versuchen bei der Edition das Labor die Solidarität der Solitäre umzusetzen. Dies führte zu einer Zusammenarbeit mit dir. Deine Aphorismen im Band Gedanken, die um Ecken biegen gehen weiter als der geschriebene Text; sie sind kein Ende, sondern ein Anfang. Sie versuchen, diesen kleinen Rest an Sprache etwas aufzuhellen, und wagen es seine Ränder verstehbar zu machen. Folgen deine Aphorismen einem linearen und systemischen Denken oder entfalten sie sich assoziativ und labyrinthisch?

BENKEL: denken hab ich fast nur durch die lektüre von büchern gelernt. wenn ich philosophie studiert hätte, dächte ich vielleicht linearer und müßte mich auch davon erst wieder emanzipieren. »Abstrahieren heißt die Luft melken.« erklärte friedrich hebbel. aphorismen, die durch ihre verknappung teils etwas asketisches haben, widersprechen an sich systemischen denkweisen. jeder aphorismus ist der vorübergehende endpunkt eines denkprozesses, aus dem möglichst wieder neue fragen entstehen sollten. meine aphorismen sind jedenfalls keine allgemeingültigen wahrheiten, sondern denkimpulse, die in sich selbst widersprüche und paradoxien abbilden. einige meiner gedanken beantworten deine frage: »je tiefer man sich denkend einen gegenstand aneignet, umso mehr verschwinden die klaren kausalitäten, die man an der oberfläche gefunden hat, und man entdeckt vielschichtige und sich teilweise überlagernde labyrinthische, spiralförmige und fächerartige formen sowie ambivalente, paradoxe und absurde inhalte, die ein relativierendes denken verlangen.«, »lichtenberg konnte unter anderem deshalb krumm denken, weil er einen buckel hatte, an dem er die systemdenker runterrutschen ließ.«, »übergroße klarheit im denken verhindert eher einen wachen blick.«, »zertrümmert die ideologien, und ihr werdet paradoxe aphorismen ernten.«, »aphorismen sind lavafunken des geistes.« und »paradoxien weisen die wege zur ganzheit.« wenn jacques derrida in »Die Schrift und die Differenz« schrieb: »Das Labyrinth ist ein Weg, der seine Auswege in sich birgt, der seine eigenen Ausgänge in sich begreift, der seine Pforten öffnet, das heißt, der sie auf sich hin öffnet und sich schließt, wenn er seine eigene Öffnung denkt.«, so meinte er, der labyrinthische denker müsse selbst zum labyrinth werden, wenn er sich unbekanntem öffnen wolle.

es ist durchaus sinnvoll, radikal zu denken, indem man endkonsequenzen mitdenkt, damit man sie danach wieder relativieren und einordnen kann. manche menschen handeln radikal, gerade weil sie nicht genügend über die konsequenzen nachdenken. »wir sollten stets die radikalen alternativen mitdenken, damit sie am ende nicht eintreten müssen.« notierte ich. die ungedachten gedanken sind indes immer perfekter als die gedachten, weshalb der konsequente denker eigentlich gar nicht denken dürfte, da ihn jeder gedanke von der idee des idealen denkens entfernt. wer das weiß, kann dann umso genauer und tiefer denken.

wer die menschenwelt objektiv zu betrachten versucht, sieht zunächst vor allem ameisenhaufen, derweil die zeitgeistkonformen ich-marionetten nicht einmal ahnen, daß sie zu einem haufen gehören. je mehr man eine gesellschaft durchschaut, umso weniger kann man in ihr leben. denn leben verlangt die blindheit der erfahrung. das erklärt auch die vielen, und häufig naiven, fehlurteile der täglichen fernsehnachrichten, die manche wie einen kult erleben. man möchte ihnen zurufen: wacht endlich auf und denkt selber. doch das würde den lebensinteressen der meisten widersprechen, die ihre egoistischen urteile mit eigenem denken verwechseln. das tiefere denken jedoch, zu dem anthropologische, psychologische, soziologische, ethnologische, phänomenologische, zeitlose, kosmische oder jenseitsweltliche blicke verhelfen können, ohne die man die komplexität der modernen menschenwelt kaum noch erfassen kann, muß unabhängig sein von den zwecken einer zeit. jeder idealistisch begründbare profane sieg ist eine katastrophe für das denken.

jede generation glaubt, eine veränderung der erscheinungsformen des dummen würde die dummheit insgesamt überwinden, die gerade deshalb weiterlebt. wer etwas über funktionsweisen der nachhaltigkeit wissen will, sollte sich bei der dummheit erkundigen. denn dummheit ist eine nachwachsende ressource. das wirft die frage auf, was unter dummheit, die ebenfalls zunehmend privatisiert wurde, zu verstehen sei. ich denke, die unfähigkeit zum eigenständigen, unkonventionellen, hinterfragenden, vertiefenden, differenzierenden und vorausschauenden denken. dumm machen kann etwa die verachtung von bildung und kultur, die man zum leben angeblich nicht braucht, die weigerung, über eigene erfahrungen und interessenlagen hinaus zu denken, die annahme, was man selber nicht begreife, das könne nichts taugen, jede art von autoritätsgläubigkeit, apologetik, antinomischem denken oder pauschalurteilen, so wenn jemand vorgeprägte meinungen ungeprüft übernimmt, abstrakte prinzipien, obwohl sie nicht passen, auf konkrete sachverhalte und menschen anwendet, einzelne aspekte ohne beachtung von zusammenhängen verabsolutiert oder äußerliche effekte für inhalte und fähigkeiten hält. sogar anerkennung folgt oft prinzipien der mißachtung, indem am eigentlichen vorbei anerkannt wird. aus den käfigen der egoistischen interessen, kollektiven normen und zwänge und des jeweiligen zeitgeistes, in denen man permanent dummheiten produziert, kommen bloß wenige heraus. intelligente, kreative, sensible und nachdenkliche menschen, die immer außenseiter bleiben, trifft dies natürlich besonders. so gesehen muß man wahrscheinlich sagen, daß die meisten menschen mit viel dummheit aufwachsen. manche können diesen zustand aber überwinden.

lichtenberg schrieb: »Dinge zu bezweifeln, die ganz ohne weitere Untersuchung jetzt geglaubt werden, das ist die Hauptsache überall.« und »Wenn man die Menschen lehrt WIE sie denken sollen und nicht ewig hin, WAS sie denken sollen, so wird auch dem Mißverständnis vorgebeugt.«, nietzsche: »Überzeugungen sind Gefängnisse.« und »Es gibt einen alten Wahn, der heißt Gut und Böse. Um Wahrsager und Sterndeuter drehte sich bisher das Rad dieses Wahns.«, schopenhauer: »Je niedriger ein Mensch in intellektueller Hinsicht steht, desto weniger Rätselhaftes hat für ihn das Dasein selbst.« und »Dem schwachen Kopf ist das Denken so unerträglich, wie dem schwachen Arm das Heben einer Last: daher beide eilen niederzusetzen.«, pierre bourdieu: »Wie wenige bewiesene Dinge gibt es doch!« und »Wenn die bestehende Ordnung so gut verteidigt wird, so deswegen, weil es zu ihrer Verteidigung genügt, dumm zu sein.«, egon friedell: »Der Augenblick, wo nicht mehr der Inhalt, sondern die Form, nicht mehr die Sache, sondern die Methode zum Hauptproblem erhoben wird, bezeichnet immer und überall den Anfang der Décadence.« und »Aber andrerseits muß man gerechterweise auch anerkennen, daß gerade die Niedergangszeiten in Kunst, Wissenschaft, Lebensordnung eine Feinheit, Kompliziertheit und psychologische Witterung zu entwickeln pflegen, die nur ihnen eigen ist.«, cioran: »Klarsicht ist das einzige Laster, das frei macht – frei in einer Wüste.« und »Alles durchschaut haben und dennoch am Leben bleiben – es gibt keinen unmöglicheren Zustand.«

Der Traum des Kritikers … eine Kunst durch ihre Technik zu definieren.

WEIGONI: Matthias Hagedorn versuchte auf KUNO mit dem Schwerpunkt Twitteratur das Technisierte der Literatur ironisch aufzubrechen. Folgt man Roland Barthes, so ist es „Der Traum des Kritikers … eine Kunst durch ihre Technik zu definieren.“ Oder ist diese Technikgläubigkeit spätestens seit dem NSA-Skandal gestorben?

BENKEL: dazu schrieb ich in meiner rezension zum buch »Trans – Reflexionen über Menschen, Medien, Netze und Maschinen« von joachim paul: »techniken sind weder gut noch böse, sondern das, was menschen aus ihnen machen. ob moderne technologien das menschliche denken letztlich bereichern oder entwerten, bildung oder verdummung, vertiefung oder verflachung, die emanzipation der bürger oder die herrschaft der apparate bewirken, ist noch unentschieden. die technik selbst macht alldas möglich. vermutlich geschieht, was immer geschah, die meisten menschen bleiben von techniken abhängig und nur wenige befreien sich damit.« und »daß im technokratischen denken auch verachtung der menschlichen natur mitwirkt, scheint mir unzweifelhaft. firmen, die nach dem ersten weltkrieg beinundarmprothesen produzierten, warben dafür mit der behauptung, technisch hergestellte beine und arme seien perfekter als die natürlichen. offenbar soll dieser glaube nun auf immer weitere teile des menschlichen körpers und selbst das gehirn ausgeweitet werden. dabei sollten wir nicht vergessen, daß techniken insgesamt lediglich prothesen sind.« menge und geschwindigkeit der tagtäglichen informationen bewirken, indem meist bloß oberflächen bedient und verarbeitet werden und dadurch wissen nicht zur bildung vertieft wird, beinahe zwangsläufig verflachungen des denkens, denen man nur durch konzentriertes innehalten und sublimierendes selberdenken entgehen und entgegnen kann.

ich bleibe der technik gegenüber skeptisch. man sollte allem mißtrauen, das zu wirken beginnt. wer sich von wirklichkeiten abhängig macht, ist ihnen ausgeliefert. und funktionalität erzeugt austauschbarkeit. nichts hat mehr skepsis verdient, als system und systemtheorien, die funktionieren, weil sie am ehesten unausweichlich sind. wir können nicht wissen, was spätere menschen mit techniken anstellen, die derzeit erfunden und entwickelt werden, ebenso wenig, wie sie unser heutiges handeln beurteilen. gewiß scheint nur, daß sie dabei ihren erfahrungen und interessen folgen. was wir heute denken, bestimmen morgen andere. ich vermute, künftige generationen werden den heutigen die zerstörungen der lebensgrundlagen vorwerfen und empört fragen, wie man dies zulassen konnte. und das stellt dann, neben der technokratie und ihren prinzipien, unseren gesamten individualismus mit seinen lebensformen infrage.

Das Essay ist nicht nur eine hybride, sondern auch eine ambivalente Form. Es ist ein Diskurs, aber so, dass bei ihm immer versucht wird, Dialoge zu provozieren. Ein Faden, der in der Einsamkeit gesponnen wird, aber dessen anderes Ende so baumelt, dass er von anderen aufgegriffen und weitergesponnen werden könne.

Vilém Flusser

WEIGONI: Was deinen Essays die Überzeugungskraft verleiht, ist eine grosse Anstrengung, der du dein Material unterwirfst. Deine Texte zeigen, was der Fokus auf eine Fragestellung sichtbar machen kann, wie diese Konzentration aufdeckt, was dem Schreibenden selbst verborgen blieb, wohl wissend, dass die Fülle der Literatur, der Kunst und des Lebens eben darin besteht, nie alles wissen zu können. Scheitern als Chance?

BENKEL: die iren kennen das sprichwort »Wer glaubt, etwas verstanden zu haben, ist falsch unterrichtet.« hierzu notierte ich gedanken, die man thesenhaft so zusammenfassen könnte: »was wir nicht verstehen, fordert uns heraus. aufgeklärtes denken verlangt, daß jeder antwort die originellere neue frage folgt. der zustand zwischen frage und antwort ist der des eigentlichen seins. aufklärer kann nur sein, wer sich selbst infrage stellt. wer ohne fragen und zweifel, nicht zuletzt an sich selber, lebt, mindert seine ideellen antriebe. es gibt kein endprodukt der erkenntnis. alles erkennen bleibt momentaufnahme und jedes verständnis ist relativ.« große geister sind meist skeptiker. und skepsis ist eine zivilisationsleistung, die stets neu erlernt werden muß.

»Was der Sinn fühlt, was der Geist erkennt, das hat niemals in sich ein Ende. Aber Sinn und Geist möchten dich überreden, sie seien aller Dinge Ende: so eitel sind sie.« sagt nietzsches zarathustra. egon friedell schrieb in seiner »Kulturgeschichte der Neuzeit«: »Zunächst liegt es im Schicksal jeder sogenannten „Wahrheit“, daß sie den Weg zurücklegen muß, der von der Paradoxie zum Gemeinplatz führt. Sie war gestern noch absurd und wird morgen trivial sein. Man steht also vor der traurigen Alternative, entweder die kommenden Wahrheiten verkünden zu müssen und für eine Art Scharlatan oder Halbnarr zu gelten, oder die arrivierten Wahrheiten verkünden zu müssen und für einen langweiligen Breittreter von Selbstverständlichkeiten gehalten zu werden, sich entweder lästig oder überflüssig zu machen. Ein Drittes gibt es offenbar nicht.« eben dieses dritte wäre aber wichtig. das nebeneinander verschiedener einseitiger meinungen, die wir medial vielfach erleben, ergibt noch kein differenzierendes denken.

»wer sehen will, darf fast nicht wissen, was er sieht.« schrieb ich. wer unbefangen betrachten möchte, sollte zunächst alles vorwissen vergessen, da dieses, das auch auf irrtümern und vorurteilen basieren kann, die betrachtung ja beeinflußt. zudem sieht man häufig am wenigsten, wenn man auf etwas bloß draufschaut. differenzierung verlangt perspektivwechsel, schräge blicke und das durchschauen der oberflächen. und dieses vertiefende erkennen ist dann nachhaltiger als das schnelle urteil, allerdings nicht immer handlungskompatibler.

wer lyrik verstehen will, braucht ein gespür dafür, wie sie entsteht.

WEIGONI: Interessant, welche Denkbewegungen du zwischen dem Band „kindheit und kadaver“ und „meißelbrut“ lyrisch vollzogen hast. Mündet das mit der Arbeit zu deinem neuen Band nun in eine Art von Trilogie?

BENKEL: »kindheit und kadaver« enthielt noch viele bis dahin unveröffentlichte frühe gedichte. »meißelbrut« war schon programmatischer konzipiert. die texte waren komplexer geworden und ich ordnete die motivfelder bewußter. die gedichte aus »seelenland« sind wieder einfacher strukturiert, wohl weil ich mich viel mit symbolen befaßt habe und dieses wissen beim schreiben einfließt, weshalb die texte auch weniger spontan entstehen. vermutlich gehen viele meiner gedichtpassagen auf das naturerleben der kindheit zurück.

wer lyrik verstehen will, braucht ein gespür dafür, wie sie entsteht. im kreativen moment, der vom blitzhaften lebt, das theoretisch schwer faßbar ist, herrscht praktisch immer der ausnahmezustand, der konventionelles und normiertes aufsprengt, indem die schöpferischen impulse sphären öffnen, die außerhalb der profanen und sichtbaren wirklichkeit liegen. was dabei geschieht, weiß der dichter, der kreativ in einer art traumreich lebt, oft selbst nicht. »der Künstler ist kein Kunstfreund, sondern der eigentliche Widersacher der Kunst. Jener Kunst nämlich, die herrscht bis zum Augenblick seines eigenen Erscheinens.« meinte der literaturwissenschaftler karl heinz bohrer in »Plötzlichkeit / Zum Augenblick des ästhetischen Scheins«.

man darf kreativität nicht erzwingen und muß ihr zugleich material liefern, damit sie arbeiten kann. als gegengift zu allzu idealistischen literaturvorstellungen zitiere ich edgar allan poe, der in »Die Methode der Komposition« erklärte: »Fest steht, daß Originalität (außer bei besonders kraftvollen Geistern) keineswegs, wie manche meinen, eine Sache des Instinkts oder der Intuition ist. Im allgemeinen läßt sie sich nur durch mühseliges Suchen finden, und sie verlangt, wenngleich von höchstem positivem Wert, für ihre Verwirklichung doch weniger Einfall als Auswahl.«, und: »Die meisten Verfasser – insbesondere die Poeten – möchten gern so verstanden sein, als arbeiteten sie in einer Art holden Wahnsinns – einer ekstatischen Intuition –, und sie würden entschieden davor zurückschaudern, die Öffentlichkeit einen Blick hinter die Kulissen tun zu lassen: auf die verschlungene und unschlüssige Unfertigkeit des Denkens – auf die erst im letzten Augenblick begriffene wahre Absicht – auf die unzähligen flüchtigen Gedanken, die nicht zu voller Erkenntnis reiften – auf die ausgereiften Ideen, die verzweifelt als nicht darstellbar verworfen werden – auf die vorsichtige Auswahl und Ablehnung – auf das mühsame Streichen und Einfügen – kurz, auf die Räder und Getriebe – die Maschinerie für den Kulissenwechsel – die Trittleitern und Versenkungen – den Kopfputz, die rote Farbe und die schwarzen Flicken, die in neunundneunzig von hundert Fällen die Requisiten des literarischen Histrionen ausmachen.«

Inwieweit sind Collage, Montage und Filmschnitt Grundbedingungen des Dichtens?

WEIGONI: Was mich an deinen Gedichten immer schon fasziniert hat, sind die Verwendungen von Techniken aus der bildenden Kunst und des Films. Inwieweit sind Collage, Montage und Filmschnitt Grundbedingungen des Dichtens?

BENKEL: collagen und montagen in der kunst zeigen einen zweifel an herkömmlichen formen und inhalten. außerdem deuten sie an, daß auch die dinge der realen welt permanent demontiert und neu, oder wenigstens anders, zusammengefügt werden. durch solche techniken kann der künstler, die künstlerische literatur inbegriffen, die oberflächen des gemeinhin sichtbaren samt ihrer naturalistischen und gegenständlichen darstellungen, und damit festgefügte ordnungen, infrage stellen und überwinden. karl heinz bohrer behauptete, die formalen mittel der montage und collage sowie des fragments seien in der modernen malerei und literatur scheinbar geradezu unverzichtbar, weil sie verhinderten, »daß der falsche Schein einer ästhetischen Versöhnung aufkommt. Einer Versöhnung des Lesers, des Betrachters nämlich mit der Realität durch deren Harmonisierung in der Kunst.« andererseits benutzen die werbung und andere animationsgewerbe diese techniken permanent zu banalen und manipulativen zwecken. die kunst muß sich und ihre traditionen also auch der profanästhetischen wirklichkeit permanent neu abgewinnen. was nicht immer wieder durch erneuerung bewahrt wird, geht verloren.

ich denke vor allem bildhaft, räumlich sowie in verfremdungen. und dafür bieten die bildenden künste und die filmkunst entsprechende anregungen. ich schaute also, mit welchen techniken beispielsweise hieronymus bosch, caspar david friedrich, pablo picasso, salvadore dalí, wassili kandinsky, paul klee, max ernst oder franz marc sowie ingmar bergman, luis buñuel, akira kurosawa, orson welles, federico fellini, andrej tarkowski, emir kusturica oder alejandro gonzáles iñarritu arbeiteten. gedichte leben vom bilderfluß und von bildmontagen, die der film in technik übersetzt, wovon auch der sprachbildner lernen kann. im nachhinein läßt sich natürlich nur noch bedingt nachweisen, was da konkret wie nachgewirkt hat. ich weiß etwa nicht genau, ob mich eher die filmschnitttechniken von jean-luc godard angeregt haben oder mehr die von michelangelo antonioni.

gedichte ähneln in vielem träumen. sie kommen aus unbewußtem, schaffen gegenwelten und wirken durch angedeutetes, das der deutung bedarf. der interpret von gedichten benötigt daher genaue ahnungen. das mag uneingeweihten, die nach anschaulich greifbarem und plastisch verkörpertem suchen, das verständnis erschweren, weil sie selten eindeutiges, mithin bereinigtes, finden, das gesicherten halt gibt und bekannte denksätze bestätigt. der leser muß sich vielmehr in einen literarischen mikrokosmos einfühlen und hineindenken, von dem der autor beim schreiben, als akteur und zeuge seiner motivwelt, nicht selten selber staunend überrascht wird.

in der sprache der träume werden zeichen, deren lebensrealen sinn wir aus der außenwelt kennen, zu symbolen der innenwelt, der seele und des geistes. und daher können auch die unterschiedlichsten motive und gegenstände entfernter lebensbereiche innerhalb eines traums nebeneinander stehen oder nacheinander folgen oder sich miteinander verbinden und vermischen, weil ihre logik auf etwas verweist, das nicht allein durch die gesetze der äußeren realität bestimmt ist und worin die allgemeinen regeln von raum und zeit nicht gelten. und vielleicht sind wir überhaupt allein beim träumen frei, zumal der traum verhärtete psychische strukturen auflösen und utopische partikel freisetzen und den träumer so verjüngen und sein leben verlängern kann, und jede andere freiheit bleibt illusion.

Ist Poesie eine Sensibilität, eine Haltung, eine Art, über Identität nachzudenken?

WEIGONI: Ich nenne mich VerDichter. Wie definierst du dich als Poet?

BENKEL: verdichten sollte jede dichtung. poet klingt heute romantisch oder weltfremd. viele verbinden damit »brotlose Kunst«. es schärft jedoch den blick, wenn man die welt als fremd empfindet. schriftsteller wiederum wirkt handwerklich. autor ist mir lieber. denn dieses wort bezeichnet den urheber eines textes.

WEIGONI: Ist Poesie eine Sensibilität, eine Haltung, eine Art, über Identität nachzudenken?

BENKEL: ohne sensibilität entsteht keine gute literatur, wobei es auch verschüttete sensibilität gibt, die der autor erst wieder ausgraben muß. eine haltung sollte man nicht vor sich her tragen, sondern spüren lassen. autoren, die repräsentativ sein wollen, sei es für ihr volk, ihre kultur, ihre weltanschauung, ihre generation oder irgendeine andere menschengruppe, mißtraue ich eher. was wirklich repräsentativ war, erkennt man oft erst nach jahrzehnten oder gar jahrhunderten. die menschen einer zeit beurteilen die literatur ihrer gegenwart nicht zuerst nach literarischen kriterien, und schon gar nicht historisch objektiv.

die antriebe des schreibens sind vielmehr überwiegend persönlicher, manchmal auch privater und intimer art, bis hin zur notwendigkeit der selbsttherapie, die wohl bei jeder literatur, kunst und überhaupt kreativität mitwirkt. da nun aber viele etiketten brauchen, um etwas einordnen zu können, heftet sich auch die literatur manche etikette an oder läßt sie sich anheften. ich lese nie buchausgaben, die medial gerade angepriesen werden. die meisten für mich interessanten bücher entdecke ich sowieso selber, etwa durch andere autoren, die daraus zitieren. marketing ist eher etwas für unkundige. alles tiefere und höhere verlangt eigenes denken und suchen. wer die richtigen pfade für sich gefunden hat, wird auf ihnen immer wieder neues finden, das anregt. da kann dann ein anderer nur bedingt empfehlungen geben.

Bedeutungshumus der sprache

WEIGONI: Soll ausschließlich das sprachliche Geschehen, die Chemie des Sprachmaterials Gegenstand der Poesie sein?

BENKEL: jean-paul sartre sprach vom »Bedeutungshumus« der sprache. metaphern sind vokabeln der bildersprache. bereits die worte selbst enthalten symbolik, insbesondere in ihren ursprüngen. die etymologie ist die mythologie der sprache, die uns zu quellen des menschlichen wahrnehmungsvermögens führen kann. wer die wurzeln der worte versteht, kommt der poesie schon nahe, die ebenfalls vom bildhaften und assoziativen wahrnehmen und gestalten lebt. ich schlage oft in etymologischen oder andern wörterbüchern nach. ebenso schaue ich aber auch nach symbolbedeutungen verschiedener kulturen und kulturepochen.

meine gedichte leben vor allem von symbolen. und symbolisch ist, was man anders nicht beschreiben und verstehen kann. heraklit schrieb über apollon, den orakelgott von delphi: »Der Herr, dem das Orakel in Delphi gehört, erklärt nicht, verbirgt nicht, sondern deutet an.« gleiches tun gedichte, deren symbole oft etwas unbewußtes bezeichnen, das wir durch bilder fassen, wo es sich begrifflichem denken entzieht. die vieldeutigen bildwelten der lyrik korrespondieren mit symbolen in mythen, religionen, utopien, orakeln, initiationen, märchen und sagen sowie der magie und alchemie und des aberglaubens. »Das Wahre läßt sich niemals von uns direkt erkennen, wir schauen es nur im Abglanz, im Beispiel, im Symbol.« erklärte goethe. der russische symbolist wjatscheslaw iwanow meinte: »Das Symbol ist nur dann ein echtes Symbol, wenn es unerschöpflich ist und unendlich in seiner Bedeutung, wenn es in seiner geheimen Sprache der Andeutung und Suggestion etwas Unbeschreibbares, dem äußeren Wort nicht Adäquates aussagt. Es ist vielgesichtig, vieldeutig und immer dunkel in letzter Tiefe.«

in der künstlerischen literatur, und besonders in der lyrik, sind symbole keine feststehenden bedeutungszeichen wie begriffe oder formeln, und auch nicht bloß abbilder und verkörperungen, sondern substanzen, lebende körper, die sich in einem permanenten prozeß befinden, der sie wandelt und worin sie selbst immer wieder neue facetten bilden. dennoch begegnet man bis heute vorstellungen, nach denen literarische symbole, so als ob sie verkehrszeichen wären, allgemeinverbindlich festgelegte bedeutungen hätten. das stimmt jedoch längst nicht mehr, sofern es überhaupt je stimmte. eventuell kann man so ältere gedichte, die noch eher einer kanonisch gesicherten emblematischen sinngebung entsprachen, halbwegs erklären. die meisten modernen aber, die eher konventionen unterwandern, werden verfehlt.

seit etwa 1900, mit wichtigen vorläufern im 19. jahrhundert, vor allem den französischen symbolisten, genannt seien charles baudelaire, paul verlaine, arthur rimbaud und lautréamont, und forciert bei surrealistischen, expressionistischen und anderen dichtern der moderne, vollzogen sich gravierende veränderungen in der literarischen symbolik, die dazu führten, daß symbole immer individueller und subjektiver, mehrdeutiger und ambivalenter verwendet werden. es ist vielleicht kein zufall, daß auch der jazz, der von der improvisation lebt, um 1900 entstand. die wechselseitige anregung der künste gehört überhaupt zu den merkmalen der moderne. autoren, die noch prägende verbindungen zu überindividuellen autoritäten, gott, kirche, staat, vaterland, ideologie, utopie, hatten und suchten, benutzten zwangsläufig eher tradierte denkbilder und formale techniken. besonders der erste weltkrieg hat die dichter europas dann aus der traditionsbindung herausgesprengt. die zentralfigur der modernen europäischen lyrik ist seither das entfremdete individuum, das nicht zuletzt aufgrund seiner entfremdung, die sich auch kultivieren läßt, zunehmend weniger einem kanon der überlieferung folgen kann und will.

wer verdichtend schreiben will, sollte sich von allzu profanen menschenwelten befreien

WEIGONI: Ist das dichterische Wort ein Produkt der Weigerung des Menschen gegenüber den Menschen wie der Herrschaft des Menschen über den Menschen?

BENKEL: bei solch schwierigen fragen lautet die richtige antwort meist: beides. wer verdichtend schreiben will, sollte sich von allzu profanen menschenwelten befreien und eine ahnung vom universellen und überwirklichen entwickeln. ich behaupte, je mehr man selber denkt, umso weniger braucht man die äußerliche heimat, die sowieso meist bloß systemischen und kollektiven zwängen folgt. letztlich werden alle identitäten, die man nicht mehr hinterfragt, zu gefängnissen. so gesehen können zugehörigkeitsgefühle das denken sogar behindern. ich empfand das nationale und, mehr noch, das regionale, in der kultur, das zu selbstbeschränkungen führt, immer als beengung. nun kann man natürlich sagen, man könne im leben ohnehin nur die enge vertiefen. menschen sind eben höhlenbewohner und alle menschenwelten bloß höhlen mit schatten an der wand.

 

 

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Seelenland, Gedichte von Holger Benkel , Edition Das Labor 2015

Weiterführend

Einen Essay zur Reihe Kollegengespräche finden Sie hier.

kindheit und kadaver, Gedichte von Holger Benkel, mit Radierungen von Jens Eigner. Verlag Blaue Äpfel, Magdeburg 1995. Eine Rezension des ersten Gedichtbandes von Holger Benkel finden Sie hier.

meißelbrut, Gedichte von Holger Benkel, mit siebzehn Holzschnitten von Sabine Kunz und einem Nachwort von Volker Drube, Dr. Ziethen Verlag, Oschersleben 2009. Eine Rezension finden Sie hier.

Gedanken, die um Ecken biegen, Aphorismen von Holger Benkel, Edition Das Labor, Mülheim 2013

Essays von Holger Benkel, Edition Das Labor 2014 – Einen Hinweis auf die in der Edition Das Labor erschienen Essays finden Sie hier. Auf KUNO porträtierte Holger Benkel die Brüder Grimm, Ulrich Bergmann, A.J. Weigoni, Uwe Albert, André Schinkel, Birgitt Lieberwirth und Sabine Kunz.