:2= Verweisungszeichen zur Twitteratur

Vorbemerkung der Redaktion: Für das Projekt Kollegengespräche hat A.J. Weigoni einen Austausch zwischen Schriftstellern angeregt. Auf KUNO ist diese Reihe wieder aufgelebt. Nach dem Kollegengespräch über die Sparte Performance hat Sophie Reyer ihrerseits den Ball aufgenommen und zurückgespielt.

Sophie Reyer: „Wir schälen die Zeit aus ihren Kernen“, schrieb Paul Celan. Inwieweit siehst Du Dichtung als Form von etwas Archaischem, der Zeit Enthobenem?

A.J. Weigoni: Das Wort schnitzen ist für meine lyrische Arbeit zentral. Ähnlich wie ein Bildhauer gehe ich an einen Wort/Baumstamm heran, an diesem Material schnitze ich solange herum, bis sich eine Form herausbildet. Ob es gelingt, weiss man nie so genau, manchmal ist das Astloch schöner. Wenn ich die gemeinsame Arbeitsweise an unseren Miniaturen richtig verstanden habe, bedeutet für Dich das Wort stöpseln etwas Ähnliches!?!

Reyer: Da Texte ja immer auch Geflechte aus Zitaten sind, sehe ich mich als Kind, das die Worte wie Legobausteine aneinander fügt, immer wieder unterschiedliche Konstellationen ausprobiert, bis eine Form von Stimmigkeit entsteht. Wie gestaltet sich in Deiner Arbeitsweise das Wechselspiel zwischen Konstruktion und Intuition?

Weigoni: Es beginnt immer mit einem Wort. Einem Wort, das Strahlkraft besitzt und mich buchstäblich im Moment der Entdeckung überzeugt. Fast magnetisch werden aus dem Umfeld weitere Worte angezogen und im freien Spiel der Kräfte auch wieder abgestossen. Die Ausrichtung dieser ‘Sprechspäne’ erfolgt nicht nach physikalischen, sondern nach poetischen Gesetzen. In einem Prozess der VerDichtung fädeln sich diese Worte zu einer Zeile auf. Darum herum gruppieren sich Wortfelder, die sich zu einer Strophe formen lassen. Anregung kommt zumeist aus dem nicht–sprachlichen Bereich. Ich schreibe mit einer Sprachmelodie im Kopf. Nutze Töne zur Inspiration. Unter der Arbeit vergesse ich das Einfache nicht: Sprache ist ein Werkzeug um zu schnitzen. Oder wie machst Du ein Gedicht?

Reyer: In meiner Herangehensweise bewege ich mich immer zwischen Spracharbeit und Intuition. Es ist ein ständiges Oszillieren. Oft passiert es, dass ich einen ersten Wurf aus dem Bauch – bzw. eher dem inneren Ohr- heraus mache und diesen als Steinbruch für eine (Sprach) Komposition nehme, ihn dann in ein strukturelles Gewand einfüge. Oder aber umgekehrt: Ich erlege mir selbst eine Form (zum Beispiel das Anagramm, die Liste, den Zweizeiler et cetera) auf und versuche dann das, was herauskommt, aus dem Korsett seiner Form zu befreien. Die Arbeit bleibt immer eine Gratwanderung. Das Ergebnis ist nie befriedigend. Man befindet sich auf einer Reise. Hélène Cixous hat den Begriff einer écriture feminine entwickelt; sie versteht darunter eine Schreibweise, die eher den klanglichen als den semantischen Qualitäten von Sprache nachspürt. Friederike Mayröcker wiederum wehrt sich gegen diese Form der Zuschreibung, sie sagte in einem Interview in der SZ, für sie gäbe es keine weiblichen Texte. Inwieweit, denkst du, existieren männlich codierte sowie weiblich codierte Ansätze, Sprachmaterial zu gestalten?

Weigoni: Poesie ist eine Sensibilität, eine Haltung, eine Art, über Identität nachzudenken. Man kann sie zu einem extravaganten Stil entwickeln, campy, künstlich und artifiziell. Es kommen mehrere Dinge zusammen: Kunst, Mode und Musik. Poesie kann selbstreflexiv sein, weil sie im Kopf des Schriftstellers entsteht. Bei der hypermodernen Poesie gibt es Spuren von Performance–Kunst und Dandyismus. Es gibt Verbindungen zur Identitätspolitik, die in die Gender– und Identitätsdebatten mündete. Poesie ist immer etwas Konstruiertes, das Erfinden einer Persona, ein gesellschaftliches Re–Tuning für persönliche und soziale Transformationen. Poesie hat kein Geschlecht. Das siehst Du wahrscheinlich anders – oder?

Reyer: Nein, für mich hat Poesie auch kein Geschlecht. Wenn Kunst- wie schon Schiller meinte- eine Tochter der Freiheit ist, dann gilt das auch für die Poesie. Und wenn Poesie eine Tochter der Freiheit ist, dann ist sie frei von Zuschreibungen, Konstrukten, auferlegten Rahmen oder Ideologien. Oder sie muss sich immer wieder erneut frei davon machen. Dir, einem Radiomenschen, muss die Ebene des Klanges doch sehr nahe sein, oder?

Weigoni: Mir bereitet es grosse Freude, wenn das Wort zu Fleisch wird. Da komme ich mit meiner Arbeit vom Hörspiel, einem Neuen Medium, das bereits 80 Jahre alt ist, da steht das Wort häufig im Mittelpunkt. Ich lege die Betonung beim Hörspiel auf das Wort Spiel. Wie bei jedem Spiel gibt es Regeln. Und bei jedem neuen Stück muss man auch die Regeln neu erfinden. Ähnlich, wie wir das bei unserem Projekt Wortspielhalle gemacht haben. Klang ist sicher auch für Dich von grosser Bedeutung, weil Du als Komponistin sowohl an Klänge als auch an Sprache herangehst. Inwieweit ist Offenheit für Dich in der künstlerischen Arbeit wichtig?

Reyer: Sieht man sich die Wortwurzel von Lyrik an, so ist das ja Leier, und insofern hat die Basis der Lyrik immer mit einer Form des Singens und Zirpens zu tun. Entwickelt hat sich das Ganze jedoch aus uralten Tänzen und Riten heraus, zu denen gesungen und gesprochen wurde. Insofern sind evolutionstechnisch die unterschiedlichen Materialitäten auch in ihren Ursprüngen miteinander verknüpft. Diese Verbindungen wieder herzustellen bzw. sie neu zu denken, ist mir wichtig: Inwieweit gibt der Text an sich schon die klangliche und zeitliche Abfolge der Musik vor? Wann arbeitet man für und wann gegen den Text? Und: Kommen nicht auch, wenn man “gegen” den Text arbeitet, ihn quasi in seine lautlichen und phonetischen Einzelstücke zerspargelt – hier wird z.B. aus dem Zirpen eine Repitition der Konsonantenabfolge “zrp” herausgeschält oder aber eine schrille Intonation des I-Lautes hervor gehoben – spannende Ergebnisse heraus? – Existiert so etwas wie Authentizität für Dich?
Weigoni: Mit dem Beruf des Schriftstellers assoziieren viele Menschen sofort die Illusion von Freiheit. Dagegen versuche ich anzuschreiben: Niemand ist als selbstständiges Individuum ausgegrenzt und verloren. Nur ein Schriftsteller, der sich seine Verletzlichkeit bewahrt, kann überzeugen. Wie bewahrst Du Dir Deine Verletzlichkeit in einer Mediengesellschaft, in der junge Autoren quasi gezwungen werden, sich täglich über Fratzenbuch selbst darzustellen?

Reyer: Das ist eine Entscheidung. Man muss wissen, dass man immer Bilder kreiert. Und dass man selbst nicht diese Bilder ist, es aber Spass macht, mit diesen zu spielen. Natürlich ist jeder in einem gewissen Sinne manipulativ, aber die Codes lassen sich auch ironisieren und in Frage stellen. Meiner Meinung nach hat dies mit Bewusstsein zu tun. Da ich mich mit nichts wirklich identifiziere außer vielleicht mit Klang und Wort, fällt mir das auch nicht besonders schwer.

Weigoni: Musik ist eine der unmittelbarsten Begegnungen mit meiner Empfindungswelt. Wenn ich Musik von Mozart oder Monteverdi höre, bin ich mit einer Schwingung konfrontiert, die mit meiner nichts zu tun hat. Aber es erschüttert mich immer wieder, was die alten Meister in meiner Seele bewegen. Musik und Poesie sind die höchsten aller Künste.

Reyer: Meiner Meinung nach ist das ja mit dem ersten Schrei vorbei; man wird in eine Gesellschaft hineingeboren, in eine Klimazone, in ein Familiensystem, man hat sofort einen Stempel. Wie aber lässt sich Eigenes schaffen?

Weigoni: Abseits stehend ist meist ein guter Standpunkt. Abstand von der Massengesellschaft, um den Blick von aussen zu haben. Abstand von sich selbst. Abstand voneinander. Wir führen diese Gespräch nicht von face to face, sondern halten über den elektronischen Brief intensiven Kontakt zueinander und sind zugleich voneinander entfernt.
Reyer: Ist Kunst immer nur ein intelligenter Umgang mit bereits vorhandenem Material?

Weigoni: „Alles ist Text“, sagen die Postmodernisten. Ob wir ein Gedicht, einen Gossenroman oder eine Gebrauchsanleitung lesen, spielt dabei keine Rolle, alles ist bereits vernetzt – oder auch verstöpselt?

Reyer: Ja, so kann man das freilich sehen. Ein Körper kann dann auch Text sein, oder ein Blatt Papier, das im Wind raschelt. Wie gesagt, Kunst ist eine Tochter der Freiheit, das kann man auch für den Text anwenden. Das öffnet einem die Ränder des Bewusstseins für eigenes Arbeiten. Umgekehrt muss man diese Begriffe dann auch wieder in Frage stellen, finde ich. Wie determiniert ist man Deiner Meinung nach als Individuum?

Weigoni: Selbstverständlich gibt es Prägungen, die weit unter die Haut gehen. Als jemand, der in einem proletarischen Haushalt aufgewachsen ist, hatte ich das Glück, mir über das Radio und über Bücher die Welt zu erschliessen. Der wöchentliche Weg in die städtische Bücherei glich für mich dem Weg meines Jugendhelden Don Quichotte durch die Mancha. Die Entscheidung, sich die Selbstanmassung des Poeten zuzuschreiben, ist bereits der erste Aufbruch in die Freiheit des Eigendenkers. Oder wie definierst Du Freiheit?
Reyer: Freiheit ist Bewusstwerdung. Man lernt, seine Muster zu erkennen, ist nicht mehr fremdgesteuert. Determiniert bleibt man wahrscheinlich trotzdem immer, aber genau das macht ja unsere Menschlichkeit auch aus. Inwieweit, denkst Du, ist es notwendig, dass ein Lyriker seine Texte selbst vorliest?

Weigoni: Es sollte so sein. Eigentlich immer. Gerade in der Lyrik wird das Geschriebene durch die Spreche beglaubigt. Früher konnten Lyriker ihre Gedichte auswendig rezitieren, Gedanke, Körper und Stimme, sie waren eins. Mein grosses Glück war, bei dem Schauspieler Dietmar Walbeck meine Sprechstimme ausbilden zu können. Für mich ist Dichtung Lebenszweck, ein Ausdruck persönlicher und geistiger Freiheit als beständige Rebellion. Poesie ist weder das Schöne noch das Gute, doch freilich sollte sie das Wahre sein: die hörbare Passion im Widerstreit der Gefühle, eine Organisation von lyrischen Stimmen mit allen denkbaren Ausdrucksmitteln. Wie siehst Du Dich als Sprechstellerin?

Reyer: Die Basis meiner Dichtung ist Begeisterung, gekoppelt mit einer Sehnsucht, meinen geistigen Raum zu erweitern, von der Welt meiner Materialien zu lernen. Man erhebt die Stimme, man liefert sich einerseits aus, macht sich verletzlich, übernimmt aber gleichzeitig auch die Verantwortung für etwas, über das man die Kontrolle nicht hat, denn man wird immer bis zu einem gewissen Grad – und meiner Meinung nach im idealen Fall – von seinem Material geschrieben. Die ersten Dichter sahen sich ja auch als Gefäße, durch die die Götter zu Wort kommen konnten. Diese Verantwortung bringt für mich mit sich, dass man auch rebelliert, dass man die Ränder einer Gesellschaft bewusst macht. Und in diesem Sinne ist Dichtung für mich auch politisch. Ich wehre mich aber gegen jegliche Form der Instrumentalisierung von Poesie. Ein Gedicht ist wie die schönsten Blumen: völlig sinnlos. Und genau darin liegt seine Kraft. Wie kann man der Trägheit des Literaturbetriebes entgegenwirken und neue Formen von Lesung und Performance in die großen Häuser integrieren?

Weigoni: Es ist für mich eine Zeitreise, als Zaungast einen Literatur-Betrieb zu betrachten, der das 20. Jahrhundet nicht wirklich verlassen will. Unter Germanisten wird die Debatte über das, was im Internet passiert, rückständig geführt. Es gibt eine Ideologisierung von Verfechtern und Gegnern des Internet, daher findet keine kulturkritische Debatte statt. Diese Literaturbürokraten haben eigentlich nur noch das Eigeninteresse, möglichst geräuschlos an ihre Pensionierung zu gelangen, sie verstehen nicht, dass es um den Eintritt in eine neue Zivilisationsstufe geht. Es geht nicht um eine neue Technik oder eine neue Kommunikationsplattform, wir müssen hinterfragen, was von uns als Individuum übrig bleibt. Das sind auch spannende ästhetische Fragen, um die es auch bei den Kulturnotizen geht.

Reyer: Ist es besser, seine Nischen zu finden, und sich da zu bewegen?

Weigoni: Selbst wenn man sich vom Literaturbetrieb fernhält, steht man immer noch mit einem Bein im System, denn jeder ist auf Finanzierung und einen Vertrieb angewiesen. Für mich ist ein unabhängiger Schriftsteller jemand, der uneingeschränkt kreativ nach seinen eigenen Vorstellungen arbeiten kann. Geschichte, Thema und Machart, das sind Entscheidungen, die ein unabhängiger Schriftsteller im 21. Jahrhundert vollkommen allein trifft, ohne dabei von irgendwelchen Saugschmerlen abhängig zu sein. Wie gehst Du das an?

Reyer: Es ist eine Gratwanderung. Da ich auch vom Schreiben lebe, kann es manchmal ein Kampf werden, denn man ist abhängig vom Betrieb. Gleichzeitig ist man aber auch selbst Teil des Betriebs und kann ihn mitverändern und gestalten. Bis jetzt hatte ich Glück und konnte Geld verdienen, ohne mich und meine Inhalte zu verraten. Und ich möchte mir diesen Raum der Unversehrtheit bewahren, ich denke, sonst hat man seine Liebe zur Kunst verraten. Soll, darf, muss Literatur politisch sein?

Weigoni: Immer wenn ich im Leben ins Politisieren gekommen bin, wurde mir bereits in dem Moment klar, als ich das Wort ausgesprochen hatte, dass ich die Schwelle zur Idiotie überschritten hatte. Es gibt daher keinen Grund, einem Leser Komplexität zu ersparen. Als politisch denkender Künstler sehe ich meine Aufgabe nicht darin, Botschaften hinauszuposaunen, sondern in einer Ermächtigung des Zuschauers. In der Haltung, ihn nicht für dumm zu verkaufen, sondern ihm ein eigenes Urteil zuzuschreiben.Wo willst Du hingehören?

Reyer: Zu den Außenseitern, aber die Wahl habe ich auch nie gehabt, insofern hat sich mir nie die Frage gestellt. Das bedeutet: Man ist dann wohl doch determiniert. Aber ich würde diese Position auch bei aller Reflexion nicht ändern wollen. Besonders begeistert bin ich übrigens, was das Politische betrifft, immer wieder von Luigi Nonos Handwerk und Ansatz, dessen Kompositionen für mich implizit politisch arbeiten. Mit der Technik des Serealismus gelang es Nono, jedem Ton – ähnlich einem Individuum einer idealen Demokratie – in Hinblick auf die übrigen eine gleichberechtigte Stellung zu verleihen. Das mag ein wenig nach Kopfgeburt klingen, aber es ist ein Umgang, der das Material ernst nimmt. Sowas ist dann für mich in gewissem Sinne auch politisch. Behandle dein Material, wie du ein Subjekt in einer idealen Gesellschaftsform behandeln wollen würdest. Das ist einerseits utopisch und andererseits eine Luxusangelegenheit, so arbeiten zu können, die vielleicht in der äußeren Welt zunächst nichts verändert. Aber wenn Veränderung im Denken, in der Bewusstwerdung beginnt, dann wär das immerhin schon etwas.

 

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Photo: Peter Ettl

Die Sprechpartitur wurde mit dem lime_lab ausgezeichnet. Einen Artikel zum Konzept von Sophie Reyer und A.J. Weigoni lesen Sie hier. Vertiefend zur Lektüre empfohlen sei auch das Kollegengespräch :2= Verweisungszeichen zur Twitteratur von Reyer und Weigoni zum Projekt Wortspielhalle. Eine höherwertige Konfiguration entdeckt Constanze Schmidt in dieser Collaboration. Holger Benkel lauscht Zikaden und Hähern nach. In ihrem preisgekrönten Essay Referenzuniversum geht Sophie Reyer der Frage nach, wie das Schreiben durch das schreibende Analysieren gebrochen wird. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier. Eine Würdigung des Lebenswerks von Peter Meilchen findet sich hier. Alle LiteraturClips dieses Projekts können hier abgerufen werden. Hören kann man einen Auszug aus der Wortspielhalle in der Reihe MetaPhon.

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