Mutmassungen über Heiner

 

Heiner ist weg. Als er die Kommerzgirlanden der Innenstädte hinter sich lässt, erblickt er einen Himmel, in dessen Schwärze hier und da die Positionslampen eines Flugzeugs, weiter oben die rotierenden Satelliten ihre Leuchtspur einzeichnen. Darüber stehen unverrückt die Sterne. Er hat eine ungefähre Vorstellung, wie weit entfernt sie von ihm sind. Es gelingt Heiner nicht, die ausserordentliche Begabung in ein lebbares Leben zu überführen. Weil gesellschaftlich akzeptierte Formen der Privatisierung des Daseins nicht zu seiner Individuation taugten, bleibt ihm nurmehr die Selbstfiktionalisierung.

»Man muss immer noch die Verträumtheit besitzen, Dinge zu bemerken, die einem zufällig über den Weg laufen. Und dann muss man kristallklar wissen, wo sie hingehören«, versucht Angelina auf ein konstruktives Missverständnis zu reagieren. Sie interessiert die Schizophrenie zwischen seinem Leben nachts und der Normalität am Tag, das emotionale Vakuum, das dabei entsteht. Wie man diese Leere mit Geschichten füllt, wie man verschüttete Phantasien weckt.

»Wir wollten die Dynamik von Beziehungen aufzeigen; tatsächlich erstarren wir in tiefgekühltem Ästhetizismus«, begreift Heiner, dass sich das Private vom Politischen getrennt hat. Die demokratisierte Gesellschaft ist nach den utopischen Jahren so zersplittert, sind die Probleme so komplex, dass sich die hypermodernen Menschen ohnmächtig fühlten. Der Transitraum, der Nichtort des Kommens und Gehens und des schwerelosen Seins von lauter Luftexistenzen, mit einer Destination zwar, aber ohne Bestimmung, ist zu einem künstlerischen Passepartout geworden, und dieses nomadische Lebensgefühl der Ortlosigkeit steht in einem aufschlussreichen Widerspruch zu den beharrlichen Beteuerungen von Heiner, er arbeite für die Menschen vor Ort.

»Die kommerziellen Medien haben das Publikum dahin erzogen, sich selbst und ihre kleinbürgerliche Sicht ohne Scham als Zentrum jeglichen Denken zu begreifen. Schade, dass Leute wir du nie über den ersten Gedanken hinauskommen werden. Du feierst mit grosser Geste die eigene Mittelmässigkeit als historisches Ereignis«, wirft ihm Angelina den Bettel hin. Ihr Auftreten hat etwas Gehetztes, Getriebenes, ihre Bestimmtheit und ihre Aggressivität sind in Zeiten des Aufbruchs und Wandels ihre Trümpfe. Ein Mensch, der bis an die Grenzen der Liebe geht, mag asozial sei, aber nie destruktiv. Zerstörerisch ist nicht Angelina, die auf ihren Gefühlen besteht. Zerstörerisch sind die Arrangements, die Kompromisse. Von ihrer Mutter hat sie gelernt, dass es Liebesheiraten schon im Mittelalter gab, in allen Schichten. Man hat diese emotionale Verbundenheit nur nicht so plakativ gezeigt wie in der literarisierten Gefühlskultur des Sturm und Drang. Der Spagat zwischen Anpassung und Individualität wird für Angelina zur sportlichen Höchstleistung. In ihrem Diskursgewirr ziehen Begriffsdonner auf, eine Einladung ist nicht vorgesehen. Der Sturm im Sektglas ist vorbei. Gelingt es einer Elegie, wirklich elegisch zu sein, dann schwingt in ihr etwas seltsam Unbestimmtes mit: die Freude am Augenblick und das gleichzeitige Wissen um seine Vergänglichkeit. Erst nachdem Angelina ihre Illusionen verloren hat, ist, was zuvor auswendiger Rollentext war, inwendiges Fühlen, als hätte die Erfahrung endlich aufgeschlossen zum Leben, dem sie so lange hinterherhinkte.

Es gibt bei Heiner Zelmer eine abgrundtiefe Angst vor unabhängigen Frauen, weil sie ein subversives Prinzip verkörpern. Er fürchtet um sein bürgerliches Nest. Konvention und Kultur, seine Auffassung des Sozialen ist sehr eingeschränkt. Die Familie ist zur alleinigen Matrix seines sozialen Lebens geworden. Dabei sind die Menschen Individuen mit sehr ausgeprägten Trieben, Instinkten und Liebesbedürfnissen. Wie der Mehrheit fällt es ihm schwer, zu akzeptieren, dass es Menschen gibt, die sich nicht in die Küchleinformen unserer Gesellschaft pressen lassen. Die Mitte einer Gesellschaft bilden die Opportunisten mit austauschbaren Identitäten, die sie wegwerfen, sobald eine andere Scheinidentität grössere Vorteile verspricht. Während die gesellschaftliche Mitte das jeweils herrschende System durch Anpassung stabilisiert, hat sie auch etwas latent Stabiles, Schwankendes und Verführbares. Für sein Scheitern gibt Heiner Weltekel zu Protokoll. Auf Sex verzichte er daher aus rein ästhetischen Erwägungen.

Trümmerhaufen der Ambitionen. Heiner Zelmer stösst sein Unternehmen ab, weil er die Privatisierung der Welt nicht verhindern kann. Die transkontinentale Gesellschaft vernichtet die Demokratie, weil auch der Mensch zur Ware wird. Alles ist auf die Identitätsfindung über Konsum ausgerichtet. Menschen ohne Kaufkraft sind marginalisiert. Globalisierte Menschen sind, was sie kaufen. Alles in ihrem Leben dreht sich darum, Geld zu beschaffen, eine Identität wieder zu erlangen. Geld wird von ihnen diskreter behandelt als Sex.

Einst waren Gotteshäuser die höchsten Gebäude in den Städten, heutigentags sind es Glaspaläste, in denen Banken residieren, mit Vorständen, die oben in den Türmen sitzen auf alle herabschauen. Ihre Eigner sind Business–Krieger, Klone der Effizienzideologie, die treiben und die getrieben werden. Von der schöpferischen Zerstörung, die den Kapitalismus überlebensfähig gemacht hat, ist nurmehr die Zerstörung geblieben. Der Kapitalismus erfindet sich nicht mehr neu, er zersetzt sich von innen heraus. Die Kapitalgeber gehen kein Risiko mehr ein, sondern sie denken bei ihren Engagements schon den Ausstieg mit. Dem Kapital ist es in einer beispiellosen Modernisierungsoffensive gelungen, die Köpfe der Beschäftigten zu kolonisieren. Die schärfsten Widersprüche toben heute in den Lohnabhängigen selbst: Sie sollen Unternehmer und Arbeiter gleichzeitig sein. Sie treten in ihrer Rolle als Schnäppchenjäger gegen sich in ihrer Rolle als Produzenten an, sie trachten als Geldanleger nach den hohen Renditen, die ihre Arbeitsplätze gefährden. Die modernen Arbeitnehmer sind zerrissene Wesen. Ihre Gesichter verraten eine Mischung aus Apathie und gelassener Ratlosigkeit. An den sozialen Schnittstellen sind Wohlstand und Verdrängung, Sicherheitsstreben und Schuld kaum mehr zu unterscheiden.

Abgesang. Gekleidet im Dreiteiler, umweht von graumeliertem Ernst. Als Distinktionsfetischist verkörpert Heiner Zelmer jene zwischen Drohung und Verlockung oszillierende Genervtheit, die den Glamour charakterisiert, der zu einer Macht– und Verkaufsstrategie geworden ist und ein zentrales ästhetisches Paradigma des Raubtier–Kapitalismus wurde. Über Heiner dehnt sich ein kalter Himmel. Selbst die Sterne flackern dunkel. Es gibt für ihn keine ästhetische Nische, weil er die Welt der Ideen ernst nimmt. Sein Erinnern wiederholt nicht das Vergessene, weil es keine Garantie dafür hat, dass die Erinnerung nicht eine implantierte ist. Die Vergangenheit wird begehbar, ein Zurück ist kein Rückschritt. Ankunft ist ein Prozess, der nicht enden wird.

 

 

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Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2010.

Coverphoto: Anja Roth

Weiterfühend → KUNO übernimmt einen Artikel von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Jo Weiß von fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur, Margaretha Schnarhelt kennt den Ausgangspunkt und Constanze Schmidt erkennt literarische Polaroids. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Ein Essay über Unlust am Leben, Angst vor’m Tod. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten lebendig.