Rückblende

 

Die Sperrstunde naht. Kein Pardon. Hier ist man strenger als anderswo. Peter Nitsche, Inhaber der G–Bierbar, stellt noch einen Absacker auf den Tresen. Die verbliebenen Gäste kippen den Korn, stellen die Gläser mit einem Ruck auf der Theke ab, zahlen und torkeln stumm in die Nacht hinaus. Auf der Friedrichstrasse ist es still, zu geräuschlos für eine Grossstadt, zu ruhig für diese windstille Zeit. Der Ex–Boxer beabsichtigt, die Tür abzuschliessen, bevor er den Rest der Gläser wegspülen und den Tresen blankputzen will, da kommt ihm jemand zuvor.

»Hallo, Cowboy!«, begrüsst der Altmeister den Kumpel. Stellt eine Lage auf die Theke. Alles an dem Kneipier ist monströs. Er trägt die gefönteste Fönfrisur, die gepolstertsten Polsterjacketts und steingewaschensten Steinwaschhosen der Bekleidungsgeschichte. Dazu hat er eine Glattlederjacke hochgekrempelt, die in Brusthöhe Fransen besitzt. Der Wirt spült beiläufig die Gläser und wartet ab.

»Kann nich‘ schlafen. Gespenster verfolgen mich. Auch tagsüber träume ich jede Einzelheit«, murmelt Harry Wachsmann, hustet, hält ein Stofftaschentuch vor den Mund und rotzt hinein. Er hat ein Kinn, das so spitz ist wie ein Kinderspaten, dazu den stechenden Blick eines Fanatikers. So einem stellt man sich nicht freiwillig in den Weg. Zuwendung macht ihn ein wenig bestechlich, Gleichgültigkeit gegenüber seinem Urteil irritiert ihn, woraus wortreiche Exkurse folgen. Privates findet sich selten, nur dann, wenn die Verletzlichkeit auf seinen Narzissmus trifft. Er hat seit Tagen kein Auge zugetan. Peter gibt ihm einen Doppelten. Den kippt Harry ruckartig hinter die Binde. Einen weiteren. Das Zittern der Hand lässt nach.

Sie lernten sich kennen, als Harry 1954 einen gestohlenen LKW in den Osten verhökern will. Peter arbeitete auf dem Zentralviehhof an der Leninallee. Der Metzger kennt sich auf dem Berliner Schwarzmarkt aus. Als ehemaliger Boxer verkehrt er in den Trainingsschuppen der Klubs und bekommt schnell mit, wer hinter den Sportvereinen steckt und in welchen Kneipen sich die Bosse treffen. Nitsche hat diplomatisches Geschick, legt sich nie einseitig fest, unter einem Decknamen arbeitet er für die Hauptabteilung II des MfS. Er hat den Auftrag, Männer anzuwerben, die zu allem entschlossen sind, und bei Wachsmann ist er sich sicher, dass er einen Hartverpackten gefunden hat, der keine Furcht kennt. Er bringt ihn nicht zur MfS–Zentrale an die Normannenstrasse, sondern zu einem Gelände der ehemaligen Reichsluftwaffe im Stadtteil Johannisthal. Dort residiert unter der Leitung von Oberst Kiepe ein Spezialtrupp der Stasi. Karl Kiepe ist mit allen Abwassern gewaschen, ein Kommunist aus dem Bilderbuch, der aus dem Befehlsnotstand der Überzeugung handelt. In den frühen Zwanzigern war er zunächst der KPD und dann der Roten Hilfe beigetreten, 1933 in die Sowjetunion emigriert und später als Partisan in Polen verwundet worden. Als er und Wachsmann sich zum ersten Mal begegnen, hinkt Kiepe ein wenig, riecht streng nach Knoblauch und spricht besser russisch als deutsch. Nur eins ist gleich: sie sind alle anders. Die von Kiepe zusammengestellte Spezialtruppe ist ein bunt zusammengewürfelter Haufen aus trinkfesten Kriegsveteranen, verdienten Spanienkämpfern, Maul– und Frauenhelden. Wachsmann fühlt sich sofort wohl. Auch er ist nicht ohne. Nach der Kapitulation sass er in amerikanischer Gefangenschaft; kaum entlassen, wurde er wegen Diebstahls und Schwarzmarktgeschäften gekrallt und kam für drei Jahre in den Knast.

Utopieüberfrachtete Kollektivsymbolik. Dieses Trio bildete eine Untergruppe an der Unsichtbaren Front, die in den folgenden Jahren abtrünnige Mitarbeiter aus dem Westen zurückbringt oder gegnerische Agenten ins Johannisthal holt. Im Osten des Landes sind die Geheimdienstler nicht zimperlich, weil mit dem Neubeginn nach Kriegsende die Vorurteile zwischen Kommunismus und Kapitalismus wiederkehren. Agenten und Aufwiegler auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs schmiedeten auch nach der Tauwetterzeit immer neue Pläne, um das feindliche System zu schwächen und sich den entscheidenden Vorteil zu verschaffen. Heerscharen von Spionen wurden in Marsch gesetzt, Sabotagetrupps auf den Weg geschickt, smarte Typen auf Sekretärinnen angesetzt.

Karl Kiepe, Peter Nitsche und Harry Wachsmann sind Meister der Tarnung. Was immer das Trio an Einsätzen hinter sich hat, stets kehren sie nach der formativen Phase an ihre normalen Arbeitsplätze zurück, als wäre nichts gewesen. Im fünften Stock der Kant–Garagen, Europas erstem Parkhaus, repariert Harry Wachsmann mit einem Dutzend Mitarbeitern italienische Autos, sie frisieren Motoren und bauen Rennwagen für die Touren–Serie. Nach aussen gibt sich Wachsmann als normaler Bürger, hinter der Fassade der Autowerkstatt bereitet er mit seinen Kumpanen die Einsätze mit Feindberührung vor.

»Ein Wernesgrüner zum Nachspülen wäre nicht schlecht«, äussert sich der Kfz–Meister nach einiger Zeit. Manchmal ist er prätentiös, meistens ist der ehemalige Garagist langweilig, oft ist er unerträglich eitel, aber meist ist es schlicht grossartig. Der erfahrene Büffetier hat das bereits kommen sehen und arbeitet seit sieben Minuten wie ein Uhrmacher an einem Spitzenpilsener, fehlt lediglich die Schaumkrone, die er kurz nach dem geäusserten Wunsch behutsam auftupft. Er stellt das kleine Meisterwerk auf dem Tresen ab. Harry zieht kennerhaft die Braunen hoch und lässt das Bier in einer Welle über den Gaumen schwappen.

»Weisst du noch, die Aktion damals in Würzburg?«

»Denke immer daran, wenn ich mir den alten Defa–Streifen For eyes only ansehe, solltest du auch mal tun.«

»Wozu, ich hab kein Geld für die Drehbuchvorlage bekommen.«

»Dafür bekommst du von mir noch’n Pils«, gibt sich der Wirt spendabel und stellt ein weiteres Glas auf dem Tresen ab. Sein alter Kumpel nimmt dankend an, nimmt einen tiefen Zug und erinnert sich:

»Es war ein strahlender Sonnenmorgen, ich erinnere mich noch heute an diesen Tag im Mai, Pfingst­sonntag ’56. Wir mit dem 190 SL, übrigens mein Traumauto, von Westen kommend an den Schlagbaum heran. Das Heck meines Wagens schaukelt gefährlich knapp über dem Asphalt, der Mercedes ist schwer beladen. Am westdeutschen Kontrollhäuschen lenke ich das Auto auf den Mittelstrei­fen, steige aus und begrüsse die Grenzbe­amten per Handschlag.«

»Na, Chef, Sie haben aber heute ganz schön geladen«, räuspert sich der Wirt und spricht ihn in der Rolle des Zöllners auf die schwere Wagenlast an. Sie erhöhen die Fallhöhe für ihre Verschrobenheit, sind in der eigenen Nostalgie vereinsamt, spielen das kleine Dramolett öfter; inzwischen ist es reif für eine Hörspielfassung.

»Das sind neue Motorteile aus Italien, die brauche ich fürs nächste Rennen.«

»Dann muss man Ihnen ja wieder Glück für den Nürburgring wünschen. Danke für die… hmmm Handelsgolddiesmal. Gute Fahrt dann.«

»Motorenteile!«, gluckst Peter. Harry schwelgt weiter:

»Ein Panzerschrank aus dem US–Militärspionagedienst samt Agentenkartei; wenn ich mich daran erinnere, wie wir zuerst eine Baubude in Butzbach geknackt haben, um mit den Werkzeugen daraus den Tresor zu knacken. Zwei Seesäcke, zahllose Pappkärtchen, die Agentenkartei des amerikanischen Militär–Spionagedienstes MID. Kann mich gut daran erinnern, wie Otto Grotewohl der Öffentlichkeit stolz den angeblichen Hauptakteur vorstellte. Ein ehemaliger MID–Mitarbeiter sei zur DDR übergewechselt, als Zeichen seines guten Willens habe er einen Tresor voller Akten mitgebracht.«

Das nächste schaumgekrönte Wernesgrüner wechselt den Besitzer. Diesmal stellt der Wirt ein Schälchen Erdnüsse dazu. Wachsmann sinniert darüber, wie er den Mercedes mit schusssicheren Reifen, vom Fahrer verriegelbaren Innentüren und einem schalldichten, gut verschliessbaren Kofferraum umgerüstet hatte. Im Sommer ’58 gelang ihm ein weiterer Coup: im Alleingang hatte er einen von russischen Emigranten betriebenen Propagandasender in die Luft gesprengt.

»Lieber 100 Prozent zuviel Sprengstoff als zuwenig«, murmelt er ein altes Motto vor sich hin. Wie zur Bekräftigung seiner hedonistischen Sentenz holt der wendige Pykniker das gerippte Lederetui aus dem Jackett, und schon glimmt heimelig die Zigarre von Fidel Castros Gestaden.

»Wie sagte der Minister: „Die Macht der Arbeiterklasse ist so gross und reicht so weit, dass jeder Verräter zurückgeholt wird, oder ihn in seinem vermeintlich sicheren Versteck die gerechte Strafe ereilt.“ – und det ham wir ooch jemacht«, bestätigt der Wirt, wobei er sich darüber klar ist, dass es kein geschlossenes Auftreten des Proletariates mehr gibt. Früher war die Klasse der Werktätigen voller Wärme und Solidarität. Die Werktätigen hatten Selbstachtung und waren stolz auf das, was sie taten. Inzwischen möchte jeder, der zur Unterschicht gehört, jemand anderes sein, als er eigentlich ist.

Wachsmann erinnert sich an eine frühe Niederlage, wie der Mechaniker seine erste Werkstatt in die Pleite geführt und 1961 rübergemacht hat. In Biesdorf hat er eine Fabrikhalle hochgezogen, in der er Boote aus Polyester baut. Der Laden brummt. Mielkes Stellvertreter hat sein Herz für die Seefahrt entdeckt, er lässt sich ein Kajütenboot bauen. Nach und nach werden alle Freunde mit solchen Booten bedacht, der Mielke–Vize benutzt die schneidigen Polyesterschalen zum Ausbau seiner Günstlingswirtschaft. Das stösst einigen Bürokraten böse auf.

»Peter, jetzt machen sie mich fertig!«

»Red‘ keinen Quatsch, Erich Mielke hat gesagt, du marschierst unter den Ersten. Und ausserdem bist du mit der Verdienstmedaille der Nationalen Volksarmee in Gold ausgezeichnet worden!«, tröstet der alte Kämpe seinen Kumpel.

»Vielleicht liegt es auch nicht am Glück, sondern am Talent, dem wenn nicht das Glück, so das Unglück hilft, wie es im russischen Sprichwort heisst. Nie weiss man Gewisses, man hört viel auf den Fluren, Konrad Kiepe, unser alter Gönner, soll entmachtet werden.«

»Dann übernehmen die Technokraten jetzt die Macht?«

»Mich hat immer gestört, dass man bei uns in Mammutsitzungen philosophiert und Dogmatik betreibt, anstatt die Ärmel hochzukrempeln, um die neue, bessere Gesellschaft aufzubauen«, bestätigt er mit der ungeheuren Ernsthaftigkeit eines wahren Humoristen. Kickt seinen Kumpel mit dem Ellbogen an und glaubt daran, dass sich in der Not allein der Adel grosser Seelen bewährt.

Nachdem er nicht mehr zu Einsätzen ins Operationsgebiet geschickt wird, steckt der hyperaktive Harry Wachsmann alle Energien in die Entwicklung neuer Produkte. Der Collectoholic pusht sich jeden Tag mit 20 Tassen Kaffee und 70 Zigaretten auf. In seiner chaotischen Werkstatt stapeln sich die Baupläne und Konstruktionszeichnungen, Gipsformen liegen herum. Der Mechaniker baut Duschwannen aus Polyester, entwickelt einen beheizbaren Auto–Rückspiegel und vieles mehr. Für die beamteten Bolschewisten ist der Erfinder etwas Unheimliches, dieser Mann setzt Normen, anstatt sich in sie zu fügen. Er winkt mit dem leeren Glas, der Wirt hat das nächste Pils in Arbeit.

»Grenzgänger können gelegentlich eine stärkere Kraft entwickeln als Insider. Jedoch nicht kontinuierlich. Alle Versuche, seine Persönlichkeit in unserer Gesellschaftsordnung zu verankern, haben nicht zu dem erwünschten Erfolg geführt«, resümiert der Vorgesetzte von Oberst Kiepe, die geniesserische Sucht gehasst zu werden, nachdem sie das Dramolett bis hierher über eine gut versteckte Wanze mitgehört haben. Graue Gestalten aus einem Spukschloss der Vergangenheit nehmen Aufstellung. Die Welt ist auf die Grösse ihrer nagetierhaften Pupillen zusammengeschrumpft. Die Lachfältchen sind abgelegt.

Kiepe gibt den Frauenhasser, den Verklemmten und brilliert als Unsympath. Sie halten ihn auf den schallschluckenden Teppichböden am Werderschen Markt, im Hochsicherheitstrakt der Macht, für einen, der aussieht wie ein Streber aus einer Mathematik–Abschlussklasse, ein lebender Taschenkalkulator, der sich ins Geschäft verirrt hat, aber dummerweise nicht rechnen kann. Lack der Selbstverklärung aus narzisstischem Grössenwahn und moralisierender Selbstanmassung. Im düster marmorierten ZK–Gebäude sitzen Lebende, die vom Geist eines Toten beseelt sind. Das Revoluzzerfeuer ist ausgeglüht. Überall: Kalte klassenkämpferische Asche von einst. Vergangenheit, die nicht vergehen will.

»Es braucht Despoten und nicht Demokraten, wenn fremdes Terrain erobert werden muss…«, verkündet Konrad Kiepe, er hält es für eine Tugend, seinen Standpunkt deutlich zu sagen, „…und es braucht Republikaner, wenn das Land zivilisiert werden soll“, denkt sich den zweiten Teil und macht sich gegen seine persönliche Verbundenheit umgehend auf den Weg. Dem alten Kämpen ist klar, dass sein bester Mann zu viel weiss und zuviel darüber redet; seit einiger Zeit auch gegenüber dem KGB. Dass Begriffe wie Elite, Anstand, Pflichten von den Nazis missbraucht wurden, kann nicht heissen, sie auf Dauer aus unserem Denkschatz zu verbannen. Harry Wachsmann ist nicht zynisch, sondern die Geschichte, die er in seinen Geschichten erzählt. Was, wenn Wachsmann nun auch ge­genüber dem Klassenfeind plaudert?

Konrad Kiepe läuft mit einer beträchtlichen Bugwelle ein. Schiesst das Schloss der G–Bierbar kaputt. Tritt vor die Klinke. Die Tür fliegt auf. Er reisst die Schnellfeuer–Waffe hoch und mäht den Gast durch gezielte Feuerstösse um. Dann sackt er selber zusammen, Wachsmann hat ihn im Fallen mit einem gezielten Schuss zwischen die Augen getroffen. Er hat keine Worte mehr, nur Emotionen, die bedrängen, ein Rudern und Wedeln und verkrampftes Zucken der Arme, der Hände, die gerade noch gebremste Gebärde von Aufbegehren, abgrundtiefer Verzweiflung, diese letzten stummen Minuten vor der Explosion von Gewalt. Mit dem Eintreffen der Totenstarre bleibt der Abzug durchgezogen. In Konrad Kiepes Totenmaske sprechen nur noch die Gesichtszüge, sie sagen der Stasi wenig.

 

 

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Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2010.

Coverphoto: Anja Roth

Weiterfühend → KUNO übernimmt einen Artikel von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Jo Weiß von fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur, Margaretha Schnarhelt kennt den Ausgangspunkt und Constanze Schmidt erkennt literarische Polaroids. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Ein Essay über Unlust am Leben, Angst vor’m Tod. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten lebendig.

Redaktionelle Anmerkung: Dieses Thema sollte Weigoni in seinem ersten Roman Abgeschlossenes Sammelgebiet vertriefen.