Das Dom–Jubiläum

 

Seine Stimme ist überzeugend, tief und erfahren, so dass die Jahre von ihm abfallen, wie Firnis von einem alten Bild abblättert. Er hat die chamäleonhafte Begabung, sich immer wieder neu zu erfinden und sich dabei doch treu zu bleiben. Seine Inventionen dokumentieren die Hilflosigkeit der Religion innerhalb der allgegenwärtigen visual culture. Sie tragen drei hervorstechende Merkmale: Moralität, Authentizität und die Sehnsucht nach Originalität. Glaubwürdig ist er in seiner Geste, sich nicht von politisch korrekten Massstäben verbiegen lassen zu wollen, wie verwerflich man sie auch finden mag. Originell ist Priester Ludgerius, weil er Schlagzeilen produziert. Auch wenn das noch keinen Wert an sich darstellt: Dies sind Eigenschaften, die, wenn es um weniger brisanten Stoff geht, von Zeitgenossen geradezu erwartet werden. Letztendlich ist jeder Mensch, was er zu sein vorgibt, darum muss man sich gut überlegen, wer oder was man zu sein vortäuscht. Der religiöse Testfall ist und bleibt der Tod.

»Wir brauchen keine Wallfahrten zum Fetisch Ware. Die Erhabenheit liegt nicht in der Natur, sondern in dem Vermögen, das in uns gelegt ist,« bricht es aus ihm heraus, nachdem sie den Themenblock Sündenerlass besprochen haben. Sein Gesicht ist puterrot und mit einem dünnen, glänzenden Schweissfilm überzogen. Sein Mund funktioniert wie ein Druckluft–Gerät, mit dem Handwerker Nägel in die Wände schiessen. Er spuckt die harten Konsonanten aus. Immer wieder presst er Worte hervor, als wolle er sie beschleunigen, damit sie ihre Durchschlagkraft nicht verlieren, wenn sie bei den Zuhörern ankommen. Seine Stimme verliert dabei ein bisschen Substanz, wie ein Reifen, der beim Bremstest etwas Gummi auf der Strecke lässt.

»Alle grosse Kunst handelt von Verlust und Tod, von der Vergänglichkeit der Liebe und des Lebens«, stellt Steffen Zelmer fest, der auf dem Weg zur Rehabilitierung schon ein gutes Stück vorangekommen ist. Die potentielle Parodie wird bei ihm zum realen Charakter, er hofft, dass die Heiterkeit des Losers allmählich dem Ernst der sozialen Aufgabe weichen wird. Im Knast lernt er, ungezwungen zu wirken und dabei undurchdringlich zu bleiben. Bald schwebt er als Freigänger mit der Aura der Erfolgsmenschen federleicht über dem Boden. Weiss, wie man den Zweifel ausknipst. Verkörpert Kernkompetenz: die Überlebenskunst. Die Live–Übertragung zum 500–jährigen Dom–Jubiläum gerät zum öffentlichen Exorzismus.

»Der Abschied vom Prinzipiellen verkennt den Unterschied zwischen antikem Mythos und biblischer Religion, zwischen Bewusstseinsformen vor und nach Christus. Nicht nur die linken Kinder der Aufklärung, auch die konservativen Nachfahren von Goethes Bildungsreligion sind zunehmend blind für die elementare Unterscheidung von Polytheismus und Monotheismus. Egal, ob es sich um kannibalistisches Gelage oder Abendmahl, Heidentum oder Christentum handelt, dem popmodernen Bewusstsein gilt alles als rein mythisch«, beklagt der Kirchenmann die so genannte Vielfalt auf unterem Niveau, die seiner demütigen Ansicht nach zum fast flächendeckenden Gleichklang geworden sind. Sein Anzug betont eine gewisse Zierlichkeit in der Erscheinung, die in jedem seiner Schritte nachfedert. Seine Figur ist ungeheuer elangeladen, jeder Knochen elektrifiziert, bis zum kleinen Zeh. Cool, swell und swing.

»An die Stelle des Wissens über eine lineare Kette von Aktivitäten im Laufe der Zeit tritt ein anderes: die Kenntnis von gleichzeitigen Aktivitäten, verteilt über den kulturellen Raum und die Nischen der Märkte«, versucht der Interviewer für die Hörer nachvollziehbar eine Reaktion auf die Krise, seine Beziehung zur Realität, und eben dieser Realität herzustellen, indem er dem Priester mit dem Mikrofon ganz nah auf die Pelle rückt.

»Niemand entgeht diesem System, selbst die Opposition ist immanent und inszeniert. Die Angst, sich selbst nur als Effekt einer Machtstruktur zu erleben, ist so gross wie der Widerstand, durch die Naturgesetze erklärbar zu sein. Die meisten Menschen leiden am Misstrauen in die eigene Motivation; sie glauben sich selbst nicht mehr. Dieses Hadern mit der eigenen Haltung, dieses Vermissen von ethischen Massstäben, diese Bewaffnung mit Zynismus, diese dauernden Schuldgefühle. Doch die Selbstanklage hat nichts vom Exhibitionismus der Mediengesellschaft, nichts von der spekulativ inszenierten Peinlichkeit der aufgerissenen Privatheit«, geisselt der Priester die Haltung ästhetizistischer Apathie als Zeiterfahrung des permanenten Momentanismus und will vermitteln, dass die Medien nicht darüber entscheiden, was als wirkliche Realität gilt.

»Während die Lüge einzigartig bleibt, wird die Wahrheit vielfältiger«, hilft ihm Steffen mit diskreter Intensität, sich im Rausch der Rede federleicht über die Verhältnisse zu erheben, sich selbst als Symptom einer nur in Images existierenden Welt lieben zu lernen und ist dankbar für einen knackigen Soundbite, der sich im Nachrichtenblock auswerten lässt.

»Die Werbewelt ist ganz fantastisch funktionierende Propaganda. Sie schafft das, was die armselige kommunistische Kulturwelt nie erreicht, aber immer versucht hat: Propaganda und Werbung für ihr eigenes System so zu machen, dass die Leute glücklich und ganz überzeugt davon durch die Gegend laufen. Einkaufen hat nichts Freiwilliges, die Konsumenten müssen sich bestimmte Dinge anschaffen, damit sie weiter in der Gesellschaft drin sind.«

»Aus heutiger Sicht ist die Idee der Emanzipation praktisch ohne Chance«, wirft der Interviewer kurz dazwischen, kann die Suada damit aber nicht stoppen.

»Der Produktwerbung bleiben es überlassen, die Sehnsüchte der Menschen zu visualisieren. In den Abstellkammern des Kapitalismus warten Menschen und Material auf ihren Neueinsatz, parken Ideen und Potenziale in der Warteschleife, versuchen, die Betriebstemperatur zu halten und suchen nach einem einzigartigen Verkaufs–Argument. Erfolg gibt es nurmehr durch Selbstaufgabe«, prognostiziert der Priester mit dem gelichteten Haar und dem sanften Bäuchlein der 50–Jährigen. Der Mann hat die Gabe, sich selbst zu inhalieren. Magisch ist seine Textgenauigkeit: Das Rolltempo eines inneren Teleprompters bestimmt seine Antworten. Er erkennt zentrale Aspekte urbanistischer Anthropologie: Einkaufen und Shopping Mall, Individualisierung und soziale Gruppenbildung, Freizeitgestaltung im Kollektiv, Mobilität und Bauten für den Verkehr sowie die Idee von der Gartenstadt und die Sehnsucht nach dem Leben im Grünen. Materielle Werte stehen für ihn weiterhin zurück, der Priester bevorzugt das Abenteuer, das geistig–intellektuelle ebenso wie das körperlich–sinnliche, gegenüber allen Sicherheitsversprechungen einer bürgerlichen Existenz. Die Religion lässt Ludgerius das Mass der Menschen erkennen und die Grösse Gottes in jedem.

»Es gibt keine Identität ohne Geschichte, und es gibt keine Geschichte ohne Identität«, wirft der Interviewer eine kurze Sentenz mit Blick auf das Sendeschema ein. Hinreissend ist bei diesem Priester die Kontrolliertheit im Exzess. In der gezielten Beschränkung der Mittel entfaltet sich der zerrissene Kosmos einer Seele. Das Leben hat ihre Körper eingeschnürt wie ein Korsett, und so stehen sie mit eingeknickten Schultern und Knien da, als versuchen sie, sich mit ihren überaktiven Armen freizurudern. Mal leuchten die Augen vor hellsichtiger Verzweiflung, mal bricht die Stimme in melancholischer Selbstbegeisterung. Ein Monument verhärmten Pathos‘. Die Medientheorie bringt die letzte narzisstische Kränkung des modernen Menschen auf den Punkt: dass Denken und kulturelle Ausdrucksform in einem radikalen Abhängigkeitsverhältnis stehen. So wie die Sprache unser Denken bedingt, prägen die Medien unsere Kommunikation und modellieren unsere Welt.

»Wenn man niemand ist, kann man nur jemand werden, wenn man jemand anderes wird. Identität ist für die Hypermodernen eine nutzlose Kategorie. Eine klare Definition von sich selbst zu haben, ist eine Vorstellung, die ihn erschreckt. Damit wäre er bereits am Ziel, hätte abgeschlossen mit sich und der Welt. Die eigene Identität ist für ihn immer Teil dessen, was er gerade durchmacht und durchdenkt. Und da er sich ständig weiterentwickelt, kann er seine Identität nicht aufrecht erhalten und deshalb auch nicht definieren. Seine Idee von Identität ist die Abwesenheit von Identität…«, antwortet Ludgerius nicht mehr gesellschaftskritisch, sondern gesellschaftsverzweifelt. Seine Gedanken sind so schwarz wie die Soutane, die er trägt, und statt einer freundlichen Geste würde man eher erwarten, dass er im nächsten Moment eine halbautomatische Handwaffe zieht und aller Höflichkeit ein Ende bereitet. Diese Verzweiflung schlägt, weil sie ihre Kraft der verstörten Kopflosigkeit des unmittelbaren Eindrucks verdankt, allerdings sofort wieder in grimmige Schockscherze um, »… Ihre Generation hat versucht, Rituale und Traditionen zu sprengen und alles aufzugeben, was sie eingeengt hat. Jetzt stellen die Hypermodernen fest, dass es in vielen Bereichen schwierig ist, ohne Formen zurechtzukommen. Wir haben die Rituale der Trauer völlig vergessen und wissen gar nicht mehr, wie Trauern funktioniert. Natürlich gibt es in jeder Kultur weise Vorstellungen, wie man mit dem Tod umgehen sollte. Das haben wir verdrängt und vergessen. Jetzt müssen wir neue Formen erfinden.«

»Und damit gebe ich zurück in das angeschlossenen Funkhaus«, verabschiedet sich Steffen von den Hörern, um ein Praktikum im Printbereich zu machen. Ins alltägliche Leben zurückzufinden, ist niemals sein Ziel gewesen, denn das wahre Leben liegt naturgemäss woanders. Die Einsicht, dass Menschen, bei allem, was sie tun, letztlich vor einer ihnen überlegenen Gewalt kapitulieren müssen, einer unermesslichen Gewalt, der sie prinzipiell unterlegen sind, und die in nichts anderem besteht als dem Leben selbst, ist Steffen Zelmers quintessenzielle Botschaft. Er ist nurmehr mit dem eigenen Leben bewaffnet. Belastet sich nicht mehr mit Authentizität, sondern verkörpert eine Figur. Am Ende bleibt nichts als Erinnerung. Diese schneidet sich ins Fleisch. Ihm wird klar, dass ein Mann seine Würde nur einmal verkaufen kann, und zur Wiederherstellung der Ehre die Existenz auf’s Spiel setzen muss. In seinem Kopfhörer geht es weiter mit einer Art von Musik, die den direktesten Zugang zum Körper hat.

 

 

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Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2010.

Coverphoto: Anja Roth

Weiterfühend → KUNO übernimmt einen Artikel von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Jo Weiß von fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur, Margaretha Schnarhelt kennt den Ausgangspunkt und Constanze Schmidt erkennt literarische Polaroids. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Ein Essay über Unlust am Leben, Angst vor’m Tod. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten lebendig.