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Klopfpoch auf Holz. Nach angemessener Weckzeit tritt er ein. Ein Meister im Unterspielen, der einer verschlafenen Bulldogge ähnelt, ist damit beschäftigt, Grafitstifte zu spitzen. Das Zimmer, so kommt es Max vor, hat etwas von der sterilen Sauberkeit an sich, die man sonst nur in Krankenhäusern findet. Hier riecht es auch so schuppig. Der Phänotyp hat sich eingeigelt, abgekapselt und klammert sich, wie den gerahmten Politikerporträts an der Wand zu entnehmen ist, an jene Anführer, die Kontinuität und Einklang mit der Tradition versprechen. In diesem Zimmer wurde scheinbar alles gerade erst zurechtgerückt, nicht nur die Aktenordner sind sauber in das Regal gestellt worden.

„In Reih und Glied, stillgestanden!“ Ein Butterbrot, das angebissen auf öligem, dafür sauber gefaltetem Papier liegt und ein dampfender Kaffee neben einer verschlossenen Thermoskanne vervollständigen die Beamtengemütlichkeit.

Max setzt zu einem Gruss an, das Läuten des Diensttelefons durchkreuzt sein Vorhaben. Die Bulldogge hat ihn und das Telefon fast gleichzeitig bemerkt, sie kläfft ein geschäftiges „Bitte setzen Sie sich doch“.

Der Staatsdiener nimmt den Hörer in die Hand. Seine Sprache ist ein Ausdruck höchster Ökonomie. Er versucht alles kurz und möglichst mit einem Satz zu sagen. Nichts wird erledigt, Sachverhalte werden der Erledigung zugeführt. Gleichfalls wird nichts geprüft, sondern der Prüfung unterzogen. In seinem Büro herrscht das Passiv, das handelnde Subjekt ist zum Verschwinden gebracht worden. Das Gespräch dauert daher nicht lange. Mit dem Zeigefinger drückt er die Gabel des Telefons herunter, als sei es eine Lünette.

Spot aufs Naheliegende. Mit einem „Ach Sie sind ja auch noch da“–Blick nimmt die Bulldogge die Formulare von Max entgegen. Nach dem Verlust der Papiere sieht sich Max gezwungen, seine Existenz beweisen zu müssen. Einzig verblieben ist ihm seine Geburtsurkunde. Mit Hilfe von Abschriften und Beglaubigungen lässt sich ein Fantom–Bild erstellen. Der Beamte prüft den Sachverhalt. Der Phänotyp ist im tiefsten Grund seines Innern ein Outcast, der die soziale Ordnung von aussen her auf defekte Stellen untersucht, denn er misstraut allen Gross–Systemen. Und er misstraut der Ordnung so sehr wie jenen, die sie stören. Alles hat seine Schublade, alles seinen Stempel, den die Bulldogge mit der millimetergenauen Präzision eines Fallschirmspringers auf das Papier setzt. Abschliessend stellt er fest, dass Max die richtige Hautfarbe hat. Vergewissert sich, dass der Antragsteller über hinreichende Sprachkenntnisse verfügt, um ihn gegebenenfalls wieder in die Zivilgesellschaft entlassen zu können. Mit der Übergabe eines Stapels Formulare – zum Verbleib – ist der Fall für ihn erledigt.

»Dieses Ausweispapier ist vorläufig. Der neue ID wird ihnen per Postdienst zugestellt werden«, rezitiert der Angestellte des öffentlichen Dienstes aus einem imaginären Handbuch und sieht seinem Gegenüber direkt in die Augen. Seine Pupillen sind durch graue Mutlosigkeit und fade Verzweiflung paralysiert, die lebende Anti–These zur allumfassenden speckgenährten Zufriedenheit des Spätkapitalismus, das Produkt einer gänzlich gescheiterten Industrierebellion.

»Bedanke mich«, verabschiedet sich Max. Schliesst die Tür. Der Flur riecht nach Bohnerwachs. Auf der Wartebank sitzen keine Asylanten.

 

 

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Vignetten, Novelle von A.J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2009.

Covermotiv, Schreibstab von Peter Meilchen

Weiterführend

Constanze Schmidt zur Novelle und zum Label. Ein Nachwort von Enrik Lauer. KUNO übernimmt einen Artikel der Lyrikwelt und aus dem Poetenladen. Betty Davis konstatiert Ein fein gesponnenes Psychogramm. Über die Reanimierung der Gattung Novelle und die Weiterentwicklung zum Buch / Katalog-Projekt 630 finden Sie hier einen Essay. Einen weiteren Essay zur Ausstellung 50 Jahre Krumscheid / Meilchen lesen Sie hier. Mit einer Laudatio wurde der Hungertuch-Preisträger Tom Täger und seine Arbeit im Tonstudio an der Ruhr gewürdigt. Eine Würdigung des Lebenswerks von Peter Meilchen findet sich hier.