Durchkomponierte Wortsymphonien

Für den VerDichter A.J. Weigoni wird Lyrik zur zweckgebundenen Gattung literarischen Sprechens und damit zugleich auch zu dem Genre, das dem dichterischen Selbstausdruck allein aufgrund des extrem hohen Formwillens am entschiedensten entgegensteht oder auch widersteht.

A.J. Weigoni erfindet Sprachteile und setzt sie so zusammen setzt, dass daraus ein Kompositum entsteht. Falls der Komponist Robert Schumann recht hat und Musik die höhere Potenz der Poesie ist, dann sind die Parlandos Musik. Dieser VerDichter setzte der Vergänglichkeit der Sprache den Gesang entgegen. Jedes Gedicht hat neben seiner Metrik auch seine Melodie, eine Art rhythmisierter und melodischer Gesang. Es versammeln sich in diesem bewußt heterogen zusammengestellten Gedichtband philosophische Maximen, Gedankensplitter, mystische Reflexionen und rhapsodische Eindrücke. So vielgestaltig die Anlässe, die den VerDichter zum Schreiben anregten, so vielschichtig gestalten sich diese Arbeiten, die für das Westfälische Landestheater, das Mecklenburgische Künstlerhaus Schloss Plüschow, die Kunstsammlung NRW und den Klangturm St. Pölten binnen 25 Jahren entstanden sind. Der Band Parlandos bietet einen konzisen Überblick über Weigonis dichterisches Schaffen.

Es gehört zu den Auffälligkeiten dieser Langgedichte und Zyklen, daß Weigoni die Sprachräume, die er ausschreitet, bevor er sie manchmal in geradezu schwindelerregende Höhen treibt. Nach dem Sturz ins Abgründige werden akribisch Bodenproben genommen, werden Bedeutungsablagerungen untersucht, wird genau analysiert, was da als Bodensatz vorhanden ist. In dieser Lyrik verdichten sich Zeit- und Raumdimensionen; Realität und Traum verschränken sich, die Laut- und Klangbilder werden an ihre Ursprünge zurückgeführt, bis ein archaischer Rhythmus zu vernehmen ist. Seine Fähigkeit besteht darin, allein aus Haltungen und Gesten zu erkennen, was den Menschen widerfahren ist. Er baut seinen Stoff aus Beobachtungen. Als Flaneur lockt Weigoni den Hörer in Fallen und Verstecke quer durch die Weltliteratur, durch die er sich, bildungssatt und erkenntnishungrig, als Cicerone bewegt, um auf immer wieder überraschende Weise Arglist und Täuschung zum Arsenal der Kunst auszurufen.

In hochkonzentrierter Form macht das Monodram Señora Nada etwas, was nur die Literatur kann, aber auch sie nur sehr selten: Es macht Dinge vorstellbar, die man sich nicht vorstellen kann, weil es nicht auszuhalten wäre, wenn man es täte. Mit den ersten Zeilen wird dieser Ton angeschlagen, wie in der Eröffnung einer Cellosonate, drängender Abstieg in gefaßte Melancholie. Vorsichtig, zurückhaltend setzen sie ein, die Langgedichte, aber sie alle variieren ein einziges überwältigendes Thema – was der Mensch ist in seiner Ungeschütztheit, wie er sich darin bewähren kann, vor allem vor sich selbst. Bei Señora Nada provoziert Weigoni mit einem stream–of–consciousness durch Inhalte, und nicht durch Dolby–Surround. Darin wird er von Tom Täger begleitet mit einer Musik der befreiten Melodien. Seine Komposition ist durchsetzt mit minimalistischen und improvisatorischen Erfahrungen, das Klangbild wird von experimentellen Klängen zu Trivialklängen in Bezug gesetzt. Es entsteht in der Zusammenarbeit mit der Regisseurin Ioona Rauschan und der Darstellerin Marina Rother ein Weltuntergangsdrama in Form einer fein ausziselierten, virtuos durchkomponierten Wortsymphonie.

Als Rezitator testet Weigoni die Sprache, nutzt ihren bildlichen Reichtum, lotet Grenzen aus. Man freut sich über eine entschlackte Sprache, die sich aus dem Morsealphabet der Lyrik zunehmend verdichtet herausgebildet hat. Der Gedichtband Letternmusik ist gleichfalls ein sorgfältig komponierter Band, in dem die Gedichte auf vielfältige Weise zueinander in Beziehung stehen. Weigoni hat auch diese Gedichte nicht einfach hervorgeholt und reproduziert, sondern sie in einer Rekonstruktion für seiner Trilogie Letternmusik – ein lyrisches Polydram in fünf Akten, Dichterloh  – ein Kompositum in vier Akten und Schmauchspuren  – eine Todeslitanei, neu erarbeitet. Der Zeitpunkt der Entstehung kann nicht einfach nachgemacht werden, es müssen Beweggründe des Schreibens analysiert werden; sie gehen einmal durch die Sprache hindurch, werden reflektiert, der Zustand, die Stimmung ihrer Entstehung wieder aufgerufen. Es ist eine Arbeit mit der Erinnerung und der veränderten Gegenwart. Diese Werkausgabe folgt der 1995 erschienenen Erstausgabe, bei diesem Overdub bestimmten der Poet und die Lektorin, wie der Loop überschrieben wird. Der VerDichter wurde zum Sound- und Sprachtüftler, das Ausgangsmaterial dieser phonetische Texturen stammte aus analogen Quellen, teilweise wurden Textvariationen von einer 5 ¼ Zoll Diskette neu ausgewertet. Sinnfällig wurden die LiteraturClips auf dem Zyklus the vera strange tapes integriert, und es wurden Partikel aus dem verworfenen Projekt vorläufiges zum ästheTrick des widerspruchs montiert, dazu nicht verwendetes Material berücksichtigt, zudem Texte aus entlegenen Publikationen sinnfällig integriert und Überformungen des Sprachmaterials vorgenommen. Sein Stil verbreitet keine Eile, bremst in seiner Nachdrücklichkeit eher die Lektüregeschwindigkeit und entschleunigt das Leben selbst.

 

***

Das Monodram Señora Nada. wurde produziert im Tonstudio an der Ruhr. Klangkomposition: Tom Täger.

Tom Täger im Tonstudio an der Ruhr. Das Recht für dieses Photo liegt bei Andreas Mangen

Hörbproben → Probehören kann man Auszüge der Schmauchspuren, von An der Neige und des Monodrams Señora Nada in der Reihe MetaPhon. Zuletzt bei KUNO, eine Polemik von A.J. Weigoni über den Sinn einer Lesung.