Kompromisslosigkeit eines Jägers

 

Jacqueline streichelte unauffällig mit den Fingerkuppen an der Außenseite seiner Oberschenkel entlang. Kratzte mit den Fingernägeln über den Stoff. Abermals schaute Giancarlo erstaunt auf. „Sie hat gelächelt. Das Neonlicht blendet mich für einen Augenblick. Darf die Lider nicht mehr schließen. Muss sie im Blick haben. Ihre Jacke spannt über ihrer Brust. Blasse Haut kontrastiert. Ihr Lachen perlt auf meiner Haut… sie darf die Tasche nicht öffnen… öffnet sie doch. Ein Wurm mit roten Augen fällt in die Tasche, die Maden stürzen vor lauter Angst in die dunklen Seitenfächer. Mit der Kompromisslosigkeit eines Jägers hetzt er ihnen hinterher und bringt sein Wild zur Strecke.“

Jacqueline zückte den Lippenstift und zog sich die Oberlippe nach. Nahm einen Handspiegel, klappte ihn auf, sah prüfend hinein, presste die Lippen aufeinander, nickte sich zufrieden zu. Zog die Unterlippe an der Konturlinie nach. „Sie tut nur das, was eine Frau tut, wenn sie sich ihrer Sache absolut sicher oder absolut unsicher ist.“ Giancarlo starrte sie verzweifelt an. Ein Mann blieb an ihrem Tisch stehen.

»Kann ich den freien Stuhl haben?«

Giancarlo nickte müde. Selbstverständlich.

»Danke. Das ist nett von Ihnen. Die Leute sind nicht immer so nett auf der Kirmes. Meine Frau und ich wollen uns von hier das Feuerwerk ansehen. Unsere Kinder auch.«

„Kinder…“, schoss Giancarlo eine schmerzhafte Erinnerung durch den Kopf, Loretta wollte auch Kinder haben. Er folgte dem Blick des Mannes, sah eine haarlumiphile Frau mit zwei Mädchen und einem Jungen ein paar Tische weiter sitzen. Die Frau grüßte lächelnd herüber. Es war ein gewinnendes Lächeln, ein offener Blick. Bis sie die Augen niederschlug. Der Junge zappelte herum.

»Schluss, Robin, Papa bringt dir einen Stuhl.«

»Schönen Abend noch…«, rief Reiner Kauss, und mit einem zögerlichen Blick auf Jacqueline, »… auch Ihnen. Nochmals danke.«

 

 

Fortsetzung folgt.

***

Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001

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In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.