Reality–Check

 

Ansgar und Shari waren schlagartig nüchtern. Nicht der Kaffee aus der Sonderwache brachte sie von ihrem Trip runter. Ihr neues Selbst entstand durch permanenten Reality–Check. Immerfort meldeten die Sinnesorgane, in welchem Zustand sich ihre Körper und dessen Umgebung befanden. Ihr Bewusstsein war primär die Fähigkeit, Wissen aus der Perspektive des eigenen Körpers zusammenzutragen, auszuwählen und zu überblicken. Sie sahen konzentriert zu Boden, klammerten sich schüchtern um den Plastikbecher, pusteten in die Brühe. Mae versuchte, es sich auf einem der Stühle bequem zu machen, rutschte auf dem Sitz hin und her, spitzte die Lippen, übte sich vorläufig in Geduld. Martin Tilkowski ließ Ansgars und Sharis Sachen von einem Beamten durchsuchen. Der ehrgeizige Galonska stand desinteressiert in einer Ecke und rümpfte verächtlich die Nase. „Kleine Fische!“, schoss es ihm verächtlich durch den Kopf.

»Bedanke mich!«, teilte Tilkowski Galonska mit, nickte und veranlasste ihn so, das Zimmer zu verlassen. Der junge Polyp ging mit schlurfendem Schritt. Tilkowski sah ihm hinterher und wusste, er würde sich auch das merken, würde diesem karrieregeilen Jungspund den Arsch bis zur Halskrause aufreißen.

»Nichts gefunden!«, knurrte der Beamte, der sie gründlich durchsucht hatte, enttäuscht. verließ das Büro. Tilkowski schneuzte sich, war immer noch über Ludwigs Alleingang verärgert, ließ sich das nicht anmerken. Bronischewskis Gesicht war hochrot. Zores lag in der stickigen Luft. Er musste etwas für das Klima tun.

»Frau Ahlheit…«, erkundigte sich Tilkowski überaus freundlich bei Mae, »was kann ich für Sie tun?«

Sie hatte ihren Nachnamen schon lange nicht mehr gehört. Für die anderen war sie immer nur Mae gewesen. Die alte Frau brachte ein kleines Lächeln zustande. Sie kannte den Einsatzleiter noch als kleinen Jungen.

»Herr Kommissar, ich möchte eine Anzeige machen…« Tilkowski horchte, dankbar für die Unterbrechung, auf, »mein Hund wurde am ersten Tag der Kirmes getötet. Er muss erstochen worden sein. Ich frage sie: welcher Mensch tut so etwas?«

»Wo befindet sich denn das tote Tier?«

»Hab‘ Josi am Kanal beerdigt… war ’n Geschenk meines Mannes… letzte Erinnerung an ihn…« Mae kamen die Tränen, sie zupfte ein Stofftaschentuch aus dem Ärmel und tupfte die Tränen aus den Augenhöhlen, »konnte ihn nicht an ’ne Abdeckerei weitergeben, damit… als Seife… Ich… » Fasste sich. Schluchzte. Streckte den Rücken. Wollte nicht lächerlich erscheinen.

Tilkowski sah Bronischewski an. Der zuckte mit den Schultern und drückte seinem Kumpel damit seine Unwissenheit aus.

»Ihr toter Josi wäre bestimmt nicht einer Abdeckerei überführt worden!«, beruhigte Tilkowski die alte Dame mit sanfter Stimme. Laut Gesetz waren Hundehalter lediglich verpflichtet, sich bei einer Behörde zu melden. Tilkowskis Blick wanderte rüber zu dem Pärchen.

»Haben diese beiden etwas damit zu tun?«, erkundigte sich Tilkowski bei Mae und sah dabei in Bronischewskis Augen.

»Nein!«, antwortete Mae bestimmt. Bronischewski stimmte zu und schüttelte unmerklich mit dem Kopf.

»Frau Ahlheit, sie müssen einem Kollegen die Stelle zeigen, wo sie den Hund begraben haben. Es darf zu keiner Grundwasserverschmutzung kommen. Dann wird ihr Josi ausgegraben. Ein Beamter wird ihnen helfen, die Adresse eines Tierfriedhofes ausfindig zu machen.«

 

 

Fortsetzung folgt.

***

Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001

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In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.