Klaustrophobischer Subjektivismus

 

Ansgar schwieg. Er hatte sich sämtlicher Beweise entledigt. Das Andere lag in einem geheimen Depot, vergessen und vergraben am Kanal. Sie würden tagelang danach suchen müssen. Tilkowski sah Bronischewski an. Glaubte, dass sich sein Gesicht eine Spur ins Rot nachgedunkelt hatte. Er musste Luft ablassen:

»Die beiden Gören hier… vom flotten Dreier auf dem Cranger Friedhof.«

Tilkowski zuckte zusammen, als der Punk hysterisch wurde. Ansgar begann zu weinen und schlug die Hände vor das Gesicht. Seine Tränen verschmierten sich mit dem Aufdruck: „Ich trinke, rauche Shit, lese Pornos und bin ständig geil“. Shari nahm ihn in den Arm und streichelte über seinen Nacken. In diesem Moment wurde ihr klar, wie verknallt sie in ihn war.

»Sagen sie uns, was passiert ist, dann lassen wir sie gehen…«, versuchte er mässigend einzuwirken. Der klaustrophobische Subjektivismus dieser Generation ödete ihn an. Seiner Ansicht nach brauchten diese Typen keinen Psychologen.

»Um eine Anzeige wegen Friedhofschändung werden sie allerdings nicht herumkommen!«

Bronischewski entspannte sich allmählich. Tilkowski glaubte ihm. Sein Blutdruck stabilisierte sich. Der Pulsschlag ging runter. Dieses hübsche Pärchen würde seine Geschichte bestätigen. Er nahm sich ein Glas lauwarmes Mineralwasser und trank es in langsamen Schlucken. Die Hitze war mörderisch.

»Wir haben sie beim Sport–Palast getroffen!« Ansgar wischte sich den Schweiß mit seinem Shirt von der Stirn.

»Wen?«, erkundigte sich Tilkowski sachlich. Der Sport–Palast stand in der Nähe des Cafés, wo die Kellnerin aufgefunden wurde. Er nickte seinem alten Kumpel zu. Sie waren bei solchen Befragungen ein eingespieltes Team. Bronischewski spielte den Haudrauf und er kam als netter Onkel hinter dem Vorhang hervor.

»Sie hatte dort gekämpft. Den Boxer richtig wütend gemacht. Er hat sie beinahe k.o. geschlagen«, schilderte Ansgar den Sachverhalt. Bronischewski schluckte, er hatte einen Anhaltspunkt, stellte den Pappbecher weg und grinste. „Sie muss noch auf der Kirmes sein!“

»Was hat sie an?«, setzte Tilkowski nach.

»Ein Hippiekleid mit Blumen drauf… und ’ne Lederjacke, obwohl es so heiß ist.«

Bronischewski schwieg. Er wollte jetzt alles hören. Ansgar schluckte, das war alles, was er wusste, die Polypen nervten ihn.

»Menschen sollten für Verbrechen verurteilt werden, nicht für die Ängste der Gesellschaft!«

»Willst wohl witzig sein, oder wat?« Bronischewski packte Ansgar bei den Schultern. Der Kopf seiner Freundin sank ihm in den Schoss. Der Polyp drückte fester auf das Schlüsselbein als er wollte.

»Herrgott! Lassen Sie mich los! Sie trug rote Unterwäsche!« Ansgar schloss die Augen. Wickelte die Arme um seinen dürren Oberkörper. Shari klappte die Lider hoch und blinkerte den Beamten unschuldig an.

 

 

Fortsetzung folgt.

***

Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001

Weiterführend →

In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.