Der Mond von Wanne–Eickel

 

Vor allem die Kinder kamen auf ihre Kosten. Der Regen von Bonbons, Luftballons, Kaugummis, Bällen und anderen Kleinigkeiten war enorm. Die Älteren hatten Regenschirme verkehrt herum aufgespannt, um möglichst viel in Plastiktüten einsacken zu können. Jacqueline half einem weißhaarigen Jungen, die Wurfgeschenke vom Boden aufzuheben. Der Albino sah in ihre dunklen Augen, nuschelte ein Dankeschön und lief verängstigt zu seiner Familie.

»Ich hab‘ Durst, hol‘ mir noch’n Bier, Maikelbaby!«, hielt sie ihn auf Trab. Jacqueline wollte den Umzug in Ruhe genießen. Der Allroundschwätzer brauchte ihr nichts zu erklären. Vom Wagen der Herner Karnevalsgesellschaft flogen die kleinen Gaben nur so herunter, als wör’et en Zoch us Kölle. Wie in jedem Jahr wartete auf die Teilnehmer des Umzugs und die begleitende Polizei auf dem Festplatz eine Erfrischung und die obligatorische Erbsensuppe aus der Feldküche. Gut eineinhalb Stunden musste Jacqueline ausharren, um alle geschmückten Wagen, Vereine und Musikgruppen an sich vorbeiziehen zu sehen. Das war sie ihrem Viertel schuldig. Diesen Menschen schuldete sie Respekt.

Über dem Zug lag ein eisiger Hauch von Laugh–Parade. Schier endlos war die Kette der bunten Gruppen. Den größten Block stellten Mitgliedsvereine des Stadtsportbundes. Sie zeigten Turnübungen und Rock’n’Roll–Tanzeinlagen. Auf einem Anhänger tanzte ein aus Funk und Fernsehen bekanntes Ballett. Viele Vehikel waren mit wattstarken Beschallungsanlagen ausgerüstet, die brüllendlaute Techno–Rhythmen ausspuckten. Selbst der Oberbürgermeister und die Ehrengäste wippten mit.

Am frühen Nachmittag hatte Jacqueline einen Schwips. Die Sonne knallte ihr angenehm auf die Stirn und sie überlegte, ob sie sich für einen Mittagsschlaf auf den Balkon legen sollte.

»Ehj, wat mach’sse später?«, erkundigte sich ihr devoter Verehrer und reichte die nächste Pulle an.

»Hol‘ mich im Querschlag ab, dann zeig ich dir den Mond von Wanne–Eickel!«, winkte sie ihm zu und tauchte im Trubel unter.

 

 

Fortsetzung folgt.

***

Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001

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In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.

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