Heimathafen

 

Jacqueline hatte sich einen guten Platz in der Menge gesucht. Sie stand angelehnt an einem Stehtisch vor einem Ladenlokal, wie es nur im Ruhrpott möglich ist, eine Kombination aus Videothek und Kneipe. Vorne die bunten Plakate und Pappfiguren mit der Werbung für die neuesten Streifen. Rechts dahinter die Regale mit den Covern, links die Ausgabe mit den Inhalten. Hinter der langgezogenen Theke thronte Werner, der ungekrönte König des Reviers. Ein Schandmaul ohne Ende. Niemand entging seinem ätzenden Spott, bei dem er sich selber auch nicht schonte. Dafür liebten ihn seine Stammkunden und versuchten, ihn ihrerseits mit ironischen Spitzen zu überbieten.

Zwischen den Spielautomaten standen zwei Stehtische, auf denen sie Würfel rollen ließen, Karten klatschten, Bier tranken und jede Menge Zigaretten verquarzten. Das Videodrom war ein Kommunikationszentrum absonderlicher Art.

Der Wirt ließ es sich nicht nehmen, der alten Stammkundin dat Pilsken auf dem Tablett zu servieren. Jacqueline schenkte ihm ihr schönstes Lächeln. Genoss das erste kühle Bier. Ein Flens, das mit dem Bügel. Werner kannte sie schon seit Urzeiten. Mit seiner Frau gab sie sich bei Vollmond im Querschlag die Kante. Diese Clique war ihr Heimathafen. Martin, der schweigsame Zocker. Christoph, ein Mr. Beauty, der nur blondgebleichten Tussen hinterher lief. Maikel, der King von Gelsenkirchen, wie er sich selbst mit amerikanischer Betonung nannte, ein König der Zockerbuden im Revier. Der Cowboy in eng sitzender Lederhose brachte ihr ein weiteres Bier und fing damit an, sie vollzuquatschen.

»Ehj, du würdest es am liebsten mit uns allen machen!?!«

Jacqueline entblößte ihr Raubtiergebiss. Kurz das Knie anheben und sein Gehänge einquetschen… Sie beschloss ihn auszunehmen wie eine Weihnachtsgans, er hatte es nicht anders verdient. Drängte sich geradezu auf. Er sollte büßen, die Strafe auf sich nehmen für die Erniedrigungen, die er den Frauen zugefügt hatte.

Maikel verkehrte noch nicht lange in Werners Videodrom, kannte Jacquelines Prinzipien nicht: Keinen Liebhaber aus dem Freundeskreis und erst recht keinen Lover aus ihrem Viertel.

»Werner hinter’m Tresen, dann Christoph… und mich, wenn du’s noch bringst«, offerierte er ihr Prostitution als lukrative Möglichkeit des Geldverdienens. Er hatte die Nacht durchgezogen und bei einer Pokerrunde den großen Schnitt gemacht. Sie verdrehte ihre Augen zum Himmel. „Und noch ein Kaninchen auf dem Weg zur Schlachtbank…“, ging es ihr durch den Kopf. „Wenn er es so will, kann er es haben“. In der letzten Zeit bettelten die Typen geradezu darum.

»Beweis deinen Service, hol‘ mir noch’n Bier, Maikelboy!«, schickte sie ihn weg, um sich die geschmückten Wagen anzusehen.

 

 

Fortsetzung folgt.

***

Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001

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In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.