Schublade

 

Giancarlo blickte abermals aus dem Fenster. Sah die Frau, die ihm am Vortag auf dem Pferdemarkt aufgefallen war. Bemerkte, dass sie ohne Begleitung zur Feldküche ging. „Auch jemand, der einsam ist“, dachte er mitfühlend. Wollte sich seiner Arbeit zuwenden. Zog eine Schublade auf, und das Gesicht seiner Ex–Frau Loretta lächelte ihm von einem gerahmten Foto entgegen. Die Erinnerung an sie durchzuckte ihn wie ein Stromstoß. „Gehörnt!!!“, dachte er bitter und warf mit einem Knall die Schublade zu. Seine Sekretärin steckte ihre Nase durch die Tür.

»Ist was umgefallen?«

»Nein!«, antwortete Giancarlo laut. „Nur ich!“ dachte er. Wie in den Tagen zuvor fühlte er sich hundeelend. „Wieso kann ich nicht die Camorra auf meine Ex–Frau ansetzen?“

Nachmittags manövrierte er sein Auto durch die Menschenmenge nach Hause. Es hat keinen Zweck, mit dem Wagen zur Arbeit zu kommen, in den folgenden Tagen würde er die Straßenbahn nehmen müssen. Sonst schlief die Stadt einen Dornröschenschlaf, jetzt steppte sie gegen den Tod. Es war ein Sog. Die vielen Menschen, der Trubel. „Wieso machen Menschen so etwas? Erfinden sie Feste, um nicht zu leben? Oder leben sie gerade dann?“ Giancarlo aus Napoli achtete die Deutschen, er liebte sie nicht, aber er verstand die Kirmes. Auch in Italien gab es Feste, wie den Carneval von Venedig. Loretta und er hatten dort ihre Flitterwochen verbracht. Immer und überall ventilierte Loretta durch seine Erinnerungen. Nur mit Absynth erlebte er sich im Erleben. Und schlief ein.

 

 

Fortsetzung folgt.

***

Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001

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In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.