Nehmen sie die Zügel ihres Lebens selbst in die Hand

 

Giancarlo saß allein in seinem Büro an einem kleinen Tisch, auf dem sich die Akten von anderen Firmen türmten. Hinter sich die Fenster. Er schaute nicht auf die Uhr. Verließ sich immer auf die Glocken der Kirche. Las die Korrespondenz noch einmal gründlich durch. Unterschrieb. Legte den Brief in die Ablage. Sichtete die Vorhaben der nächsten Tage.

Im Haus war es ruhig. Seine Sekretärin war vor zwei Stunden gegangen. Er behandelte sie mit erlesener Höflichkeit, ohne in das im Ruhrpott übliche Du zu fallen. Giancarlo war ummäntelt von freundlicher Distanz, dies ließ vertrauliche Nähe zu, jedoch keine Spur von Intimität.

Die Kirchenglocken läuteten die Generalprobe auf Crange ein. Selbst hier, kurz vor Beginn des Jahrmarkttrubels, durchschaute man trennscharf, dass Berechnung nicht alles und schon gar kein Ersatz für das Echte war.

Er spitzte die Ohren. Fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Rückte die Lesebrille zurecht. Schüttelte den Kopf. Giancarlo schaute nachdenklich aus dem Fenster zur alten Cranger Kirche. Er blätterte in der Tageszeitung und las, einer alten Gewohnheit folgend, sein Horoskop. Unter der Rubrik Liebe stand zu lesen:

„Nehmen sie die Zügel ihres Lebens selbst in die Hand, dann haben sie auch keinen Grund, mit anderen zu hadern.“ — Und genau das hatte er getan. Seine Frau hatte ihn verlassen. Das hatte an seinem Ego gekratzt. Er legte das Horoskop zur Seite. Aus seinem Selbstverständnis heraus, war er ein Mann der Tat und wurde auch als solcher von seinen Geschäftspartnern geschätzt. Er hatte in der Zeit nach der Trennung lange gearbeitet und sich einen Schutzwall geschaffen. „Der größte Feind ist deine eigene Selbstzufriedenheit. Dieser Gegner packt einen, wenn man sich nur noch mit seinen persönlichen Angelegenheiten beschäftigt und den Blick für das Ganze verliert.“, erkannte er melanierend. Giancarlo war knapp über vierzig, schlank, drahtig, durchtrainiert. Sein volles schwarzes Haar ergänzte sich ansehnlich mit den grauen Schläfen, was ihn für Frauen attraktiver machte.

„Ich habe mich mit meiner Frau gestritten…“, ging es ihm durch den Kopf, „…aber wie oft haben wir zusammen gekocht, gesessen, Gespräche geführt, sind ins Theater oder ins Kino gegangen!?“ Wie jedem Mann, der seinen Geschäften nachging und mit seiner Karriere beschäftigt war, waren ihm die kleinen Veränderungen an seiner Frau nicht aufgefallen. Sie machte sich zurecht, strahlte und lachte ihn an. Giancarlo führte das auf seine Erfolge im Geschäftsleben zurück. Seine Frau machte bei Empfängen und Parties mit Geschäftsfreunden immer eine gute Figur, war charmant, machte geistreiche Witze.

Von draußen erklang wieder die bodenständig bayerische Blasmusik, die ihm gänzlich verhasst war. Gern hätte er in diesem Moment eine Tarantella gehört, im 6/8–Takt geschnippt und auf das blaue Meer hinausgesehen. Statt dessen sah er ein junges Paar vor seinem Bürofenster, das zu ebener Erde lag, balzen. Es gab ihm einen Stich ins Herz, als er sie beobachtete.

 

 

Fortsetzung folgt.

***

Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001

Weiterführend →

In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.