Speerspitze der Unnahbarkeit

 

Eine strenge Dame im maßgeschneiderten Kostüm taxierte sie. Jacqueline gefiel der Ausdruck ihrer Augen nicht. Sie waren dunkel und abwesend, distanziert und kalt. Jacqueline drehte der Vornehmen den Rücken zu. Bog gemessenen Schrittes in die Anbaggermeile ein, zeigte sich so, wie sie gesehen werden wollte. Drehte sich angelegentlich um. Senkte die Wimpern. Registrierte, wie der Blick der ungnädigen Frau auf ihren Hüften ruhte. Speerspitze der Unnahbarkeit. Angriffslustig sah sie zurück und gab ihr deutlich zu verstehen: „Dein Spiel spiele ich nicht. Zwischen uns liegen Welten.“ Die Ältere senkte den Blick, klimperte verärgert mit ihrem Goldkettchen. Der Schminkkofferträger neben ihr bestellte grölend ein weitere Runde.

Blitzartig der Terror des Alltäglichen: die erste Schlägerei der Saison. Kurz, schnell und hart. Blutende Nasen, aufgeplatzte Lippen, ein paar Zähne verstreut auf dem Holzfußboden. Umgehend waren Martin Tilkowski, Chef der Kirmes–Sonder–Polizeiwache, sein alter Kollege Ludwig Bronischewski und der junge Dirk Galonska zur Stelle. Im Handumdrehen waren die Krawallieros überwältigt und auf dem Weg in die Ausnüchterungszelle.

Rauch, Qualm und Hitze. Eine Migräne kroch in ihrem Kopf. Sie verließ fluchtartig das Zelt. In der vorangegangenen Nacht hatte sie als Nachtisch einen Grope auf ihre Matratze gelegt, er zitterte wie jemand, der sich kaum an die Haut einer Frau erinnerte. Nachdem sie ihren Spaß gehabt hatte, schlug er einen Liebespakt vor. Gefühle perlten an ihr ab wie am Gefieder eines Vogels. Jacqueline hatte selbst ihre Fehlgriffe im Griff, konnte es nur mit unabhängigen Menschen aushalten. Sie genoss die postkoitale Zigarette, befahl ihm in ruhigem Ton, die Wohnung zu verlassen. In seinem Gesicht spiegelte sich Irritation und Erniedrigung. Er blieb unter der Tür stehen. Sie unterwarf ihn mit einem Blick. Stand katzengewandt auf. Sprang. Griff in den Schirmständer. Nahm ihren Baseballschläger, pink mit weißen Sternchen. Suchte die Wahrheit in der Raserei. Prügelte ihn die Treppe hinunter und kam in der Eskalation zu sich selbst.

Jacqueline ließ das Bayernzelt hinter sich. Sog die frische Luft tief in sich ein. Pustete die Lunge durch. Abseits des Trubels schlug sie sich zwischen die Wohnwagen der Schausteller. Wollte sich in einer stillen Ecke niederlassen und die Schläfen massieren. Josi, ein alternder Schoßhund, knurrte sie agresssiv an.

»Verschwinde, du Drecksköter!«

Der Hund fletschte die Zähne und kam schnell näher. Jackie, die Schlitzerin, zog das Stilett aus ihrer Jeans. Ließ es aufschnacken. Josi sprang sie an. Im Fallen rammte sie ihm das Stilett in den Unterleib. Der Hund rappelte sich hoch. Bleckte. Sie stach wieder und wieder zu. Der Köter blutete aus unzähligen Wunden.

»Hättest mich eben nicht angreifen sollen!«, schrie sie den röchelnden Hund an. Der streckte die Pfoten von sich und leckte ihr die Schuhe. Angewidert trat sie dem Kläffer in die Flanke. Ein letztes Winseln drang durch sein Maul. Jacqueline hielt sich den Kopf, dröhnende Kopfschmerzen hämmerten gegen die Schädeldecke. Sie musste weg.

»… bin nicht verrückt!«, murmelte sie, »… nur etwas überarbeitet…«, taumelte auf dem Weg, der sie entlang des Kanals führte.

 

 

Fortsetzung folgt.

***

Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001

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In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.