DIE FRAU MIT DEM PURPURTUCH

 

ich sitze einsam an einer felswand im grellen sonnenlicht inmitten eines verwilderten apfelhains und bin vom purpurrot der früchte umgeben, aus deren geplatzten schalen, die wie wunden aufreißen, ohne daß ich sie berührt hätte, unablässig saft tropft. und während bienen und wespen, geistern gleich, die ihren leib suchen, die äpfel umkreisen, fühle ich mich, als wäre ich, der körper, selbst vom baum gefallen und läge unterm andrang der insekten aufgelöst. und ich tauche meine finger ins fleisch und sage mir: das sind die fünf zweige vom losen ast der erkenntnis, die man sich entweder abschlägt oder im leben versenkt. da erblicke ich neben mir eine junge weißgesichtige frau, die nur mit einem purpurblauen tuch bekleidet ist, das sie jedoch, indem es weich fließend an ihr hinunterwallt, vollständig bedeckt.

die fremde frau neigt ihren kopf zu mir, öffnet mir das hemd und streicht mit der klinge eines dolches honig auf meine brust, über die sofort metallen glänzende käfer laufen. ich empfinde ekel, wage dies aber nicht zu zeigen. sie indessen spürt mein unbehagen, schaut mich zornig an, greift sich erschrocken gegen die brust, ringt nach atem, fällt um und bleibt leblos im gras liegen. ich beuge mich über sie und will sie beatmen. doch ein gewittersturm, der mir erst gelbroten sand und dann den frischen geruch feuchter luft ins gesicht wirbelt, beendet meine eben begonnenen rettungsversuche.

plötzlich bin ich in eine biene verwandelt und denke: das hat die frau mit ihrem letzten atemzug getan, damit ich fliehen kann, obwohl ihr tod als fluch auf meinem leben lastet. und während ich noch überlege, wen ich stechen könnte, um danach ebenfalls zu sterben, ist die frau längst aus ihrer ohnmacht erwacht und beginnt, indem sie mich scharfblickend betrachtet, mit einem schallenden lachen.

 

 

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traumnotat aus reise im flug, von Holger Benkel, Verlag blaue Äpfel, Magdeburg 1995

Weiterführend

 

In einem Kollegengespräch ergründeln Holger Benkel und A.J. Weigoni das Wesen der Poesie – und ihr allmähliches Verschwinden. Das erste Kollegengespräch zwischen Holger Benkel und Weigoni finden Sie hier.

kindheit und kadaver, Gedichte von Holger Benkel, mit Radierungen von Jens Eigner. Verlag Blaue Äpfel, Magdeburg 1995. Eine Rezension des ersten Gedichtbandes von Holger Benkel finden Sie hier.

meißelbrut, Gedichte von Holger Benkel, mit siebzehn Holzschnitten von Sabine Kunz und einem Nachwort von Volker Drube, Dr. Ziethen Verlag, Oschersleben 2009. Eine Rezension finden Sie hier.

Gedanken, die um Ecken biegen, Aphorismen von Holger Benkel, Edition Das Labor, Mülheim 2013

Essays von Holger Benkel, Edition Das Labor 2014 – Einen Hinweis auf die in der Edition Das Labor erschienen Essays finden Sie hier. Auf KUNO porträtierte Holger Benkel die Brüder Grimm, Ulrich Bergmann, A.J. Weigoni, Uwe Albert, André Schinkel, Birgitt Lieberwirth und Sabine Kunz.