Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung

Kein Mensch verdient, dafür geehrt zu werden, dass er lebt.

Jean-Paul Sartre

Nur zwei harte Währungen kennt der deutsche Literaturbetrieb. Die eine ist: Geld. Die andere heißt: Authentizität. Sie ist wichtiger als Preise, weil man Preise verachten kann, wenn man authentisch ist. Diese Echtheit ist der Grad der Übereinstimmung zwischen einer Tatsache und deren Darstellung und damit erheblich eleganter als Coolness, weil sie niemanden abschreckt. Sie ist aufregender als Präsenz, weil sie jede Gestalt annehmen kann. Und sie ist unzugänglicher als das, was an den Schreibakademien in Hildesheim und Leipzig abgelaicht wird, denn sie erfordert nur sich selbst. Wir stellen in diesem Onlinemagazin keine an Spezialinteressen hängende Leute mit sozialen Defiziten vor, sondern Lyriker, die das Zeug zu einem echten Klassiker bei Lebzeiten haben. Es ist der redaktionelle Auftrag von KUNO Schlaglichter auf die Szene jenseits des Hipness-Radars zu werfen.

Avantgardisten sind Leute, die nicht genau wissen, wo sie hinwollen, aber als erste da sind.

Romain Gary

Im deutschsprachigen Raum wird an jedem Tag mindestens ein Literaturpreis verliehen. Auszeichnungen und Preise ähneln – Billy Wilder zufolge – Hämorrhoiden, „früher oder später bekommt sie jedes Arschloch.“ Und in den weitaus meisten Fällen sind es die Jurys, die sich für ihren Geschmack auszeichnen. Im Rheinland beruft man sich dagegen auf die lässige Tradition von Christian Dietrich Grabbe und stellt den komödiantischen Widerpart zu einem Literaturbetrieb dar, der über wenig Selbstironie verfügt. Im Jahr 2001 wurde mit dem Hungertuch vom rheinischen Kunstförderer Ulrich Peters ein Künstlerpreis gestiftet, der sich auf den Katholizismus beruft. Der sogenannte Nahbellpreis wurde bereits ein Jahr zuvor lanciert vom unermüdlichen Organisator, Photographen und Lyrik-Performer Tom de Toys, es ist ein Kofferwort, das die Begriffe Nähe, Gebell und Nabel mit sich trägt.

Lebenslängliche Unbestechlichkeit sowie stilistische Zeitgeistresistenz

Die Gefahr für die Entscheidungsfreiheit der Literaturinteressierten und ihrem kulturellen Horizont wird durch die Bildung von Filterblasen behindert, in denen Leser nur noch konsumieren, was das Feuilleton ihnen vorschreibt und sie nie mit wirklich Neuem konfrontiert werden. Der Nahbellpreis würdigt: „Lebenswerke und öffentliches Engagement von Poeten, die ansonsten in Vergessenheit zu geraten drohen oder im laufenden Literaturbetrieb zu wenig Aufmerksamkeit erhalten“. Gemäß dem Urkundentext sind lebenslängliche Unbestechlichkeit sowie stilistische Zeitgeistresistenz ausschlaggebend, um Interesse zu wecken. Bisherige Preisträger sind u.a. die Fragmenttexterin Angelika Janz, die „Rampensau“ Stan Lafleur und HEL, der Archäologe des analogen Alltags. Diese Autoren haben es nicht nötig, ihre Wahrnehmungen mit der Creme salbender Schönheit zu tunen. Ihre Wahrnehmung ist brennscharf, sie haben ein untrügliches Gefühl für dramatische Zwischenräume, das lyrische Ich reflektiert gesellschaftliche Zustände in der Regel beiläufig, und zumeist heiterer Melancholie oder in bitter klugen Farcen.

Diese Dichtergeneration ist nicht bereit, hinter die Standards einer kritischen Sprachbehandlung und also Wirklichkeitsauffassung zurückzufallen.

Thomas Kling

Aufrecht und aufrichtig beschreiben Nahbell-Preisträger wie Kai Pohl und Clemens Schittko eine Welt, die von Vereinzelungstendenz, Krieg, Armut, Ignoranz der herrschenden Klasse und Artensterben bestimmt ist. Hadayatullah Hübsch durchstreifte mit spähendem Jägerblick erbarmungslos die Städte, als wären sie die Wildnis. Es handelt sich bei den Veröffentlichungen nahezu aller Nahbell-Preisträger um eine hoch kognitive Poetik, die urbane Alltagserfahrung destilliert, auf Gelassenheit heruntergeschaltet und zuweilen das Gezeigte staubtrocken vorträgt. Der Nahbellpreis wird seit dem Jahre 2000 alljährlich am 21. Juni als alternativer Lyrik-Nobelpreis verliehen und ist mit 10 Millionen Euro der höchstdotierte Literaturpreis. Das Preisgeld konnte allerdings bis heute mangels Sponsoren noch nicht ausgeschüttet werden.

Solidarität der Solitäre

Beide rheinische Anerkennungen belegen die Tradition von Christian Dietrich Grabbe, daß es im Leben unterschiedliche Formen von Erfolg gibt. Zum einen gibt es die Auszeichnung durch Preise und Stipendien, zum anderen die Anerkennung durch die Kolleginnen und Kollegen.

 

 

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Arno Holz, Erfinder der Mittelachsenlyrik

Weiterführend → Unabhängige Literatur lebt auch von ihren Mißverständnissen. Und das ist gut so. Ein geistvoller Irrtum bewirkt oft mehr als eine belanglose Richtigkeit. Mit der Energie von Tom de Toys könnte man eine mittelgroße deutsche Kleinstadt versorgen, Beleuchtung, Nahverkehr und alle Kneipen inklusive. Seine Texte in seinem wahrscheinlich wuchtigstem Band METAMOTIVATION IST MÖGLICH besitzen einen rasenden Pulsschlag (dazu mehr auf KUNO an anderer Stelle), auch wenn sie mal danebengehen – und von wie vielen deutschen Off-Autoren kann man das behaupten?