Lebensabschnittsgefährten

 

Veduten werden sträflich unterschätzt. Sie gelten als kulturloser Leerraum zwischen den Metropolen oder dienen als Hintergrund für beschauliche Gemälde. Stellt man eine Mauer in die Landschaft, so ändert sich das Bild. Bereits 1964 empfiehlt Joseph Beuys als künstlerische Bewältigung der Zonengrenze die Erhöhung der Berliner Mauer um fünf Zentimeter, die Begründung des Fluxus-Künstlers lautete: „Bessere Proportion!“

BRD / DDR

Postwertzeichen von 1969, entwertet am 9. November 1989

Das Titelbild dieses Epochenromans zeigt eine Neigung zur Philatelie, eine Briefmarke, die im Jahr der Mondlandung zum 20. Jahrestag der DDR erschienen ist, wird mit dem Poststempel vom 9. November 1989 entwertet. Abgeschlossenes Sammelgebiet ist ein endzeitliches Panorama über die Spätphase der DDR und zugleich dem Verblassen der alten BRD, das in dieser Binnen- und Draufsicht so noch nicht beschreiben wurde. Dieses Werk ist auf einer Metaebene eine geschichtsphilosophische Deutung dieses Momentums. Der Text ist präideologisch, die Sprache formuliert nicht Denkresultate, sondern skizziert den Denkprozess der Figuren. A.J. Weigoni hat die Authentizität des ersten Blicks auf ein Unbekanntes, den Schrecken der ersten Erscheinung des Neuen. Er unterstreicht einen Anspruch, die historische Totalität dieses Epochenbruchs abzubilden, und zwar in einer symbolischen, gleichnishaften Erzählweise. Es ist sehr aufschlussreich zu lesen wie kurzatmig man bisher die Untergangsgeschichte der DDR und über das Verlöschen der alten BRD erzählt hat. Als Geschichte einer Vertreibung aus dem Paradies, wie es Ingo Schulze in Adam und Evelyn es getan hat – oder als Blick in die realsozialistische Vorhölle wie Uwe Tellkamp in Der Turm. Die strukturelle Vielgestaltigkeit der Szenen in Abgeschlossenes Sammelgebiet, die Wechsel in Stilebene und Erzählform nutzt Weigoni, um auch in die hinteren Winkel seines Panoramas zu spiegeln und somit auch den Untergang der alten BRD zu zeigen. In lange und vor allem geduldig ausgesponnenen Handlungsfäden werden viele verschiedene Personen miteinander verbunden und streben gemeinsam dem Ende entgegen. Poesie ist immer auch eine Befragung der identitären Konzepte, der Wahrnehmungen, der Zuschreibungen, weil genau die Diskurse, die sich sehr eng um Identität drehen, selbst das Problem sind. Im Mittelpunkt des weit verzweigten Romans steht das zentrale Dreigestirn der Lebensabschnittsgefährten Charlotte, Jane und Moritz symbolisiert durch den Kapiteltrenner, der sich generiert durch jedes Kapitel des Romans zieht, beginnend von Adams herzhaftem Biss, bis hinzu dem, was von der Liebe übrig blieb.

BR/D/DR

Die Écriture von A.J. Weigoni ist Enthüllungsarbeit, Trauerarbeit, Arbeit am Denken. Und letztlich an der Sprache selbst. In Abgeschlossenes Sammelgebiet zeigt er Entwurzelte, die an der alten Gesellschaftsordnung scheitern. Es ist die enorme kompositorische Leistung, mit der Weigoni in 25-jähriger Arbeit die Stoffmasse bewältigt hat. Das Buch ist von epischem Zuschnitt und gleichsam entwirft es ein großes erzählerisches Spektrum mit den Schauplätzen Düsseldorf, Berlin, Rügen, Paris und New York, sowie den unterschiedlichsten Lebensläufen, die er zudem mit einer Vielzahl literarischer Mittel darstellt und diese Details zu einer inneren Geschlossenheit zusammenzufügen. Dazu setzt er geschickt wiederkehrende Motive und seine Fähigkeit zur differenzierten Schilderung von Lebensläufen ein. Auf einen Wenderoman will man dieses Buch nicht reduziert wissen, denn über das Erzählte hinaus arbeitet Weigoni an einem unausgesprochenen Projekt einer Rückgewinnung des Epischen. Er  entwirft in diesem Roman den Kosmos der untergehenden BR/D/DR völlig wieder erkennbar und völlig neu als Musik aus Gedanken, Worten, Figuren, Realität und Fantasie. Es ist der Aufbruch aus einer stillgelegten Zeit, die hier beschrieben wird, und aus der Kulturversunkenheit herausgerissen wird. Dieser Schriftsteller einwirft ein spiegelverkehrtes Panorama der verkrusteten BRD, das die Schichten und Milieus der DDR-Gesellschaft von der Intelligenzija, der Nomenklatura, den Ausreisewilligen, den Arbeitern bis zu aufmüpfigen Künstlern und bösartigen Nachbarn erfasst. Wir finden epische, niemals langweilige Schilderungen, eine souveräne Komposition dieses Romans, seiner Stimmigkeit, den zahllosen, nie aufdringlichen literarischen Anspielungen und Symbolen. Außerdem entfaltet der Roman eine soghafte Wirkung, der man sich nicht entziehen kann. Ausgefeilte assoziative Passagen zeigen Weigonis Fähigkeit zur Verdichtung, zu einem elegischen, symbolischen Schreiben. Die einzige Rekonstruktion der Vergangenheit, die in diesem Jahrzent Lebendigkeit beanspruchen kann, ist ihre kongeniale Neuschöpfung.

Schland

Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts ist geprägt durch eine Erinnerungsscham. Weigoni wagt den coolen Blick auf die untergehende Östliche und der drei westlichen Besatzungszonen. Die Sichtweise, dass Gesellschaften ab einem gewissen Zivilisationsgrad die Werkzeuge politischer Willensbildung abhandenkommen, wirkt zum Ende hin erhellend. Abgeschlossenes Sammelgebiet ist ein großflächig angelegtes Selbstvergewisserungsverbuch. Es geht um nicht weniger als den Versuch, dieses neue Verhältnis, das „Zeit­alters der Extreme“ (Eric Hobsbawm), zu begreifen. Weigoni widerlegt poetisch, dass deutsche Themen im Zusammenhang mit der 68er-Bewegung bewältigt wurden, auf dem Territorium der DDR sind sie weiterhin virulent. Selbstverständlich geht es in diesem Epochenroman um die deutschesten Themen: Innerlichkeit, individuelles Pathos und um Schicksal. Dieses Epos ragt zum 25. Jubiläum des sogenannten Mauerfalls aus der Saisonware deutscher Gegenwartsliteratur weit heraus. Dieser Schriftsteller hat den ultimativen Roman über die DDR, diese lächerliche sowjetische Satrapie auf deutschem Boden, und die völlig ausgelaugte alte BRD geschrieben. Weigoni verweigert bei aller Detailgenauigkeit des Blicks  den verklärenden Gestus. Dies allein wäre bereits, nach all dem Wischy-waschy der Biermanns, Wolfs, und Heins, eine Erlösung. Dieser sprachmächtige Schriftsteller präsentiert was die deutsche Literatur der letzten Jahrzehnte nicht hatte, er ist: genialisch ausufernd, nutzt die ganze Bandbreite vorhandener Erzählmittel, ist voller Humor und Melancholie, Wut und Sentimentalität, Spott Ernsthaftigkeit und versteckt dabei nicht Satire, Ironie und tiefere Bedeutung. Es ist ein Echolot in die Zeit zweier untergehender Länder. Was warum in welchem Umfang als erinnerungswürdig gilt, ist auf eine konstruktive Weise unklar, dies entscheidet nicht die Vergangenheit, sondern – mit gebührendem Abstand – die Jetztzeit. Darauf kann man aufbauen.

 

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Abgeschlossenes Sammelgebiet, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2014 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover.

Weiterführend →

Zur historischen Abfolge, eine Einführung. Eine Annäherung von Angelika Janz finden Sie hier. Eine Rezension von Jo Weiß findet sich auf kulturaextra. Auf Fixpoetry arbeitet Margretha Schnarhelt einen Vergleich zwischen A.J. Weigoni und Haruki Murakami heraus. Eine weitere literaturhistorische Parallele zog die KUNO-Redaktion zu Jahrestage. Ein Hintergrundgespräch findet sich auf der Lyrikwelt. Den Klappentext, den Phillip Boa für dieses Buch schrieb lesen Sie hier. Einen Essay lesen Sie bei Buecher-Wicki.

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Weiterhin von A.J. Weigoni erhältlich:

Coverphoto: Jesko Hagen

Cyberspasz, a real virtuality, Novellen, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2012.

Zombies, Erzählungen, Edition Das La­bor, Mülheim an der Ruhr 2010.

Vignetten, Novelle, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2009.