Wahlsieger: D-Mark

Es wird keine DDR mehr geben.

Stefan Heym

Am 18. März 1990 konnten die DDR-Bürger zum ersten Mal frei ihr Parlament wählen. Es ist keine Zufall, daß A.J. Weigonis Roman Abgeschlossenes Sammelgebiet zwischen dem 9. November und dem 18. März 1990 spielt, denn November 1989 und März 1990 komprimiert sich deutsche Geschichte unter dem Druck der Ereignisse. Dieser Romancier verdichtet Realitätsfragmente zu Poesie. Er artikuliert ein nicht­propagandistisches Sprechen, eine Erinnerungs- und Beschreibungssprache, die sich abhebt von dem, was man über die sogenannte Wiedervereinigung lesen mußte. In Abgeschlossenes Sammelgebiet durchdringt er die Realität vom ersten bis zum letzten Kapitel, zeigt Widersprüche auf, und weist poetisch aus, wie sich Individuen im geschichtlichen Umbruch verhalten.

 Hier ist er also, der große Zeitroman für Marcel Reich-Ranicki.
Wend Kässens, NDR 3, Literatur vor Mitternacht

Die Abkürzung BRD wurde im Kalten Krieg für die Bundesrepublik Deutschland als eine nicht offizielle Abkürzung verwendet, mitunter im wissenschaftlichen und insbesondere politischen Kontext analog zum Kürzel „DDR“ während der Epoche von 1949 bis 1990. Es gehört zu den Paradoxien der Gesellschaftskritik, daß sie in spürbarer Retromanie jener vorglobalisierten „BRD“ hinterher trauert, die sich doch selbst mit derselben Betroffenheitsrhetorik soziale Kälte, Umweltverschmutzung und kapitalistischen Wildwuchs vorwarf. Wer Geschichte zum Zwecke politischer Bildung – und das bedeutet: der Schärfung politischer Urteilskraft – betreiben will, muß sich klarmachen, daß konsequente Historisierung eine Vorbedingung dafür ist, die Verführungskraft von Ideologien richtig einzuschätzen. In der nostalgischen Rückschau auf 1989 haben sich die Illusionen der postbourgeoisen Arrieregarde jener Jahre in ihre Köpfe einzementiert. Der Sozialismus, so geht die oft erzählte Legende, bestand hauptsächlich aus fröhlichem Jugendleben. Hässliche Hosen, aber gewagten Dissidentenpartys. Wenig Freiheit, aber viel Sex. Wo die Liebe in die Krise gerät, gerät die ganze Welt an den Rand des Abgrunds. Und umkehrt.

Weigoni hat eine Sprache für etwas gefunden hat, was sprachlos macht.

Zäsuren sind die Scheren der Geschichte; sie schneiden zumiest tief ein. Poesie und Politik das sind die Pole, zwischen denen sich dieser Roman bewegt. A. J. Weigoni stellt die Welt auf die Vergänglichkeitsprobe. Er arbeitet in Abgeschlossenes Sammelgebiet einen Katalog von Sinnesdaten ab, erzählt nicht nur, er deutet die Welt und ist dabei mit allen Wassern aktueller Theorie gewaschen ist. Die Hauptfigur Moritz ähnelt in gewisser Weise Melchior Sternfels von Fuchshaim, dem Heldem in Grimmelshausen „Simplicissimus“, er stolpert von einem Unheil ins nächste. Atemlos folgt man den Verwicklungen und aberwitzigen Verwinkelungen, den Verlusten und dann wieder fast zu fantastischen Glücksfällen dieses rastlosen Lebens.

Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate.

Zitiert Weigoni eingangs ein Motto vom Godfather des Aphorismus, Karl Kraus. Die Kunst dieses singulären Werks besteht also darin, das Gehörte, Gelesene, Aufgeschnappte oder an entlegenen Stellen Entdeckte so in konkrete Situationen einzubetten, daß wir zu Augenzeugen werden. In Abgeschlossenes Sammelgebiet ist alles literarische Erfindung, aber eine der glaubwürdigsten, schrecklichsten und wundervollsten. Weigoni weiß genau, wie er verzögert oder beschleunigt und wovon er schweigt. Seine Moral ist die Fortführung der Erzählung mit anderen Mitteln; sein Humor ist urteilslose Vollstreckung. Mit knappen Wendungen stößt er Assoziationsketten an und erzählt fast süffig von Identität und Liebe, Vergeblichkeit und Verwandlung. Die Wahrheiten in diesem Buch sind unendlich viel zahlreicher als die Irrtümer, der Mut ist viel größer, als es die Dummheiten und Fehler sind. Aber die Verbindung von beidem macht es zu einem wahrhaftigen, beeindruckenden Dokument über die Kämpfe in den Jahren der so genannten Wende. Literatur wird zu einem Passierschein in eine Möglichkeitswelt. Dieser Roman ist die Geschichte einer Erlösung durch das Erzählen. Der Leser steigt nach der Lektüre als Profiteur heraus, um es mit einem Klassiker zu sagen: „Ein Buch, das nicht wert ist, zweimal gelesen zu werden, braucht man auch nicht einmal lesen.“

 

 

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Abgeschlossenes Sammelgebiet, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2014 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover

Postwertzeichen erschienen zum 20. Jahrestag der DDR. Entwertet am 9. November 1989

Weiterführend → Zur historischen Abfolge, eine Einführung. Eine Rezension von Jo Weiß findet sich hier. Einen Essay von Regine Müller lesen Sie hier. Beim vordenker entdeckt Constanze Schmidt in diesem Roman einen Dreiklang. Auf der vom Netz gegangenen Fixpoetry arbeitet Margretha Schnarhelt einen Vergleich zwischen A.J. Weigoni und Haruki Murakami heraus. Eine weitere Parallele zu Jahrestage von Uwe Johnson wird hier gezogen. Die Dualität des Erscheinens mit Lutz Seilers “Kruso” wird hier thematisiert. In der Neuen Rheinischen Zeitung würdigt Karl Feldkamp wie A.J. Weigoni in seinem ersten Roman den Leser zu Hochgenuss verführt.

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