Vergangenheit als Baumaterial für die Zukunft

Welche Mächte haben heute die Deutungshoheit über die Geschichte – und welche Geschichten bleiben unerzählt?

In seinem Erinnerungskursroman stellte A. J. Weigoni die Welt auf die Vergänglichkeitsprobe. Zwischen November 1989 und März 1990 komprimiert sich deutsche Geschichte unter dem Druck der Ereignisse. Dieser Romancier verdichtete Realitätsfragmente zu Poesie. Er artikulierte in diesem Roman ein nicht­propagandistisches Sprechen, eine Erinnerungs- und Beschreibungssprache, die sich abhebt von dem, was man über die sogenannte Wiedervereinigung lesen mußte.

Für Weigoni ist Architektur eine Metapher für die Literatur: Auch Prosa ist ein Gebäude, und man muß teilen können, um sie so konstruieren zu können, daß sie zugänglich sind. “Der retrospektive Charakter der Erinnerung setzt erst ein, wenn die Erfahrung, auf die sie sich bezieht, abgeschlossen im Rücken liegt”, wie die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann in einer Studie zu den Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses festgestellt hat. Geschichtsbewusstsein ist ein Wort, das nach Schule riecht. Aber die Tatsache, daß man sich der eigenen Geschichte, des Landes und der Zusammenhänge, in denen man steckt, bewusst ist, ist ein zentrales Moment für die Ausbildung eines Bewußtseins. Weigonis kultur-archäologische Spurensuche macht dem Leser Einzelteile der deutsch-deutschen Geschichte zugänglich, die unbemerkt unter den Teppich der Bewältigung gekehrt wurden. Jene, die erzählen können, die das erlebt haben, sind in der Pflicht, das zu überliefern. Dieser Prozess ist aber durch die Schnelllebigkeit unserer Zeit und dadurch, daß man sich dem Alter gegenüber herablassend verhält, ins Stocken geraten. Weigonis Abgeschlossenes Sammelgebiet ist auch ein entschloßener Versuch, sich dagegen zu wehren. Der ideologische Firnis löst sich ab. Wir sehen Hoffnung, Enttäuschung, Dünkel, Verstrickung, Scheitern – und sind ernüchtert. Uaufgeregt und sprachlich pointiert vermittelt er im besten Sinne ästhetische und moralische Bildung; diesem Romancier gelingt eine Vermählung aus Romanstoff, Historie und Lebenswelt, die in Deutschland bisher undenkbar ist. Der optimistische Dialektiker würde sagen: Zum Glück. Abgeschlossenes Sammelgebiet zählt neben dem von Alexander Kluge oder Uwe Johnson, zu den großen poetischen Gestaltungen deutscher Zeitgeschichte, in lyrischer und epischer Form.

Der Leser wird von Weigoni als Homme de Lettres geachtet und nicht zum bloßen Buchabnehmer degradiert, dem marktschreierisch die üblichen Verdächtigen aus den Bestsellerlisten aufgeschwätzt werden. Das Wort „Verbraucher“, das von den renditefixierten Buchhandelskonzernen gerne benutzt wird, verrät mehr, als diesen Event-Vermarktern lieb sein kann: Gute Literatur verbraucht sich nicht „zu verkaufen“, der gebildete Leser schert sich um kein Verfallsdatum, daher darf man ihm auch eine Anstrengung zumuten. Es ist nicht einzusehen, daß der Roman Abgeschlossenes Sammelgebiet, an dem Weigoni 25 Jahre lang gearbeitet hat, schon nach einer Buchsaison auf den Grabbeltischen des modernen Antiquariats landet. Der herabgesetzte Preis eines Werkes geht schließlich immer auch mit der Herabwürdigung seines Verfassers einher: nur die verkaufte Auflagenzahl, nicht aber die Qualität seiner Arbeit wird hier bewertet. Einen Schriftsteller wie Weigoni als ein Glied in der Wertschöpfungskette zu erachten, verfehlt das Wesen von Literatur. Wenn das intellektuelle Niveau steigt, sinkt bekanntlich der Marktwert, weil sich das Leserpotenzial verringert. Wer also gehobenen Ansprüchen gerecht werden will, muss Literatur als etwas Höheres begreifen und nicht bloß als Handelsware. Autoren, die keine Massenauflage erreichen können, müssen eben finanziell gestützt, Kleinverlage wie die Edition Das Labor, die den Mut haben, solche schwierigen Bücher zu drucken, gefördert werden. Denn sie schaffen ein ideelles Kulturgut, das sich für die Gesellschaft in vielerlei Hinsicht auszahlt, wenn auch nicht zwingend in barer Münze.

Der Erinnerungsdiskursroman Abgeschlossenes Sammelgebiet ist ein zeitloses Buch über ein paar Tage, die außerhalb der Zeit liegen.

 

 

 

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Abgeschlossenes Sammelgebiet, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2014 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover

Postwertzeichen erschienen zum 20. Jahrestag der DDR. Entwertet am 9. November 1989

Weiterführend → Zur historischen Abfolge, eine Einführung. Eine Rezension von Jo Weiß findet sich hier. Einen Essay von Regine Müller lesen Sie hier. Beim vordenker entdeckt Constanze Schmidt in diesem Roman einen Dreiklang. Auf der vom Netz gegangenen Fixpoetry arbeitet Margretha Schnarhelt einen Vergleich zwischen A.J. Weigoni und Haruki Murakami heraus. Eine weitere Parallele zu Jahrestage von Uwe Johnson wird hier gezogen. Die Dualität des Erscheinens mit Lutz Seilers “Kruso” wird hier thematisiert. In der Neuen Rheinischen Zeitung würdigt Karl Feldkamp wie A.J. Weigoni in seinem ersten Roman den Leser zu Hochgenuss verführt.