Rahsaan — eine jazzthetische Story

 

»Hast du jetzt völlig einen neben der Kappe?«, erkundigt sich Florin wütend bei seinem alten Kumpel Werner. Der sortiert verlegen seine Kommissionsware um. Versucht sich um eine Antwort zu drücken. Florin trommelt mit den Fingerspitzen Patterns auf die LP–Hülle. Werner handelt als Hobby auf dem Flohmarkt mit Jazz–LPs, die er kaum mehr in seiner Kneipe einsetzt, weil er überlegt, ganz auf Klassik umzustellen. In diesem Moment überlegt er, wie er aus der Situation unbeschadet wieder herauskommen kann. Gute Kunden zu vergraulen, ist eine Sache, gute Kollegen die andere…

»Das kann doch nur ein Scherz sein, Werner! 70,– Euro für eine Doppel–LP!?!«

»Nun ja… weisst du… seitdem Miles gestorben ist, verkauft er sich eben noch besser… was willst du machen, wenn du eine Familie ernähren musst?«, versucht sich der Geschäftsmann mit einer üblichen Unternehmerausrede aus der Umklammerung freizuschwimmen. Japst nach Luft. Zwirbelt seinen Bart glatt. Tritt verlegen von einem Fuss auf den anderen. Er hat ein freundliches Doggengesicht, seine Stimme klingt unbekümmert, aufmunternd, beinahe echt.

»So alt ist die LP nicht…«, denkt Florin laut nach. Streicht sich die Haare aus der Stirn und sieht seinen alten Kumpel mit seinen durchdringend blauen Augen verständnisvoll an. Ihm ist es unangenehm, dass die Umherstehenden auf dem Flohmarkt ihre langwierige Verhandlung für eine Performance halten.

»Als DVD bekommst du Bitches Brew in jedem Geschäft, nicht aber als LP. Das Angebot bestimmt die Nachfrage, und dieses Album ist ein Generationenroman!«

»Du weisst genau, dass ich nicht auf Digital umsteige«, gibt sich der Sammler mal wieder als Konservativer zu erkennen, hoffnungslos altmodisch im Sinne von: bewahrend! Auch Werner hat lange Zeit nicht glauben wollen, dass der iPod das Spannendste ist, was sich jemand seit Erfindung der Tonspur ausgedacht hat. Inzwischen akzeptiert er es als ein zusätzliches Medium, das seinen Platz neben den bisherigen Angeboten hat, das Vinyl allerdings nie ersetzen wird.

»Nur weil du es bist, Florin, aus alter Freundschaft, lasse ich dir die Scheibe für… 65 Schlaufen«, ist Werner ansatzweise versucht nachzugeben. Erntet dafür einen spöttischen Blick. Wiederum begeben sie sich in die Tretmühle und beginnen erneut zu feilschen:

»50 Peitschen, allerletztes Angebot!«

»Das ist ja wohl ein Witz, ich muss auch noch meinen Schnitt machen!«

»Das ist die Scheibe nicht wert, tut mir leid. Vielleicht nächste Woche.«

»Okay, 55– Euro, plus als Bonus die erste Jazz–LP von Roland Kirk.«

»Von wem?«

»Wie bitte, den kennst du nicht?«, lacht Werner Florin aus. Freut sich, dass er eine Lücke entdeckt hat. Hält glucksend seinen wabbelnden Bauch.

»Bin ich ’ne wandelnde Enzyklopädie des Trivialen oder ein Jazz–Lexikon?«, schnaubt der Purist, für den elektronische Musik mit Jazz–Rockappeal schon ein Zuviel an Zugeständnis bedeutet. Künstler müssen, wenn sie ernst genommen werden wollen, leiden, ihr Elend sublimieren sie dann zu Kunst.

»Zusammengewürfelte Erinnerungen helfen in die Heimat zurückzukehren!«, belegt der Händler, dass Kernkompetenz in der Standortgebundenheit liegt. Je mehr local man ist, desto grösser die Chance auf unbeschränkte Entwicklung.

»Sehr witzig. Und Tschüss!«, wendet sich Florin beleidigt ab. Obzwar sich ihre Verhandlung nach einem festen Ritual entwickelt, hat die Absicht zu gehen. Jeden Samstag schaut Florin bei Werner auf dem Flohmarkt an der Aachener Strasse vorbei, um nach alten Jazz–LPs zu stöbern. Meist kommt er nicht unter zwei Neuerwerbungen nach Hause. Oft reicht das Geld danach nicht mal für einen Imbiss bei Safak, der Kurdin mit dem Falafelstand um die Ecke. Werner ist ein Meister im Organisieren von Altem Material; weil er ein cleverer Geschäftsmann ist, rückt er nie mit seinen Bezugsquellen heraus.

»Ehj, Florin. Kirk war ein Nonkonformist, der sich nicht mit einem stilistischen Etikett bekleben liess. Für herkömmliche Musiktheorie hat sich Rahsaan nie interessiert; er wollte archaischen Blues spielen, ausserhalb konventioneller Tonalität. Er war blind und manchmal nahm er drei verschiedene Saxos in den Mund und spielte alle zur selben Zeit«, ruft er ihm hinterher und legt umgehend das Stück Three for the festival auf und lockt damit den Jazztheten zurück. Töne, natürlich immer wieder Melodien. Der Inhalt von Musik ist eine bewegte Form, Klänge bewegen sich in der Zeit, dringen in den innersten Bezirk der Seele vor und erreichen ihn unmittelbar. Ohne Übersetzung. Melodien sind ein Text ohne Worte. Ein Text der Ohryeure direkt erreicht. Musik erinnert ihn daran, dass seine innersten Erfahrungen wortlos bleiben. Sprachlos zu sein, einfach nur zu hören und mit den Ohren die Welt besser verstehen als mit Augen und Verstand. Wenn eine Melodie überwältigt, dann muss Betörung in die intensive Hingabe an die akustischen Signale übergehen. Florin zögert, bleibt stehen und dreht sich um.

»Die Fotos von ihm sehen so aus, wie der Typ auf dem Cover von „Exil On Main Street“. Manchmal benutzte er eines dieser Instrumente als Basspfeife…«

»Hrmm…«, räuspert sich eine Kundin, die ebenfalls an einer LP interessiert ist. Sie gehört nicht zur üblichen Kundschaft, mit ihrem Gucci–Kostüm ist sie viel zu gut gekleidet und deshalb wird sie zuvörderst schlecht behandelt, wie es in dieser Stadt leider üblich geworden ist. Verkäufer machen sich zuerst unbeliebt, um dann ernst genommen zu werden. Manche halten diese Grobschlächtigkeit für Stil, man kann tun was man will, schlechter Umgang färbt auf Dauer leider ab.

»Interessant, wenn’s wirklich funktioniert«, murmelt Florin. Er starrt auf das Cover. Sieht einen jungen Schwarzen mit dunkler Sonnenbrille, der tatsächlich drei Kannen im Mund hat, mit denen er im Moment der Aufnahme des Fotos zu spielen scheint. Er ist völlig gefangen und bekommt nicht mehr mit, wie Werner endlich mal sein Herrschaftswissen ausbreiten kann und weiterschwelgt:

»Manchmal spielte er Harmonien für sich selbst und gelegentlich entwickelte er die Themen kontrapunktisch«, stellt Werner einen Musiker vor, der über eine Virtuosität verfügt, die über den platten Magnetismus von Harmonie und Dissonanz hinweggeht. Benutzt die Kompositionen nur als Vorwand für sein Spiel mit Musik und verschiedenen Stellschrauben. Improvisation ist die Hauptsache in jedem Stück. In seinem Spiel versucht er eine harmonische Methodik jenseits funktionsharmonischer Gravitationskräfte, zu verwirklichen.

»Zahlen!«, drängt Fatima Florin zur Seite, legt eine LP neben die Kasse und zückt das Portemonnaie. Sie fühlt sich hingezogen zur poetischen Melodie der Vorstadt. Findet vieles von dem, was man hässlich nennt, schön. Die Besessenheit von der pausenlosen Perfektionierung der Körper, die verzweifelten Bemühungen, das Alter aufzuhalten, erachtet sie als völlig bizarr.

»Kleinen Moment noch«, bittet der Händler noch um Geduld.

»Du machst doch den Stand, um deine Platten zu verkaufen, – oder hältst du hier Volkshochschulkurse ab?«, faucht Fatima angriffslustig. Ihr Markenzeichen ist eine zerebral schimmernde Kühle.

»Ich versuche nur, meine Stammkunden fachkundig zu beraten.«

»Und ich will endlich die LP bezahlen«, beharrt Fatima. Aussehen und Präsenz spielen für sie eine eminent wichtige Rolle. Sie signalisieren Fitness, Dynamik und Erfolg. Hypermoderne Menschen wollen beweglich sein. Das Arbeitsleben fordert es von ihnen. Sport vermittelt ihnen ein starkes Wohlgefühl, das in andere Lebensbereiche ausstrahlt. Im Fitnessstudio haben sie ohne grossen kommunikativen Aufwand ein Stückchen Gemeinschaft. Sie müssen nicht mit jemanden reden und sich sympathisch werden. Sind in kürzester Zeit in einer Welt, in der etwa nur das Spiel zählt oder das Miteinander in der Gebärde. In der Wellness–Bewegung suchen Menschen nach Formen, die ihnen einen Halt im Leben geben können. Ihr Körper wird zur Masseinheit, um die sich alles dreht.

»Ich verkaufe nichts, ohne darüber zu verhandeln.«

»Gut, ich kauf‘ die Platten, habe aber…«, zählt Florin das Geld auf die Kasse. Stösst versehentlich Fatimas LP herunter. Reaktionsschnell fängt sie das Album auf. Der eruptive Ausbruch eines Hormonvulkans spiegelt sich in ihren Augen. Ihr gefällt seine Mischung aus Können und Street Smartness, die grossen, dunkle Augen, seine seidigen Wimpern und das fein geschnittene Gesicht. ­­»Tschulligung …warte … 55,– Euro dabei«, murmelt der schüchterne Mann, dessen bibliophil wirkende Augen lange einen Punkt auf dem Boden fixieren, während er redet.

»Pech, ich schreibe nicht an«, markiert Werner den ganz Harten. Er findet Gefallen an Florins Stotterei, würde ihm dabei gerne noch eine Weile zuhören, rechnet allerdings nicht mit Fatimas Kaltschnäutzigkeit.

»Ich zahl 25,– Euro für die Billy Holliday–LP.«

»Wie bitte? Die kostet aber 40,– Ohren.«

»Ich dachte, sie wollen verhandeln, mein Herr?«

»Ach so… gut… 35,– Euro.«

»Gemacht, akzeptieren sie auch Schecks?«

»Ganz so altmodisch bin ich nun auch nicht«, nörgelt der Unternehmer. Fatima schreibt einen Scheck aus. Ratscht das Papier vom Block. Reicht es Werner.

»Das sind ja 40,– Euro.«

»Die 5,– Euro sind der Fehlbetrag, damit der Typ endlich an die Miles–Platten kommt. Hinter mir wartet noch mehr Kundschaft!«

»Oh… das ist aber nett…«, schluckt Florin ob der Fragilität der Übereinkunft. Kaum wagt er, ihr noch einmal in die Augen zu sehen. Diese Dame ist ein raffiniertes Gegengift zum eintönigen Busenwunder, eine Model–Schöne mit Grips, ein Charmebündel mit melancholischem Tiefgang, eine Frau mit grosser Persönlichkeit, die den unausgesprochenen Widersprüchen ihrer Generation selbstbewusst Gestalt verleiht.

»Nichts zu danken, dafür nimmst du mir die Platten auf!«

»Clever… gehen nicht auf eine Kassette… heisst: ich zahl drauf.«

 

 

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Die komplette Novelle findet sich in: Cyberspasz, a real virtuality, Novellen von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2012.

Covermontage: Jesko Hagen

Weiterführend → KUNO übernimmt Artikel von Jo Weiß aus Kultura-extra, von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Christine Kappe aus der vom Netz gegangenen fixpoetry. Betty Davis sieht in Cyberspasz eine präzise Geschichtsprosa. Margaretha Schnarhelt erkennt in der real virtuality eine hybride Prosa. Enrik Lauer deutet diese Novellen als Schopenhauers Nachwirken im Internet. In einem Essay betreibt KUNO dystopische Zukunftsforschung.